Das Dezember-Gedicht: 1812

Jedes Jahr denke ich in der ersten kalten Winternacht an einen Rückzug, an den Rückzug: den der Großen Armee des kleinen...

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Kor­sen, 1812. Weil ich Zinn­fi­gu­ren goß und bemal­te, schenk­te mir mein Vater ein Buch über Die Uni­for­men des napo­leo­ni­schen Ruß­land­feld­zugs – ich besit­ze es noch heute.

Ich war viel­leicht neun oder zehn Jah­re alt und bemal­te fran­zö­si­sche Gre­na­die­re und würt­tem­ber­gi­sche Jäger und las im mili­tär­ge­schicht­li­chen Vor­wort Namen, die mir bis heu­te mythisch erschei­nen: Smo­lensk, Boro­di­no, und vor allem Beresi­na, die­ser Fluß mit dem Nadel­öhr: einer Brü­cke, geschla­gen von den bär­ti­gen Pio­nie­ren, die in eis­kal­tem Was­ser bis zu den Hüf­ten stan­den und schein­bar die Boh­len stütz­ten, über die das Heer sei­nen Rück­zug fort­setz­te – eines der Bil­der, die mir für das namen­lo­se Ster­ben in einer der gro­ßen Kno­chen­müh­len stehen.

Der Hun­ger, die Hoff­nungs­lo­sig­keit, die Atta­cken der Kosa­ken und Kal­mü­cken und Basch­ki­ren, die auf ihren Step­pen­pfer­den den Heer­wurm angin­gen wie wir die Römer im Teu­to­bur­ger Wald: zer­mür­ben, abdrän­gen, nie­der­ma­chen. Der Nach­richt vom Desas­ter vor­aus fuhr Napo­le­on in sei­nem Schlit­ten, für des­sen rasche Fahrt die Mann­schaf­ten bei­sei­te tre­ten muß­ten, ein Lumpenspalier.

Erst viel spä­ter, beim Stu­di­um, ent­deck­te ich Richard Deh­mels Anno Domi­ni 1812

Über Ruß­lands Leichenwüstenei
fal­tet hoch die Nacht die blas­sen Hände;
fun­kel­äu­gig durch die wei­ße, weite,
kal­te Stil­le starrt die Nacht und lauscht.
Schrill kommt ein Geläute.

Dumpf ein Stamp­fen von Hufen, fahl flat­tern­der Reif,
ein Schlit­ten knirscht, die Kufe pflügt
stie­ben­de Fur­chen, die Peit­sche pfeift,
es damp­fen die Pfer­de, Atem fliegt;
flim­mernd zit­tern die Birken.

»Du, was hör­test du von – Bonaparte« -
Und der Bau­er horcht und will’s nicht glauben,
daß da hin­ter ihm der stei­nern starre
Fremd­ling mit den har­ten Lippen
Wor­te so voll Trau­er sprach.

Ant­wort sucht der Alte, sucht und stockt,
stockt und staunt mit from­mer Furchtgebärde:
aus dem Wol­ken­saum der Erde,
brand­rot aus dem schwar­zen Saum,
taucht das Horn des Mon­des hoch.

Düs­ter wie von Blut­schnee glimmt die lan­ge Straße,
wie von Blut­frost perlt es in den Birken,
wie von Blut umtropft sitzt Der im Schlitten.
»Mensch, was sagt man von dem gro­ßen Kaiser!«
düs­ter schrillt das Geläute.

Die Glo­cken ras­seln, es klingt, es klagt,
der Bau­er horcht, hohl rauscht’s im Schnee.
Und schwer nun, fei­er­voll und sacht,
wie uralt Lied so dumpf und weh
tönt sein Wort ins Öde:

»Groß am Him­mel stand die schwar­ze Wolke,
fres­sen woll­te sie den hei­li­gen Mond;
doch der hei­li­ge Mond steht noch am Himmel,
und zer­sto­ben ist die schwar­ze Wolke.
Volk, was weinst du?

Trieb ein stol­zer, kal­ter Sturm die Wolke,
fres­sen soll­te sie die stil­len Sterne;
aber ewig blühn die stil­len Sterne,
nur die Wol­ke hat der Sturm zerrissen,
und den Sturm ver­schlingt die Ferne.

Und es war ein gro­ßes schwar­zes Heer,
und es war ein stol­zer, kal­ter Kaiser,
aber unser Müt­ter­chen, das hei­li­ge Rußland,
hat viel tau­send tau­send stil­le war­me Herzen:
ewig, ewig blüht das Volk!«

Hohl ver­schluckt der Mund der Nacht die Laute,
dumpf­hin rau­schen die Hufe, die Glo­cken wimmern:
auf den kah­len Bir­ken flimmert
rot der Reif, der mondbetaute.
Den Kai­ser schauert.

Durch die lee­re Ebne irrt sein Blick:
über Ruß­lands Leichenwüstenei
fal­tet hoch die Nacht die blas­sen Hände,
hängt und glänzt der dun­kel­ro­te Mond,
eine blu­ti­ge Sichel Gottes.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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