Ernst Piper: Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs

Rezension aus Sezession 58 / Februar 2014 - Ist es schon schwierig, eine einigermaßen vollständige militärische Geschichte des Ersten Weltkriegs zu schreiben, so dürfte das bei einer Kulturgeschichte von vornherein ausgeschlossen sein. Das hat in diesem Fall weniger mit der Detailgenauigkeit als vielmehr mit der mangelnden Abgrenzbarkeit des Begriffs Kultur, der eine stupende Vielzahl menschlicher Hervorbringungen umfassen kann, zu tun.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Eine Kul­tur­ge­schich­te des Ers­ten Welt­kriegs muß daher Frag­ment blei­ben, das auf einer sehr sub­jek­ti­ven Aus­wahl beruht.

Pipers Buch ist von der Idee getra­gen, daß es bis zum August 1914 so etwas wie eine gesamt­eu­ro­päi­sche Kul­tur gege­ben habe, die dann gewalt­sam auf das Schlacht­feld geführt wur­de. Inso­fern sieht er in dem Krieg das Ende die­ser Kul­tur und damit ein wider­sin­ni­ges Ereig­nis, das dem kos­mo­po­li­ti­schen Trend ent­ge­gen­ge­setzt gewe­sen sei. Bereits der Pro­log weist in die­se Rich­tung: Piper schil­dert dar­in das tra­gi­sche Schick­sal Georg Tra­kls, der, kon­sti­tu­tio­nell denk­bar unge­eig­net für einen Krieg, sich frei­wil­lig mel­det und bereits zu die­sem Zeit­punkt von den schlimms­ten Ahnun­gen erfüllt ist. Daß der depres­si­ve Feld­apo­the­ker Tra­kl dann an einer Über­do­sis Koka­in stirbt, wird hier als Resul­tat der tota­len Mobil­ma­chung gedeu­tet, die alles in ihren Dienst stellt und verbraucht.

Piper geht im Anschluß dar­an, soweit das bei einer Kul­tur­ge­schich­te durch­halt­bar ist, chro­no­lo­gisch vor. Sei­ne Tour d’horizon reicht von den Debat­ten im Vor­feld des Krie­ges über die Kriegs­er­klä­rung, die Mobi­li­sie­rung, den Krieg sel­ber, die Hoff­nun­gen von 1917 auf eine ame­ri­ka­ni­sche Schlich­tung, bis hin zu den Aus­wir­kun­gen der Kriegs­er­fah­run­gen und dem unter­schied­li­chen Toten­ge­den­ken in den betei­lig­ten Län­dern. Dazwi­schen lie­fert Piper Abschnit­te über die Bemü­hun­gen Intel­lek­tu­el­ler, den Krieg mit den Waf­fen des Wor­tes zu füh­ren, über den Futu­ris­mus, der dem Krieg eine Schön­heit abge­win­nen konn­te, über das Juden­tum, das sich auf vie­le Län­der ver­teil­te und damit auto­ma­tisch ein Loya­li­täts­pro­blem zu haben schien und vie­le ande­re Aspekte.

Immer wie­der kom­men Ein­zel­schick­sa­le von Künst­lern oder Schrift­stel­lern – etwa Her­mann Löns, Franz Marc – zur Spra­che, die die Fol­gen des Krie­ges ein­dring­lich ver­deut­li­chen. Vie­le Intel­lek­tu­el­le konn­ten sich im Lau­fe des Krie­ges aus der Schuß­li­nie neh­men, weil ihre Fähig­kei­ten bei der Zen­sur oder an ande­ren zivi­len Orten bes­ser gebraucht wer­den konn­ten als an der Front. Den­noch blieb der Blut­zoll hoch. Piper ver­gleicht, was sei­ne Arbeit hier recht auf­schluß­reich macht, die­se Tat­sa­che mit ande­ren Län­dern. Die Öster­rei­cher schu­fen bei­spiels­wei­se ein Kriegs­pres­se­quar­tier, das Schrift­stel­ler ziem­lich geschlos­sen in den Dienst nahm und so vor der Front bewahrte.

Die Schwer­punkt­bil­dun­gen des Buches sind teil­wei­se sehr auf­schluß­reich. Aller­dings wird damit der Anspruch, eine Kul­tur­ge­schich­te des Ers­ten Welt­kriegs zu schrei­ben, nicht ein­ge­löst. Das Buch hat, auch wenn es mit zahl­rei­chen Fuß­no­ten ver­se­hen ist, etwas Essay­is­ti­sches. Das kommt ins­be­son­de­re in eini­gen wer­ten­den Zuspit­zun­gen zum Aus­druck, die sich Piper als His­to­ri­ker eigent­lich ver­bie­ten müß­te. Hin­zu kommt, daß das Buch eine gründ­li­che­re Glie­de­rung hät­te ver­tra­gen kön­nen, ohne die der Leser doch hin und wie­der etwas ver­lo­ren zwi­schen all den Aspek­ten und Ein­zel­hei­ten steht. Löb­lich ist, daß Piper die neue Debat­te um die Kriegs­schuld­fra­ge zur Kennt­nis genom­men hat. Lei­der kommt er dar­auf erst am Ende des Buches zu spre­chen, am Anfang ste­hen dage­gen Pau­scha­li­sie­run­gen, die uns allen aus Schul­bü­chern geläu­fig sind.

Ernst Piper: Nacht über Euro­pa. Kul­tur­ge­schich­te des Ers­ten Welt­kriegs, Ber­lin: Pro­py­lä­en 2013. 587 S., 26.99 €

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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