Der Freiheit auf der Spur

pdf der Druckfassung aus Sezession 12 / Januar 2006

sez_nr_12Die Neuzeit begann, als Kopernikus nach der Entdeckung der Neuen Welt und der Reformation seine Wiederentdeckung des heliozentrischen Weltbildes veröffentlichte. Seitdem, so Nietzsche, rollt der Mensch „aus dem Zentrum ins x“. Seit Darwin muß der Mensch zudem damit leben, nicht mehr Gottes Ebenbild zu sein. Die weltanschauliche Konsequenz zog der Naturalismus, indem er den Menschen als ein triebgesteuertes und den materiellen Existenzbedingungen unterworfenes Wesen definierte. In der Natur sah er die allumfassende Wirklichkeit, leugnete die Eigenständigkeit alles Geistigen und reduzierte es zu einer Äußerung der natürlichen Entwicklung. Er betrachtete die Welt und den Menschen gleichsam von unten. Darwins nüchterne Einsicht wurde in Deutschland von Ernst Haeckel zum weltanschaulichen Monismus ausgebaut. Das Bewußtsein, der Geist oder auch die Seele des Menschen galten ihm als Naturerscheinungen, bereits die Materie müsse über Bewußtsein verfügen. Anders sei dessen Vorhandensein beim Menschen nicht zu erklären. Der Unterschied zwischen Mensch, Tier und Materie war nur noch ein gradueller, nicht mehr ein absoluter. Die Tatsache, daß wir sprechen können und über Kultur und Geschichte verfügen, ließ sich notfalls auf die höhere Organisation von Materie zurückführen.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.


Obwohl gegen die­se Art der Betrach­tung ins­be­son­de­re von Kon­ser­va­ti­ven immer wie­der Ein­spruch erho­ben wur­de, ist sie als natur­wis­sen­schaft­li­cher Posi­ti­vis­mus bestim­mend geblie­ben. Die metho­di­schen Ein­wän­de der Geis­tes­wis­sen­schaf­ten ver­hal­len unge­hört. Aber viel­leicht deu­tet sich auf die­sem Feld ein Para­dig­men­wech­sel an, der gera­de von der eben geschol­te­nen Natur­wis­sen­schaft aus­ge­hen könn­te. So liegt mit Gerald Hüt­hers Buch Bedie­nungs­an­lei­tung für ein mensch­li­ches Gehirn (Göt­tin­gen: Van­den­hoeck & Ruprecht 2001, kart., 139 S., 15.90 €) ein Buch eines Neu­ro­phy­sio­lo­gen bereits in fünf­ter Auf­la­ge vor, das vor den reduk­tio­nis­ti­schen Ver­ir­run­gen warnt, „immer gera­de das, was wir beson­ders gut zer­le­gen kön­nen, als beson­ders wich­tig für die Funk­ti­ons­wei­se des Gehirns“ zu hal­ten. Sein ganz­heit­li­cher Ansatz ist getra­gen von der, vom Nobel­preis­trä­ger Eric Kan­del vor eini­gen Jah­ren ent­deck­ten, Eigen­schaft des Gehirns, auch noch im Erwach­se­nen­al­ter struk­tu­rell form­bar zu sein (Plas­ti­zi­tät). Das bedeu­tet, daß sich Erfah­run­gen ins Ner­ven­sys­tem buch­stäb­lich ein­schrei­ben. Hüt­her for­dert daher, nicht mehr zu fra­gen, wie das Gehirn auf­ge­baut ist, son­dern wie wir es nut­zen soll­ten, um den mensch­li­chen Mög­lich­kei­ten gerecht zu wer­den. Wir sind also, gera­de was das Gehirn und damit unse­re Per­sön­lich­keit betrifft, für uns selbst ver­ant­wort­lich. Bis wir in die­ses Sta­di­um der „selb­stän­di­gen Hand­lungs­frei­heit“ ein­tre­ten, müs­sen wir uns eine „Bedürf­nis­ori­en­tie­rung und Inter­es­sen­ar­chi­tek­tur“ (Geh­len) erar­bei­ten. Hier­bei spielt die Füh­rung durch die erzie­he­ri­sche Arbeit der Eltern eine wesent­li­che Rol­le. Die Ver­mei­dung der mas­sen­haft zu beob­ach­ten­den Halt­lo­sig­keit und Dumpf­heit ist in ihre Hän­de gelegt. Das kann nur gelin­gen, wenn die Erzie­hung zu einer Frei­heit statt­fin­det, die um ihre mensch­li­chen Gren­zen weiß und gleich­zei­tig die Offen­heit für die Welt, aber auch etwas ihr Tran­szen­den­tes bewahrt.
Wenn dem so ist, kommt unse­rer Lebens­ge­schich­te, den Lini­en und Brü­chen unse­res Daseins, für unse­re Frei­heit eine beson­de­re Bedeu­tung zu. Da Tie­re weder wis­sen, daß sie ein Gehirn haben, noch wie sie es for­men kön­nen, ist ein Unter­schied genannt, den Hans J. Mar­ko­witsch und Harald Wel­zer in ihrem Buch Das auto­bio­gra­phi­sche Gedächt­nis. Hirn­or­ga­ni­sche Grund­la­gen und bio­so­zia­le Ent­wick­lung (Stutt­gart: Klett-Cot­ta 2005, geb, 301 S., 29.50 €) sogar als den ein­zi­gen Unter­schied zwi­schen Tier und Mensch bezeich­nen. Daß Schim­pan­sen und Men­schen, die über einen fast iden­ti­schen gene­ti­schen Code ver­fü­gen, den­noch völ­lig ver­schie­den sind, liegt am auto­bio­gra­phi­schen Gedächt­nis, über das Tie­re bereits auf­grund ihrer hirn­phy­sio­lo­gi­schen Vor­aus­set­zun­gen nicht ver­fü­gen kön­nen, was im Band aus­führ­lich dar­ge­stellt wird. Nur beim Men­schen bil­den sich lebens­lang neue Neu­ro­nen und Ver­schal­tun­gen, die nicht nur sei­ne Erfah­run­gen doku­men­tie­ren, son­dern Ori­en­tie­run­gen für zukünf­ti­ges und inten­tio­na­les Han­deln bieten.

Der Mensch kann dadurch die Welt plan­mä­ßig erschlie­ßen, zeit­lich und alter­na­tiv (frei) Han­deln, und er kann, was die kul­tu­rel­le Tra­di­ti­on der Gat­tung bestimmt, Gedächt­nis­in­hal­te exter­na­li­sie­ren. Damit fal­le, so die Autoren, die Natur des Men­schen mit sei­ner Kul­tur­ge­schich­te zusam­men. Daß das mensch­li­che Gehirn auf Poten­tia­li­tät ange­legt sei, ist gene­tisch bedingt, dar­auf auf­bau­end kommt es zu indi­vi­du­el­len Aus­prä­gun­gen, zu einer auto­bio­gra­phisch beding­ten Ein­zig­ar­tig­keit. Das auto­bio­gra­phi­sche Gedächt­nis sei ein sub­ti­les Zusam­men­spiel von bio­lo­gi­schen, psy­cho­lo­gi­schen, sozia­len und kul­tu­rel­len Pro­zes­sen, die alle von­ein­an­der abhän­gig sind. Damit, so die Autoren, sei der Leib-See­le-Dua­lis­mus, die Fra­ge, wie ein frei­es Wesen ein Natur­pro­dukt sein kann, gleich­sam erle­digt. Nicht mehr Des­car­tes’ Zir­bel­drü­se ver­mit­telt zwi­schen Leib und See­le, son­dern das Gehirn, genau­er das auto­bio­gra­phi­sche Gedächt­nis, der Ort der Erfahrung.
Den Par­al­le­lis­mus besiegt zu haben, behaup­tet auch ein ande­res Buch, das eben­falls als inter­dis­zi­pli­nä­re Arbeit zwi­schen Geis­tes- und Natur­wis­sen­schaf­ten ver­mit­teln will. Fran­çois Anser­met und Pierre Magistret­ti zei­gen sich in ihrem Buch Die Indi­vi­dua­li­tät des Gehirns. Neu­ro­bio­lo­gie und Psy­cho­ana­ly­se (Frank­furt a. M.: Suhr­kamp 2005, geb, 284 S., 22.80 €) eben­falls von der Ent­de­ckung der Plas­ti­zi­tät des Gehirns inspi­riert: „Die Erfah­rung hin­ter­läßt eine Spur.“ Die­se Spur blei­be bestehen, kön­ne aber ver­knüpft und umge­stal­tet wer­den. Plas­ti­zi­tät macht die Erin­ne­rung fle­xi­bel und bringt poten­ti­ell Unbe­stimm­bar­keit mit sich. Es soll eine „Brü­cke“ zwi­schen der psy­chi­schen und syn­ap­ti­schen Spur im Gehirn gebaut wer­den, eine „Bio­lo­gie des Unbe­wuß­ten“ ist das Ziel. Die­ses Vor­ha­ben ist nichts Neu­es. Der Neu­ro-Psy­cho­ana­ly­ti­ker Marc Solms ver­eint schon seit Jah­ren die Gebie­te der Hirn­for­schung und Psy­cho­ana­ly­se, gibt eine Zeit­schrift zum The­ma her­aus und ver­sucht zu zei­gen, was sich von Freuds Annah­men hal­ten läßt. Viel bleibt ihm zufol­ge nicht von der klas­si­schen Psy­cho­ana­ly­se: Trie­be bestim­men unser Leben und die frü­he Kind­heit ist bedeut­sam. Die lus­ti­gen, spek­ta­ku­lä­ren Sachen sind erle­digt: Penis­neid, Über-Ich, Todes­trieb, Ent­wick­lungs­pha­sen des Klein­kin­des und so fort. Die Autoren des vor­lie­gen­den Ban­des mei­nen, Freuds Theo­rie, daß die unbe­wuß­te inne­re Wirk­lich­keit auch ein kör­per­li­ches Phä­no­men sei, mit Hil­fe der Plas­ti­zi­tät bewie­sen zu haben. Damit soll gleich­zei­tig der Gegen­satz zwi­schen see­li­scher und orga­ni­scher „Ätio­lo­gie der Geis­tes­krank­hei­ten“ auf­ge­ho­ben sein. Um so die Leib-See­le-Ein­heit, die wir ja stän­dig an uns selbst wahr­neh­men, zu bewei­sen, genügt es frei­lich nicht, zwei Reduk­tio­nis­men, die Hirn­phy­sio­lo­gie und die Psy­cho­ana­ly­se, zur Über­schnei­dung zu brin­gen. Die Fra­ge nach einer „Bio­lo­gie des Unbe­wuß­ten“ läßt sich nicht beant­wor­ten, weil sie von metho­disch nicht geklär­ten Vor­aus­set­zun­gen Freuds ausgeht.
Die genann­ten Bemü­hun­gen las­sen eines erken­nen: Nicht jeder inter­dis­zi­pli­nä­re Ansatz hält, was er ver­spricht. Ins­be­son­de­re besteht die Gefahr, daß mehr behaup­tet wird, als sich bewei­sen läßt und man damit einen neu­en posi­ti­vis­ti­schen Monis­mus kon­stru­iert. Dage­gen die metho­di­sche Red­lich­keit ein­zu­for­dern, ist Auf­ga­be der Geis­tes­wis­sen­schaf­ten. Der an ihre Adres­se gerich­te­te Vor­wurf der Nutz­lo­sig­keit, ver­bun­den mit der Auf­for­de­rung, sich die natur­wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­se anzu­eig­nen, um mit­re­den zu kön­nen, ist eine Reduk­ti­on, die auf ihren Urhe­ber zurück­fällt: Ohne Kennt­nis der Geis­tes­ge­schich­te hängt Wis­sen in der Luft, ohne metho­disch geklär­te Argu­men­ta­ti­on ist es nicht ver­mit­tel­bar und ohne Kennt­nis sei­ner Gren­zen erken­nen wir uns und die Welt dar­in nicht wie­der. Das aber wäre die Vor­aus­set­zung dafür, daß wir den neu­en Erkennt­nis­sen und Inter­pre­ta­tio­nen etwas für unser Leben abge­win­nen kön­nen. Die Fra­ge nach einer authen­ti­schen kon­ser­va­ti­ven Lebens­füh­rung und damit Erzie­hung muß in der Hoff­nung gestellt wer­den, eine mög­lichst kon­kre­te Ant­wort zu erhal­ten. Die erwähn­ten Bücher rufen immer­hin die viel­leicht wich­tigs­te Eigen­schaft des Men­schen in Erin­ne­rung: daß er sich „ergrei­fen“ las­sen muß, um sich zu ent­wi­ckeln. Dar­über darf jedoch nicht ver­ges­sen wer­den, daß er sein Leben zu füh­ren hat und von daher ein Wesen ist, das sei­ne Frei­heit wol­len muß.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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