Zertrümmerungen – 100 Jahre Futurismus

Druckfassung aus Sezession 28, Februar 2009 (PDF) (diese Druckfassung enthält auch die deutsche Fassung des Futuristischen Manifests)

 

von Till Röcke

Als Gottfried Benn mit seiner 1951 in Marburg gehaltenen Rede Probleme der Lyrik die poetologische Summe seines dichterischen Schaffens zieht,...

…läßt er zu Beginn in einer knap­pen Epo­chen­schau die Sta­di­en der lite­ra­ri­schen Moder­ne Revue pas­sie­ren. Beim Avant­gar­dis­mus ange­langt heißt es:

 

»Das Grün­dungs­er­eig­nis der moder­nen Kunst in Euro­pa war die Her­aus­ga­be des Futu­ris­ti­schen Mani­fes­tes von Mari­net­ti, das am 20.02.1909 in Paris im Figa­ro erschien. ›Nous allons a sis­ter à la nais­sance du Cen­tau­re – wir wer­den der Geburt des Zen­tau­ren bei­woh­nen‹ – schrieb er und: ›ein brül­len­des Auto­mo­bil ist schö­ner als die Nike von Samo­thra­ke.‹ Dies waren die Avant­gar­dis­ten, sie waren aber im ein­zel­nen auch schon die Vollender.«

Benn rech­net dem Futu­ris­mus die Stel­lung des Grün­dungs­my­thos moder­ner Kunst zu und unter­streicht damit eine Sicht­wei­se, die er in ähn­li­cher Situa­ti­on, gleich­wohl unter ande­ren poli­ti­schen Rah­men­be­din­gun­gen, 17 Jah­re zuvor schon ein­mal arti­ku­liert hat:

Im Gruß an Mari­net­ti, vor­ge­tra­gen am Abend des 29. März 1934, anläß­lich eines Emp­fangs der Uni­on Natio­na­ler Schrift­stel­ler zu Ehren des Futu­ris­ten Filip­po Tom­ma­so Marinetti.

Die­se Rede stellt ein auch noch heu­te bemer­kens­wer­tes Plä­doy­er für die moder­ne Kunst in Deutsch­land dar, als deren lite­ra­ri­scher Vor­kämp­fer sich Benn zu prä­sen­tie­ren sucht, um nur weni­ge Mona­te spä­ter – man weiß es – Gewiß­heit über sein gna­den­lo­ses Schei­tern zu erlan­gen. Die Zei­ten sind faschis­tisch, dar­in erkennt Benn die his­to­ri­sche Chan­ce, dem glie­dern­den Macht­staat die Wei­ter­ent­wick­lung der avant­gar­dis­ti­schen Peri­ode, das Mas­sie­ren ihrer durch per­ma­nen­te Sprach-Zer­trüm­me­rung frei­ge­setz­ten poe­ti­schen Kräf­te zu über­tra­gen. Und die­se Pha­se des Auf­stiegs ist unver­züg­lich zu nut­zen, soll sich die tief­grei­fen­de gesell­schaft­li­che Umwäl­zung rea­li­sie­ren, jene gestei­ger­te Lebens­kul­tur als Vor­aus­set­zung der Über­men­schen-Exis­tenz, der fina­len Aus­trei­bung des euro­päi­schen Nihi­lis­mus. Die­se Moder­ne Kunst ist grund­sätz­lich, da eben modern, also ohne Ein­bet­tung in ein har­mo­ni­sches Welt­bild, der Zer­split­te­rung anheim­ge­ge­ben. Die­sen Zustand nun abstel­len zu kön­nen ist die Ange­le­gen­heit der Stun­de, die Tor­so gewor­de­ne Kunst, wenn schon nicht gänz­lich zurück in eine vor­mo­der­ne »All-Ein­heit« zu füh­ren, so doch an das mit eiser­ner Hand ord­nen­de Regime zu bin­den – frei­lich als meta­phy­si­sches Gestirn, der rein funk­tio­na­len Betrieb­sam­keit des Staa­tes übergeordnet.

Benn sieht in der Moder­ni­tät des (rund­erneu­er­ten) Expres­sio­nis­mus alles ange­legt, um die mythen­schwe­re Dich­tung des Ges­tern mit den Ansprü­chen diver­ser zeit­ge­nös­si­scher Wis­sen­schafts­dis­kur­se zu ver­söh­nen. »In die­sem Fall ist die Kunst nicht der mani­pu­lier­te, son­dern der mani­pu­lie­ren­de Wirt, der den imple­men­tier­ten Keim­lin­gen, sprich: Sprach­ma­te­ria­li­en unter­schied­lichs­ter Her­kunft erst Form und Gestalt ver­leiht« (Weg­mann). Oder anders aus­ge­drückt: Das tech­ni­sche Zeit­al­ter erfährt sei­ne ästhe­ti­sche Disziplinierung.

Doch immer noch zu deut­lich droht Nietz­sches artis­ti­scher Grö­ßen­wahn aus den Untie­fen des 19. Jahr­hun­derts, sein Unter­gang im rein Geis­ti­gen, als daß Benn die­ses Mene­te­kel igno­rie­ren kann. Sei­ne moder­ne Visi­on braucht also einen Kron­zeu­gen, einen, der Deutsch­land zum Vor­bild die­nen kann, einen, der mög­lichst das glei­che Ansin­nen unter glei­chen Umstän­den durch­zu­set­zen gewußt hat. Es braucht einen wie Mari­net­ti, den »Her­stel­ler und Direk­tor des Futu­ris­mus« (Benn). Doch was hat es auf sich mit dem Futu­ris­mus in Ita­li­en? Was bewirkt sei­ne Kunst, was stellt er über­haupt dar?

Bezeich­nend ist die Nähe zur poli­ti­schen Pra­xis, der die Strö­mun­gen der Avant­gar­de, frei­lich in unter­schied­li­cher Aus­prä­gung, wie nie zuvor in der Geschich­te der schö­nen Küns­te hul­di­gen. In Ruß­land inspi­riert der Futu­ris­mus Maja­kow­ski und Tret­ja­kow, in Eng­land den Vor­ti­zis­mus. Das deut­sche Pen­dant, der Expres­sio­nis­mus, ver­liert hin­ge­gen nie eine gesun­de Skep­sis vor dem all­zu Gehar­nisch­ten aus dem Süden, zudem gesellt sich die Tat­sa­che einer eigen­stän­di­gen Ent­wick­lung in Lite­ra­tur und bil­den­der Kunst, die deut­li­cher in der Tra­di­ti­on des 19. Jahr­hun­derts steht oder sich an deren Ein­flüs­sen abar­bei­tet. Den­noch: Die Gesell­schaft, das öffent­li­che Leben des noch jun­gen tech­ni­schen Zeit­al­ters mit dem Sti­mu­lans des Ästhe­ti­schen, also der Anschau­ung als schar­fem Kon­trast zur sys­te­ma­ti­schen Pro­ze­dur der Auf­klä­rung, in irgend­ei­ner Wei­se zu durch­drin­gen, zu ver­än­dern – die­ser heu­ti­gen Lesern mit­un­ter kuri­os anmu­ten­de Aktio­nis­mus fin­det sich in allen Schu­len; im ita­lie­ni­schen Futu­ris­mus am hef­tigs­ten und in sei­ner gan­zen Absurdität.

Die Lite­ra­tur­wis­sen­schaft hat drei Pha­sen des Futu­ris­mus her­aus­ge­stellt: Die ers­te Pha­se (1909 – 1915) ist ohne ernst­zu­neh­men­de par­tei­po­li­ti­sche Vor­stel­lun­gen, dafür um so reich­hal­ti­ger geseg­net mit einer meta­po­li­ti­schen Bri­sanz, die ganz avant­gar­dis­tisch der Auf­lö­sung von Tra­di­tio­nen gewid­met ist. Nichts gerin­ge­res als das Ende der Geschich­te ste­he bevor, ein Aus­bruch aus dem »Käfig der Logik« und die Eta­blie­rung eines zukünf­ti­gen Lebens­ge­fühls, dem Ges­tus der puren Bewe­gung. Der futu­ris­tisch erleuch­te­te Mensch ahne bereits das befrei­te Gefühl der umfas­send mobi­li­sier­ten Gesell­schaft, vor­erst nur räum­lich begrenzt, doch ste­he er hier­ar­chisch bereits über jenen noch geschicht­li­chen Indi­vi­du­en, deren Dasein sich noch ganz im Rück­stän­di­gen samm­le. Gefor­dert wird ein Hang zur Zer­stö­rung, der als Kata­ly­sa­tor im Krieg als »ein­zi­ge Hygie­ne der Welt« auf­tre­te, und kei­nes­falls impe­ria­lis­ti­sche Zie­le, son­dern ein­zig den Krieg als reins­ten »Dina­mis­mo«, als Beschleu­ni­gungs­ri­tu­al begrei­fe. Der Natio­nal­staat, der, dem Bericht­erstat­ter Mari­net­ti fol­gend, schon 1911 im Krieg gegen das Osma­ni­sche Reich als Trä­ger der futu­ris­ti­schen Ideen fun­gier­te; ja der gan­ze, sich wenig spä­ter im Ers­ten Welt­krieg erneut lei­den­schaft­lich ent­fal­ten­de Pani­ta­lia­nis­mus habe nur eine Exis­tenz­be­rech­ti­gung: die Errich­tung einer Welt­ord­nung, die getra­gen wer­de von einem »begeis­ter­ten Ja des Men­schen zu der Form der Zivi­li­sa­ti­on, die sich unter unse­ren Augen gestal­tet.« (Boc­cio­ni) Was hier Raum greift, ist die »Schaf­fung eines a‑humanen Typus«, des­sen Über­le­gen­heit kei­ne Fra­gen offen­las­se: »Gewis­senspein, Güte, Gefühl und Lie­be stel­len nichts als zer­fres­sen­de Gif­te der uner­schöpf­li­chen vita­len Ener­gie dar, blo­ße Bar­rie­ren für den Fluß unse­rer mäch­ti­gen phy­sio­lo­gi­schen Elek­tri­zi­tät.« (Mari­net­ti). Der Futu­ris­mus, so ist er sich sicher, wer­de den Men­schen als ris­kier­tes, auf Ord­nung ange­wie­se­nes und sich in sei­ner Exis­tenz als his­to­risch ver­ste­hen­des Wesen end­gül­tig eli­mi­nie­ren. Er schaf­fe eine maxi­ma­le Todes­nä­he durch die ewi­ge Wie­der­kehr der Hoch­ge­schwin­dig­keit, des per­ma­nen­ten Über­hol­vor­gangs via Stand­strei­fen. So ist denn jene »lite­ra­risch-welt­an­schau­li­che Erneue­rungs­be­we­gung« (Chris­ta Baum­garth: Geschich­te des Futu­ris­mus, Rein­bek 1966) im Kern die Über­tra­gung einer bedin­gungs­lo­sen Affir­ma­ti­on des tech­ni­schen Fort­schritts in die Kunst.

Die zwei­te Pha­se (1918 – 1920) zeich­net sich durch einen prag­ma­ti­schen Zug aus. In der Nach­kriegs­zeit nimmt sich Mari­net­ti gesell­schaft­li­cher Pro­ble­me an und geht auf Distanz zu sei­ner höchs­ten Tugend, der Destruk­ti­on. Sein Gast­spiel im Par­tei­en­sek­tor soll jedoch nicht lan­ge wäh­ren. Die 1918/19 regio­nal ent­ste­hen­den fasci und deren Zusam­men­schlie­ßung zur Futu­ris­ti­schen Poli­ti­schen Par­tei auf der einen sowie der 1919 ins Leben geru­fe­ne Front­kämp­fer­ver­band der – zum Teil auch aus Futu­ris­ten bestehen­den – Eli­te­ein­heit der Ardi­ti auf der ande­ren Sei­te sind noch im sel­ben Jahr das Züng­lein an der Waa­ge, als Mus­so­li­ni die fasci di com­bat­ti­men­to aus der Tau­fe hebt. Mari­net­ti wird in das Zen­tral­ko­mi­tee gewählt und ist begeis­tert. Nun beschäf­ti­gen ihn die Reform des Beam­ten­tums oder die Durch­set­zung des Acht­stun­den­ta­ges. Doch noch im sel­ben Jahr kri­selt es, bei den Wah­len im Novem­ber fährt Mus­so­li­nis Par­tei eine her­be Nie­der­la­ge ein, und im Jahr dar­auf ist end­gül­tig Schluß: Eine zu gro­ße Distanz gegen­über sozi­al­po­li­ti­schen Ansät­zen und ein sträf­li­ches lais­ser-fai­re im Umgang mit der ver­haß­ten Mon­ar­chie sowie dem Kle­rus. Die Anti­the­se ist offen­sicht­lich, Mari­net­ti sieht sich als indi­vi­du­el­len Anar­chis­ten, Mus­so­li­ni hin­ge­gen beginnt unver­hoh­len sein Stre­ben nach größt­mög­li­cher Macht­fül­le, die durch einen restrik­ti­ven Ein-par­tei­en­staat erreicht wer­den soll. Ab 1920 mutiert der radi­ka­le und revo­lu­tio­nä­re Faschis­mus zu einer durch tak­ti­sches Geplän­kel und Kom­pro­miß­be­reit­schaft gepräg­ten Bewe­gung. Es ent­steht eine »cha­ris­ma­ti­sche Patro­na­ge­par­tei der poli­ti­schen Rech­ten« (Ste­fan Breuer).

Wer mit dem »Phy­sio­gno­mi­schen Zugriff« Armin Moh­lers (Der faschis­ti­sche Stil, zuletzt Schnell­ro­da 2001) ver­traut ist, wird an jener Soll­bruch­stel­le zudem mehr als nur ein Rän­ke­spiel unter Polit-Hasar­deu­ren erken­nen. Es fin­det eine Akzent­ver­schie­bung statt, weg vom ton­an­ge­ben­den faschis­ti­schen Stil der Tat­men­schen, hin zum eta­tis­ti­schen der Ver­wal­tungs­cha­rak­te­re und deren Sta­tus-quo-Prin­zip. Die­ser Stil bleibt denn auch vor­herr­schend, bis zum Herbst 1943 in der Repu­blik von Salò, nach vor­an­ge­gan­ge­nem Bruch Mus­so­li­nis mit dem König, die Abwick­lung des tota­li­tä­ren Appa­ra­tes auch jenen ihn stüt­zen­den, funk­tio­na­len Typus wie­der ins zwei­te Glied tre­ten läßt. Die nun »alle Ver­bür­ger­li­chung, alle Ver­fil­zung mit dem ita­lie­ni­schen Estab­lish­ment« (Moh­ler) abwer­fen­de Nomen­kla­tu­ra dege­ne­riert auf ein Min­dest­maß, und es voll­zieht sich die Rück­kehr des faschis­ti­schen Tat­men­schen auf die Büh­ne der Öffentlichkeit.

Doch zuvor, mit Beginn der drit­ten Pha­se (1923/24 – 1944), geschieht nach drei Jah­ren der Abs­ti­nenz die Kehrt­wen­de; Mari­net­ti nähert sich der Par­tei an und ver­sucht, dem nun­mehr zahn­lo­sen Futu­ris­mus wie­der poli­ti­sches Gewicht zu ver­lei­hen. Er erteilt poli­ti­schen Alter­na­ti­ven, etwa dem Kom­mu­nis­mus, als einer »alten For­mel für Mit­tel­mä­ßig­keit« eine kla­re Absa­ge und dekla­miert den sich durch­set­zen­den Faschis­mus als der futu­ris­ti­schen Anschau­ung am dien­lichs­ten. Unbe­irrt hält er bis zu sei­nem Tod 1944 am Glau­ben fest, daß sich die »wun­der­ba­re, unei­gen­nüt­zi­ge, küh­ne, anti­so­zia­lis­ti­sche, anti­kle­ri­ka­le und anti­mon­ar­chis­ti­sche See­le von 1919« letz­ten Endes doch im Faschis­mus ver­wirk­li­chen las­sen kön­ne. Aber ver­ge­bens – Mus­so­li­ni fes­tigt die 20er Jah­re hin­durch sei­ne Macht, hofiert die Eli­ten und gibt der klas­sisch ori­en­tier­ten Kunst den Vor­zug. Die avant­gar­dis­ti­sche Kunst steht als poli­ti­scher Fak­tor fort­an im Abseits, wenn auch in ihrer Exis­tenz kei­nes­falls von Zen­sur bedroht und sich im Geis­tes­le­ben durch­aus behauptend.

Die Gret­chen­fra­ge der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft in bezug auf Mari­net­ti ist seit jeher der faschis­ti­sche Lack­mus­test. Hat er oder hat er nicht? Ist der Futu­ris­mus ein Tra­bant Mus­so­li­nis, oder des­sen Kraft­quel­le? Läßt man die mäan­dern­de Land­schaft der Tota­li­ta­ris­mus­theo­rien ver­gan­ge­ner Jahr­zehn­te in den Hin­ter­grund tre­ten, so leuch­tet die Ana­ly­se ein, daß es sich beim Faschis­mus um mehr als einen irgend­wie vom Bür­ger­tum gesteu­er­ten Abwehr­kampf gegen wen auch immer, son­dern um ein Phä­no­men han­delt, des­sen Erschei­nung eine Gleich­zei­tig­keit zwei­er Prin­zi­pi­en unbe­dingt vor­aus­setzt: Idee und Affekt. Abs­trak­ter: eine Melan­ge aus Ideo­lo­gien und Inter­es­sen. Dabei ver­blaßt die han­dels­üb­li­che Erschei­nung des Natio­na­lis­mus als Ahn­herr des Faschis­mus, und es wird ein Wider­streit bei­der deut­lich. Ers­te­rer bewegt sich von einer geis­ti­gen Idee getra­gen in Rich­tung Poli­tik, um dort ohne Zuge­ständ­nis­se an vor­han­de­ne Geg­ner die­sel­bi­ge umzu­set­zen. Zwei­ter wur­zelt par­ti­ell eben­falls im Intel­lek­tu­el­len, setzt sei­nen Schwer­punkt aber im poli­ti­schen Bereich, indem die­ser den Rah­men der oben auf­ge­führ­ten Melan­ge bil­det und so einer ideo­lo­gi­schen Star­re wie einem Sek­tie­rer­tum die Grund­la­ge ent­zieht. Denn immer ist in Bewe­gung, was nach vor­ne geht.

Die­se Dar­stel­lung ist als eine Erwei­te­rung der Moh­lerschen Phy­sio­gno­mie zu ver­ste­hen, die den faschis­ti­schen Stil als eine unter meh­re­ren, immer gleich­zei­tig auf­tre­ten­den Ver­hal­tens­wei­sen aus­weist. Zwar spä­ter mit ein­deu­tig geschwäch­ter Posi­ti­on im Macht­kampf inner­halb des ita­lie­ni­schen Regimes, doch von grund­sätz­li­cher Tätig­keit. Dies durch­ge­führt als »typo­lo­gi­sche Erör­te­rung« vom Sozio­lo­gen und Ken­ner der Mate­rie Ste­fan Breu­er (Natio­na­lis­mus und Faschis­mus, Darm­stadt 2005), bie­tet den plau­si­bels­ten Zugriff, eben auch auf das Ver­ständ­nis des Futu­ris­mus, der unter allen Umstän­den Zukunft sein will, also Anti-Still­stands­po­li­tik, bei Ver­nach­läs­si­gung ideo­lo­gi­scher Ela­bo­ra­te. Er will glo­bal aus­ge­rich­tet agie­ren und betrach­tet den Natio­nal­staat, wie erwähnt, als eine Art Indi­vi­du­en-Beschleu­ni­ger, des­sen Form selbst­re­dend der Über­win­dung anheim­fal­len wird, wenn das »mecha­ni­sche Noma­den­tum« (Ciot­ti) erst ein­mal die Lebens­wirk­lich­keit bestimmt.

Fol­ge­rich­tig bezeich­net Mari­net­ti die Bezie­hung von Futu­ris­mus und Faschis­mus als das Ver­hält­nis zwi­schen Maxi­mal- und Mini­mal­pro­gramm – glo­ba­les End­ziel ver­sus natio­nal­staat­li­che Siche­rung. Der Faschis­mus ist die poli­ti­sche Filia­le des Futu­ris­mus, das Kom­ple­ment einer sich genu­in als wirk­lich­keits­ge­stal­tend ver­ste­hen­den Avant­gar­de, die sich einer not­wen­di­gen Bin­dung an den Bezirk außer­halb der Ate­liers und Lese­sä­le – also den poli­ti­schen Raum – ohne Zwei­fel und zu jeder Zeit bewußt ist. Zwar gerät die­ser schon bald zu einem Dickicht, das den Radi­us erheb­lich ein­schränkt, doch schmä­lert das die Absicht nicht.

Es sei noch ein­mal an das ästhe­ti­sche Prin­zip erin­nert, des­sen Geist die »nomi­na­lis­ti­sche Wen­dung der Neu­zeit« gebar und das so cha­rak­te­ris­tisch für die Moder­ne eine Kon­zen­tra­ti­on auf das Beson­de­re, Ein­zel­ne zur Fol­ge hat, das als »Gestalt vom Gestalt­lo­sen abge­ho­ben wird« (Moh­ler). Jene Gestalt ent­steht im For­mungs­pro­zeß, der kei­nen ange­stamm­ten Platz mehr inner­halb eines Sys­tems benö­tigt, geschwei­ge denn eine ega­li­ta­ris­ti­sche Pla­nung oder ideo­lo­gisch aus­ge­tüf­tel­te Agenda.

Zum Reak­tio­nä­ren neigt, wer hier einen Wider­spruch erken­nen möch­te. Denn mit der natio­na­len Form­ge­bung ent­steht erst das Tra­pez als Gerät der zukünf­ti­gen Auf­ga­be, des Hin­auf­ka­ta­pul­tie­rens der Mensch­heit und des­sen Gestal­tung als ein welt­wei­tes Kol­lek­tiv, einer »Neu­kon­struk­ti­on des Uni­ver­sums« (Bal­la). Frei­lich, ein küh­ner Plan. Bemer­kens­wert ist vor allem, daß der in avant­gar­dis­ti­schen Zusam­men­hän­gen ger­ne apo­stro­phier­te Fried­rich Nietz­sche unter die­sem Ein­druck ledig­lich als moder­ner Souf­fleur erscheint, ver­ge­gen­wär­tigt man sich des­sen Idee einer antik beseel­ten Züch­ti­gung des neu­zeit­li­chen Gedrän­ges. Nicht den Nihi­lis­mus, also das gesell­schaft­lich-kul­tu­rel­le Kli­ma soll­te der gründ­li­chen Revi­si­on unter­zo­gen wer­den, son­dern gleich der gan­ze Mensch mit­samt sei­nes ange­stamm­ten Are­als, der Erde. Das ver­steht Mari­net­ti ganz über den Schreib­tisch hin­aus, wenn er »Lamarcks trans­for­mis­ti­sche Hypo­the­se« erwähnt und das Orga­ni­sche wie selbst­ver­ständ­lich zur Kon­kurs­mas­se erklärt. Und Ret­tung naht nur in Form der Ersatz­teil­la­ger-Welt. So fin­det die Theo­rie ihre Ver­wirk­li­chung im Prak­ti­schen; Nietz­sche schei­ter­te bekann­ter­ma­ßen an genau die­ser Umsetzung.

Daß sich die­se Per­spek­ti­ve eher mit Ernst Jün­gers Arbei­ter oder Oswald Speng­lers Unter­gang des Abend­lan­des ver­trägt, also das his­to­ri­sche zuguns­ten eines glo­ba­len Bewußt­seins zurück­drän­gend, ist der inter­es­san­tes­te Ansatz Ste­fan Breu­ers (Ana­to­mie der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on, zuletzt Darm­stadt 2009). Die Dif­fe­ren­zen des ästhe­tisch unter­leg­ten roma­ni­schen Modells gegen­über dem eher mili­tä­risch ori­en­tier­ten deut­scher Mach­art sehr wohl erken­nend, sieht er in der Kate­go­rie der bedin­gungs­lo­sen Über­win­dung abge­leb­ter Kate­go­rien eine gewich­ti­ge Gemein­sam­keit. Bei alle­dem bleibt irgend­wann die Kunst auf der Stre­cke, was Mari­net­ti und Entou­ra­ge nicht wei­ter stört – sie wird eines Tages ihren Dienst getan haben. Dann, wenn gegen alle Klas­sen­schran­ken das Genie quer durch das Volk auf­ge­stie­gen ist, das am tech­nisch-zeit­ge­nös­si­schen All­tag, nicht am tra­di­tio­nel­len Ide­al der meta­phy­si­schen Form­ge­bung geschult, uner­bitt­lich Kunst betrei­ben wird. Das Kunst­werk ist dann Rea­li­tät, sich ganz aus sich selbst her­aus erklä­rend, sagen wir: aus einer flam­bier­ten Ölpum­pe. Eine »Ver­leug­nung der tra­di­tio­nel­len Statt­hal­ter­funk­ti­on der Kunst« (Man­fred Hinz: Die Zukunft der Kata­stro­phe, New York und Ber­lin 1985) degra­diert alles Ästhe­ti­sche zum Ding­li­chen, und es fal­len Natu­ra­lis­mus und For­ma­lis­mus zusammen.

Die­se Kon­se­quenz muß sehen, wer im Futu­ris­mus eine Inspi­ra­ti­ons­quel­le aus­macht – unter wel­chem Ein­druck auch immer. Das soll den Stel­len­wert der Avant­gar­de nicht schmä­lern, im Gegen­teil: Uner­setz­lich ist sie für die, deren wacher Geist die Ver­wer­fun­gen der Zeit wahr­nimmt, die ihre Bil­der aber weder in Wei­mar bestel­len, noch im kom­men­den Jahr­tau­send auf­hän­gen. Die Neue Sach­lich­keit etwa, und beson­ders die kom­mu­nis­ti­schen Par­tei­gän­ger der Lite­ra­tur wie Johan­nes R. Becher, wis­sen nur zu gut, woher sie gekom­men sind, wel­ches Anlie­gen das drin­gends­te ist. Im Rück­blick faßt es Benn 1955 zusam­men: »Form und Zucht steigt als For­de­rung von ganz beson­de­rer Wucht aus jenem trieb­haf­ten, gewalt­tä­ti­gen und rausch­haf­ten Sein, das in uns lag und das wir aus­leb­ten, in die Gegen­wart auf. Gera­de der Expres­sio­nist erfuhr die sach­li­che Not­wen­dig­keit, die die Hand­ha­bung der Kunst erfor­dert, ihr hand­werk­li­ches Ethos, die Moral der Form.« Ein Ein­druck, der stell­ver­tre­tend für vie­le gilt. Auch für Mari­net­ti, aber bei ihm einen gewal­ti­gen Schritt zu weit gedacht. Genau dage­gen stellt sich Benn, den Weg in die Apo­rie ahnend und daher die tran­szen­den­te Reiß­lei­ne zie­hend: Er klam­mert die kru­de Poe­tik des Futu­ris­mus aus und setzt auf des­sen gesell­schafts­po­li­ti­sches Prin­zip der Form – den Faschis­mus. Ihm stellt er sei­ne abend­län­di­sche Dich­tung zur Sei­te, auf den Neu­an­fang des Kul­tur­krei­ses hof­fend: »Die gan­ze Zukunft, die wir haben, ist dies: der Staat und die Kunst – die Geburt des Zen­tau­ren hat­ten Sie in Ihrem Mani­fest ver­kün­det: dies ist sie.« Wie es mit dem deut­schen Staat wei­ter­geht, ist hin­läng­lich bekannt. Der Form­zwang der Kunst hin­ge­gen ist nicht his­to­risch, ihr Sta­tus als Bewah­rungs­cha­rak­ter bedarf nach wie vor eines schöp­fe­ri­schen Umfelds. Erst dann kann sich seri­ös um den Kul­tur­kreis bemüht werden.

Wei­te­re Links:

- Der lesens­wer­te Arti­kel des jun­gen Ger­ma­nis­ten Johan­nes Schül­ler zum Jubiläum.

- Und noch­mals Johan­nes Schül­ler, der nun die Linie bis ins Heu­te auszieht.

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