Ein Vorspiel nur: der Zürcher Literaturstreit 1966

pdf der Druckfassung aus Sezession 27/Dezember 2008

sez_nr_275von Günter Scholdt

Zu den bemerkenswertesten Kulturphänomenen gehört, daß das künstlerische Ringen um das Schöne sein Gegenteil nicht ausschließt, sondern im Sinne einer Ästhetik des Häßlichen vor allem in der Moderne auf zahlreiche Podeste hob. Dies geschah nach etlichen Kontroversen, in denen es um die Abwendung vom vorbildlichen Helden oder literaturpädagogischen Ideal zugunsten der unbeschränkten Berechtigung des Autors ging, sich intensivst mit menschlichen Abgründen oder gesellschaftlichen Abfallgruben zu beschäftigen. Gegner solcher Gestaltungsfreiheit warnten davor, alles erdenklich Negative zu Papier und auf die Bühne zu bringen. Doch ihr Erfolg war, je mehr wir uns der Gegenwart nähern, eher gering, wie die heutige Literatur- oder gar Filmpraxis zumindest in den westlichen Ländern nachdrücklich beweist.


Den viel­leicht letz­ten nen­nens­wer­ten Ver­such, die Uhr zurück­zu­stel­len, unter­nahm Emil Staiger in sei­ner Phil­ip­pi­ka vom 17. Dezem­ber 1966, die den (zwei­ten) „Zür­cher Lite­ra­tur­streit” ent­fach­te. Das Ton­do­ku­ment sei­ner Aus­füh­run­gen ist kürz­lich wie­der auf­ge­taucht und von der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen (11. Juni 2008) als eine der „berüch­tigts­ten Reden der Lite­ra­tur­ge­schich­te” bezeich­net wor­den: Anlaß genug, sich noch ein­mal rück­bli­ckend damit zu beschäf­ti­gen, zumal die dar­aus erwach­sen­de Kon­tro­ver­se zu den para­dig­ma­ti­schen (ver­lo­re­nen) Schlach­ten des Kon­ser­va­ti­vis­mus zählt.
Staiger, eine Art Groß­or­di­na­ri­us der dama­li­gen Ger­ma­nis­tik, stieß mit sei­ner Rede „Lite­ra­tur und Öffent­lich­keit” sofort auf flam­men­den Wider­spruch, der sich in Dut­zen­den von Zei­tungs­ar­ti­keln, Autoren-State­ments oder wis­sen­schaft­li­chen Auf­sät­zen kund­tat, die gan­ze Doku­men­ta­ti­ons- oder Kom­men­tar­bän­de fül­len. Was sei­ner­zeit so vie­ler Auf­re­gung wert schien, läßt sich im Kern in weni­gen The­sen fas­sen, wobei ich eine peri­phe­re Aus­las­sung zur „enga­gier­ten Lite­ra­tur” übergehe:
1. Schrift­stel­ler haben eine sitt­li­che Ver­ant­wor­tung. Nur wenn sie die­se wahr­neh­men, schaf­fen sie ästhe­ti­sche Wer­te, nicht allein durch blo­ße Ori­gi­na­li­tät oder Inter­es­sant­heit. Als ethi­sche Grund­be­grif­fe gel­ten, um mit Schil­ler zu spre­chen, „Gerech­tig­keit, Wahr­heit, Maß”.
2. Der Autor darf auch das Böse zei­gen, doch nicht um sei­ner selbst wil­len oder aus gehei­mer Sym­pa­thie, son­dern als Teil einer erzie­he­ri­schen Auf­ga­be „im Namen des Menschengeschlechts”.
3. Einem Groß­teil moder­ner Dich­ter fehlt die­se Recht­fer­ti­gung. Sie bedie­nen bloß eine Kon­junk­tur bla­sier­ter Nihi­lis­ten. Wer wirk­lich im har­ten Schick­sals­kampf ste­he, kön­ne sich sol­che Stim­mun­gen nicht leis­ten, son­dern ver­lan­ge eher nach einem see­lisch kräf­ti­gen Spruch oder Kirchenlied.
4. Die Leser soll­ten sich von der Aura der Kunst und den ver­meint­li­chen ästhe­ti­schen Gege­ben­hei­ten der Moder­ne nicht ein­schüch­tern las­sen und aus einer gro­ßen lite­ra­ri­schen Tra­di­ti­on Hoff­nung auf künf­ti­ge Bes­se­rung schöpfen.

Für sei­ne ästhe­ti­sche Straf­pre­digt wähl­te Staiger zum Teil recht dras­ti­sche For­mu­lie­run­gen, wie zwei typi­sche Pas­sa­gen belegen:
„Wir fin­den die Kunst bedroht, wo immer sich der Sit­ten­rich­ter ein­mischt. Es schlä­fert uns, sobald von Tugend oder Moral die Rede ist. Doch soll davon die Rede sein? Es wird in kei­ner Wei­se ver­langt, daß sich der Dich­ter immer nur mit dem Guten, Wah­ren und Schö­nen befas­se. Er mag, wie Shake­speare, welt­erschüt­tern­de Fre­vel auf der Büh­ne zei­gen oder sich, wie Dos­to­jew­ski, in die grau­sigs­ten Fins­ter­nis­se einer Mör­der­see­le ver­tie­fen – sofern er dabei die mensch­li­che Gemein­schaft nicht aus den Augen ver­liert … Erst wo er sel­ber mit dem Ver­bre­che­ri­schen, Gemei­nen sym­pa­thi­siert, wo ihn die bare Neu­gier auf den Weg in die düs­tern Berei­che lockt und wo er nichts als uns zu über­ra­schen und zu ver­blüf­fen hofft, erst da ver­fehlt er sei­nen Beruf und macht er sich des Miß­brauchs der gefähr­li­chen Gabe des Wor­tes schul­dig. Ein Schau­spiel, dem wir heu­te in erschre­cken­dem Maße aus­ge­setzt sind! Man gehe die Gegen­stän­de der neue­ren Roma­ne und Büh­nen­stü­cke durch. Sie wim­meln von Psy­cho­pa­then, von gemein­ge­fähr­li­chen Exis­ten­zen, von Scheuß­lich­kei­ten gro­ßen Stils und aus­ge­klü­gel­ten Per­fi­di­en. Sie spie­len in licht­scheu­en Räu­men und bewei­sen in allem, was nie­der­träch­tig ist, blü­hen­de Ein­bil­dungs­kraft. Doch wenn man uns ein­zu­re­den ver­sucht, der­glei­chen zeu­ge von tie­fer Empö­rung, Beklom­men­heit oder von einem doch irgend­wie um das Gan­ze beküm­mer­ten Ernst, so mel­den wir – nicht immer, aber oft – begrün­de­te Zwei­fel an. … Wenn ein bekann­ter Dra­ma­ti­ker, der Ausch­witz auf die Büh­ne bringt, in einem frü­her ver­faß­ten Stück mit Mar­quis de Sade als Hel­den einen Welt­erfolg errun­gen hat, so neh­men wir an, er habe hier wie dort die unge­heu­re Macht des Scheuß­li­chen auf das heu­ti­ge Publi­kum ein­kal­ku­liert und sich natür­lich nicht ver­rech­net. Denn wenn man anfängt, nur das Unge­wöhn­li­che, Ein­zig­ar­ti­ge, Inter­es­san­te als sol­ches zu bewun­dern, führt der Weg unwei­ger­lich über das Apar­te, Pre­tiö­se zum Bizar­ren, Gro­tes­ken und wei­ter zum Ver­bre­che­ri­schen und Kranken”.
„Doch ich ver­ges­se, was die­se heu­te über die gan­ze west­li­che Welt ver­brei­te­te Legi­on von Dich­tern, deren Lebens­be­ruf es ist, im Scheuß­li­chen und Gemei­nen zu wüh­len, zu ihrer Recht­fer­ti­gung vor­bringt. Sie sagen, sie sei­en wahr, sie zögen die unbarm­her­zi­ge böse Wahr­heit der schö­nen, tröst­li­chen Täu­schung vor. Und sie­he da, man glaubt es ihnen. Man schämt sich, daß man nicht tap­fer genug ist, die Din­ge so uner­schro­cken zu sehen. … Bleibt uns nur dies noch übrig? Nein! Wenn sol­che Dich­ter behaup­ten, die Kloa­ke sei ein Bild der wah­ren Welt, Zuhäl­ter, Dir­nen und Säu­fer Reprä­sen­tan­ten der wah­ren, unge­schmink­ten Mensch­heit, so fra­ge ich: In wel­chen Krei­sen ver­keh­ren sie? Gibt es denn heu­te etwa kei­ne Wür­de und kei­nen Anstand mehr, nicht den Hoch­sinn eines selbst­los täti­gen Man­nes, einer Mut­ter, die Tag für Tag im Stil­len wirkt, das Wag­nis einer gro­ßen Lie­be oder die stum­me Treue von Freun­den? Es gibt dies alles nach wie vor. Es ist aber heu­te nicht stil­ge­recht. So wenig – um ein weit ent­fern­tes Bei­spiel zu wäh­len – ero­ti­scher Zau­ber in den Stil Homers ein­geht, so wenig gehen Adel und Güte in die moder­ne Dich­tung ein. Doch hüten wir uns, dar­aus zu schlie­ßen, der­glei­chen fin­de sich nir­gends mehr! Bil­li­gen wir den Dich­tern nicht ganz unbe­se­hen einen sol­chen Rang zu, daß unse­re Selbst­ach­tung mit ihren Wor­ten steht und fällt! Beach­ten wir lie­ber, wann und wo eine Trüm­mer­li­te­ra­tur gedeiht. … Es sind – nicht aus­nahms­los, aber meis­tens – Zei­ten des Wohl­stands und der Ruhe, in denen der démon ennui, die dämo­ni­sche Lan­ge­wei­le, die Ver­zweif­lung an allem Leben gedeiht. Der Nihi­lis­mus ist, in erstaun­lich vie­len Fäl­len, ein Luxusartikel.”

Soweit und aus­führ­lich Emil Staiger. Über sei­ne Ansicht läßt sich treff­lich strei­ten. Fal­len mir doch auf Anhieb, von Büch­ner bis Bor­chert, ein Dut­zend Bei­spie­le ein, die Staiger wider­le­gen, ohne aller­dings sei­nen grund­sätz­li­chen Ver­dacht zu ent­kräf­ten, es gehe vie­len vor­nehm­lich um schril­le Effek­te. Ande­rer­seits kon­sta­tier­te selbst der „gesun­de” Goe­the ein Attrak­ti­vi­täts­de­fi­zit des Guten, nann­te sei­ne Iphi­ge­nie selbst­iro­nisch „ver­teu­felt human” oder gestal­te­te sei­nen Mephis­to mit zumin­dest glei­cher Sym­pa­thie wie Faust. Erwar­ten wir von Dich­tung nicht zuwei­len gar, daß sich im Schreib­pro­zeß auch etwas unkon­trol­liert Dämo­ni­sches ein­stel­le? Und war nicht der Kon­ven­ti­ons­bruch stets auch eine ästhe­ti­sche Kate­go­rie, der grau­sa­me Blick oder Stil auch Aus­weis künst­le­ri­scher Rigo­ro­si­tät? Ten­diert nicht das ethi­sche „gut gemeint” – wie Benn spot­te­te – fast schon zwangs­läu­fig zum Gegen­teil von Kunst? Und ent­mün­digt die Fest­le­gung auf Moral nicht Autor wie Leser, dem man offen­bar (mehr­heit­li­che) Immu­ni­tät gegen­über dem ver­füh­re­risch dar­ge­bo­te­nen Bösen nicht zutraut?
Ein Was­ser­fall von Fra­gen ergießt sich über uns. Doch ihre ver­tie­fen­de Dis­kus­si­on unter­blieb meist zuguns­ten per­sön­li­cher Pole­mik, zu der allen vor­an Max Frisch bei­trug, der die Rede prompt unter Tota­li­ta­ris­mus­ver­dacht stell­te. Damit war der Kurs bestimmt, wonach die Kon­tro­ver­se, grob ver­ein­facht, als Aus­ein­an­der­set­zung mit einer angeb­lich laten­ten nazis­ti­schen Kunst­auf­fas­sung geführt wur­de. Man fahn­de­te bei Staiger denn auch flugs nach inkri­mi­nie­ren­den ver­ba­len Tat­be­stän­den, grub einen Text von 1933 mit ver­meint­lich NS-kom­pa­ti­bler Ten­denz aus oder forsch­te nach ver­fäng­li­chen seman­ti­schen Bezü­gen in der Zür­cher Rede. Von „Stand­ge­richt” oder „Schei­ter­hau­fen für Bücher” als Ten­denz sei­ner Aus­füh­run­gen war zu lesen, von erneu­ter Ver­fe­mung der „ent­ar­te­ten Kunst”, von „Faschis­men im Anzug” oder Schlag­wor­ten aus der „Küche des neu­en Goeb­bels”. Nun gehört das Anbräu­nen von Geg­nern des pro­gres­si­ven main­stream ja bekannt­lich zu den Lieb­lings­spiel­chen des deutsch­spra­chi­gen Nach­kriegs­feuil­le­tons mit gelin­der Betei­li­gung von Zuträ­gern aus Wis­sen­schafts­krei­sen. Gleich­wohl befrem­det die ange­maß­te Ver­folg­ten­po­se, in der – von Max Frisch über Peter Hand­ke bis Lud­wig Mar­cu­se oder Hans-Heinz Holz – die Schrift­ge­wal­ti­gen zur Staiger-Schel­te aufbrachen.
Dabei muß­te doch jedem unpar­tei­ischen Beob­ach­ter klar sein, daß Staiger sol­che For­de­run­gen eben nicht in einer Dik­ta­tur, son­dern in einer offe­nen demo­kra­ti­schen Gesell­schaft gestellt hat­te und von daher auch nicht auf Zen­sur­maß­nah­men abziel­te, son­dern nur auf eine von ihm gewünsch­te frei­wil­li­ge Geschmacks­än­de­rung der Leser respek­ti­ve Autoren. Des wei­te­ren war offen­sicht­lich, daß Staiger zu die­ser Zeit ohne­hin bereits auf ver­lo­re­nem Pos­ten stand, ange­sichts der gän­gi­gen Macht­ver­hält­nis­se im Lite­ra­tur­ap­pa­rat, und daß es nur noch um eine Art Gegen­re­de ging zu einem prak­tisch unauf­halt­sa­men Trend. Wer nun also von Schrift­stel­ler­sei­te qua­si den kul­tur­po­li­ti­schen Not­stand aus­rief nach dem Mot­to: „Sind wir schon wie­der so weit?”, zeig­te eine beträcht­li­che Larmoyanz.

Die aller­dings ist seit Jahr­zehn­ten lei­der bei uns ver­brei­tet, von der auf­ge­bausch­ten „Pinscher”-Affäre Erhards über Bernt Engel­manns Pseu­do­be­trof­fen­heit ange­sichts einer Strauß-Atta­cke bis hin zu Gün­ter Grass, der gleich von „Bücher­ver­bren­nung” schwa­dro­nier­te, als Reich-Rani­cki auf einem Spie­gel-Titel­bild sein Wei­tes Feld zer­riß oder als er die Miß­bil­li­gung sei­nes jahr­zehn­te­lan­gen Pha­ri­sä­er­tums als „ent­ar­te­ten Jour­na­lis­mus” klas­si­fi­zier­te. Dabei wis­sen wir längst, daß der­glei­chen Kri­tik an einem auch nur halb­wegs Pro­mi­nen­ten als schreck­lichs­te Fol­ge in der Regel vor allem die Absatz­stei­ge­rung bewir­ken dürf­te. Hans Habe ver­spot­te­te die­se mili­tan­te Weh­lei­dig­keit denn auch tref­fend als Wunsch nach einem „Natur­schutz­park” für Dich­ter. Und in der Tat wäre der Streit um Staiger sei­tens der Atta­ckier­ten bes­ser ein wenig sach­li­cher geführt wor­den, nicht mit die­ser dekla­ma­to­ri­schen, manch­mal heuch­le­ri­schen Moral­po­se. Aber der Schock saß offen­bar tief, es kön­ne ihnen jemand das gesell­schaft­li­che Ankla­ge­mo­no­pol strei­tig machen.
Im übri­gen gibt es (beim Autor wie Leser) natür­lich auch ein legi­ti­mes Inter­es­se an der düs­te­ren Sei­te von Mensch und Gesell­schaft als Welt­erfah­rung. Auch spei­sen sich aus sol­chen Schil­de­run­gen zuwei­len die Kräf­te zur not­wen­di­gen Ver­än­de­rung. Aber geben wir eben­so zu, daß wir die viel­fäl­ti­ge Dar­stel­lung des Bösen respek­ti­ve gesell­schaft­lich Uner­wünsch­ten um sei­ner selbst wil­len längst in unse­ren all­täg­li­chen Unter­hal­tungs­ka­non auf­ge­nom­men haben. Den­ken wir an Auf­ma­chun­gen und Mel­dun­gen nicht nur der Bou­le­vard­pres­se oder an Zuschau­er­mas­sen, die bei Auto­un­fäl­len aus Sen­sa­ti­ons­lust die Zufahrts­we­ge ver­stop­fen. Offen­bar gie­ren nicht weni­ge Men­schen nach einer täg­li­chen Dosis an Schre­cken und Gewalt, und sie tun dies kurio­ser­wei­se in dem Maße, wie sie im täg­li­chen Leben durch immer zahl­rei­che­re Geset­ze und Ver­si­che­run­gen sämt­li­che denk­ba­ren Irre­gu­la­ri­tä­ten von sich fern­zu­hal­ten suchen. Gan­ze Roman­gen­res und Film­bran­chen leben aus­schließ­lich von Hor­ror und Ver­bre­chen, wobei nur in Aus­nah­me­fäl­len ethi­sche Moti­ve dahin­ter­ste­hen, die gleich­wohl von künst­lich erreg­ten Schrift­stel­lern im Zür­cher Streit pau­schal rekla­miert wurden.
Ver­mut­lich könn­te jeder halb­wegs Bele­se­ne eine erkleck­li­che Anzahl von Tex­ten anfüh­ren, deren auf Teu­fel komm raus spe­ku­la­ti­ver Cha­rak­ter evi­dent ist. Ob dabei alle die glei­chen Tex­te nen­nen, steht dahin. Und gewiß ist, daß sol­che kom­mer­zi­ell ein­träg­li­che Gru­se­lei zumin­dest fahr­läs­sig in Kauf nimmt, nicht uner­heb­li­che gesell­schaft­li­che Nor­men zu ver­schie­ben. Gera­de das 20. Jahr­hun­dert hat das Tem­po für den Abbau mora­li­scher Schran­ken rasant gestei­gert und im glei­chen Maße Ängs­te geschürt, die es zuwei­len nahe­leg­ten, alle Neue­run­gen reflex­haft nur mehr als Sit­ten­ver­fall wahrzunehmen.

Auch steht offen­bar das Böse, Aso­zia­le, Las­ter- oder Exzeß­haf­te, Patho­lo­gi­sche, Dis­so­nan­te oder Auf­rüh­re­ri­sche ungleich stär­ker im Brenn­punkt der Auf­merk­sam­keit als die zwangs­läu­fig reiz­lo­se­re Dar­stel­lung von Har­mo­nie oder bür­ger­li­cher All­täg­lich­keit. Ande­rer­seits kön­nen wir kaum blau­äu­gig anneh­men, daß die stän­di­ge Erwei­te­rung lite­ra­ri­scher Tabu­gren­zen stets sozi­al­ver­träg­lich von­stat­ten ging, und sei es durch die blo­ße Gewöh­nung an den mora­li­schen Aus­nah­me­zu­stand im Sin­ne schein­ba­rer „Nor­ma­li­tät”. Inso­fern mag Staigers Dia­gno­se man­ches ver­ein­fa­chen; durch­aus nach­voll­zieh­bar ist sein Unbe­ha­gen an einer hoch­ideo­lo­gi­sier­ten wie hoch­kom­mer­zia­li­sier­ten Lite­ra­tur­sze­ne, ver­bun­den mit einem Ver­trau­ens­ver­lust in die (ethi­sche) Serio­si­tät sen­sa­ti­ons­ge­präg­ter Zeitbilder.
Wer also Staigers Stand­punkt ledig­lich als Fol­ge pro­vin­zi­el­ler Rück­stän­dig­keit, eines obso­le­ten bür­ger­li­chen Denk­stils oder poli­tisch bedenk­li­cher Ver­blen­dung cha­rak­te­ri­siert – exem­pla­risch tat dies etwa Ger­hard Kai­ser aus der ver­meint­li­chen Distanz des Jah­res 2000 und der Selbst­ge­wiß­heit des kul­tur­po­li­ti­schen Sie­gers -, ent­sorgt eine Pro­ble­ma­tik, die kei­nes­wegs gelöst und viel­leicht auch nicht zu lösen ist. Er ver­kennt, daß die Debat­te kein blo­ßes Relikt einer reak­tio­nä­ren Moder­ne-Kri­tik dar­stellt, son­dern so alt ist wie die Lite­ra­tur­kri­tik selbst. Schon Aischy­los und Euri­pi­des, Les­sing, Goe­the, Schil­ler, Büch­ner oder Fon­ta­ne haben – typo­lo­gisch ver­gleich­bar – mit gro­ßem Ernst über die Gren­zen lite­ra­ri­scher Dar­stel­lungs­be­rech­ti­gung gestrit­ten. Ähn­li­ches gilt allent­hal­ben übri­gens noch heu­te. In rigi­de oder dik­ta­to­risch orga­ni­sier­ten Län­dern sind das ernst­haf­te und dring­li­che Debat­ten, in ande­ren, wo lite­ra­ri­sche Frei­heit, wenn nicht Per­mis­si­vi­tät zum Kul­tur­stan­dard zählt, eher ver­schämt for­mu­lier­te. Und es erscheint viel­leicht nur als gesell­schaft­li­cher Fort­schritt, wenn wir viel zu abge­stumpft sind, uns über Per­ver­sio­nen noch zu erre­gen – das Gan­ze unter dem Man­tel von Toleranz.
Anläs­se gäbe es genug, ange­sichts einer Kul­tur­sze­ne, in der „Feucht­ge­bie­te” wie ima­gi­nier­te SS-Sadis­men glei­cher­ma­ßen zur täg­li­chen Unter­hal­tungs­so­ße ver­manscht wer­den. Eine belie­bi­ge Stun­de abend­li­chen Fern­seh-Zap­pens beschert uns ein Pot­pour­ri des­sen, was wir durch weit­ge­hen­de Libe­ra­li­sie­rung an Dar­stel­lungs­frei­heit gewon­nen, aber zugleich an Hemm­schwel­len ver­lo­ren haben um der blo­ßen Gier nach Sen­sa­tio­nen und Ein­schalt­quo­ten wil­len. Eine Abson­der­lich­keit wie Urs Ale­manns Baby-Ficker qua­li­fi­zier­te offen­bar bei­fall­um­rauscht für den Inge­borg-Bach­mann-Preis, und Film wie Thea­ter blei­ben kei­nes­wegs dahin­ter zurück. So stei­gern sich Auf­merk­sam­keits­künst­ler wie Schlin­gen­sief im täg­li­chen Kon­kur­renz­kampf der Effek­te zu Revue-Titeln wie Tötet Kohl. Ande­re Regie­ge­wal­ti­ge stört an sol­chen Tabu­brü­chen nur die man­geln­de Reso­nanz. „Wenn man heu­te ‚Tötet Hel­mut Kohl‘ singt und 50 nack­te Pär­chen auf der Büh­ne dazu ficken”, erre­ge das die Leu­te ein­fach nicht mehr, klag­te Josef Bier­bich­ler bereits vor einer Dekade.

In der Tat rela­ti­viert sich eini­ges, weil Kunst und ihre Bot­schaft kaum noch ernst genom­men wer­den. Sonst wären leb­haf­te­re Aus­ein­an­der­set­zun­gen an der Tages­ord­nung. Ist doch der mora­li­sche oder sprach­li­che Tabu­bruch, den jede neu an die Fut­ter- und Ein­flußkrip­pe drän­gen­de Autoren­ge­ne­ra­ti­on durch ver­än­der­te For­men, Inhal­te oder Wir­kungs­ab­sich­ten mit sich bringt, gewiß kein schmerz- oder gefahr­lo­ser Vor­gang. Auch wer inno­va­ti­ven Wan­del als not­wen­dig begrüßt, soll­te den Wider­spruch gegen das jeweils Moder­ne daher nicht vor­schnell zum banausi­schen Sakri­leg erklä­ren. Auch Fort­schritt ver­dient kei­nen unbe­schränk­ten Vor­aus­kre­dit. Erst durch Geg­ner und Kri­tik, wie berech­tigt auch immer, zeigt sich die Stand­haf­tig­keit des Neu­en, trennt sich die Spreu vom Wei­zen, das künst­le­risch Not­wen­di­ge vom bloß Spe­ku­la­ti­ven. Inso­fern sind auch ver­lo­re­ne Schlach­ten – und der Kampf gegen ent­ta­bui­sie­ren­de Trends ist aus viel­fäl­ti­gen Grün­den auf Dau­er nicht zu gewin­nen – kei­nes­wegs ohne Sinn oder Berech­ti­gung. Schüt­zen sie doch vor völ­li­ger Belie­big­keit einer sub­stanz­lo­sen Unterhaltungsdiktatur.
Er bleibt sogar – wie die Lite­ra­tur­ge­schich­te lehrt – kaum einer Gene­ra­ti­on erspart: Ob Kleist einem Goe­the nicht geheu­er war oder Fried­rich Schle­gel einem Schil­ler, ob Lucin­de als unsitt­lich oder Haupt­manns Weber als „Rinn­stein­kunst” ver­stan­den wur­den, jede bereits eta­blier­te Lite­ra­tur­rich­tung ver­däch­tigt die neue zu Recht oder Unrecht eines leicht­fer­ti­gen Spiels mit dem Abgrün­di­gen, Häß­li­chen oder sozi­al Schäd­li­chen als bloß „Inter­es­san­tem”. Ja, sogar Autoren, die den jewei­li­gen Sit­ten­rich­tern ihrer Zeit selbst schon als ein­schlä­gig gal­ten, bele­gen durch ihre Kol­le­gen­schel­te, daß sie nicht jede Tabu­ver­let­zung bil­li­gen und es eigent­lich so etwas wie (Geschmacks-)Grenzen geben soll­te. Man lese in die­sem Zusam­men­hang (bei­spiels­wei­se in Drews’ Samm­lung von Kol­le­gen­schel­ten) nach, was etwa Leo Tol­stoi über Bau­de­lai­re schrieb, Mar­cel Proust über Léau­taud, Gott­fried Benn über Lou­is-Fer­di­nand Céli­ne, Mar­tin Wal­ser über Dju­na Bar­nes, oder gar Mary McCar­thy, die mit ihrer Cli­que ja eine Zeit­lang gleich­falls ihren Skan­dal­wert aus­kos­te­te, über Wil­liam Burroughs.
Nun pfle­gen der­ar­ti­ge Hin­wei­se durch die Gegen­fra­ge gekon­tert zu wer­den: Wo leben wir denn, wenn wir alles igno­rie­ren, was unse­ren geis­ti­gen und mora­li­schen Eti­ket­te­vor­stel­lun­gen wider­spricht? Ist denn die Welt nicht viel chao­ti­scher, als in drei wohl­ge­form­te, inhalt­lich wohl­tem­pe­rier­te Akte paßt? Gibt es nicht die­ses täg­li­che Quä­len und Fol­tern, Töten und Aus­beu­ten, den Wort­bruch und die Mit­leid­lo­sig­keit? Soll die Dar­stel­lung leib­haf­tig exis­tie­ren­der Men­schen­fres­ser, Kin­des­ent­füh­rer oder ‑ein­ker­ke­rer, sado­ma­so­chis­ti­scher Patho­lo­gien oder öko­no­mi­scher Heu­schre­cken­men­ta­li­tä­ten unter­blei­ben, weil das zar­te Gemü­ter ver­let­zen könn­te? Ste­cken wir dann nicht wie Vogel Strauß den Kopf in den Sand einer ästhe­tisch geschön­ten Rea­li­tät? Zwei­fel­ten vie­le Schrift­stel­ler doch schon spä­tes­tens seit dem Erd­be­ben von Lis­sa­bon samt Vol­taires sar­kas­ti­schen Kom­men­ta­ren ver­ständ­li­cher­wei­se an einer Art prä­sta­bi­lier­ter Har­mo­nie, und ver­gleich­ba­re For­de­run­gen an die Kunst gel­ten zuneh­mend als welt­fremd. Auch die poli­ti­schen Groß­ver­bre­chen der fol­gen­den Jahr­hun­der­te schei­nen Autoren kei­nen Raum mehr zu las­sen für die Dar­stel­lungs-tri­as vom Guten, Schö­nen und Wahren.

Alles rich­tig, nur geht es den meis­ten denn über­haupt um Wirk­lich­keits­wie­der­ga­be oder vor allem um Auf­merk­sam­keit? Auch gibt es natür­lich kei­ne Rea­li­tät an sich. Alles, was wir wahr­neh­men, wird wesent­lich durch Aus­wahl und Per­spek­ti­ve bestimmt, von bewuß­tem Ver­zeich­nen ein­mal ganz abge­se­hen. Ana­log zu Hei­sen­bergs Unschär­fe­re­la­ti­on ist auch die „rea­lis­tischs­te” Dia­gno­se nicht wert­frei oder läßt ihren beschrie­be­nen Gegen­stand unbe­ein­flußt. Viel­mehr schafft sie ihrer­seits Rea­li­tä­ten. Eine Bank, die man, wie berech­tigt auch immer, öffent­lich für insol­vent erklärt, wird es häu­fig bald tat­säch­lich sein. Auch sind Welt­bil­der nie inter­es­se­los, Mei­nun­gen nicht zuletzt Macht­an­sprü­che. Dar­um lohnt sich ja auch hef­ti­ger Streit um sie.
Doch just die­se Kon­tro­ver­se ist mit Mit­teln und Fol­gen geführt wor­den, die ihr etwas unheil­voll Modell­haf­tes ver­leiht. Vor allem in bezug auf bestimm­te Denun­zia­ti­ons­me­cha­nis­men fin­den sich auf­fal­len­de Par­al­le­len zum 1986 aus­ge­bro­che­nen His­to­ri­ker­streit, der wie­der­um als Hand­lungs- und Ein­schüch­te­rungs­mus­ter bis heu­te zahl­rei­che poli­ti­sche Kor­rekt­heits­dis­pu­te vor­prägt. Wie im Fall Nol­te blieb auch in der Zür­cher „Literatur”-Debatte am Schluß ein Ordi­na­ri­us auf der Stre­cke, des­sen per­sön­li­ches Anse­hen und Ruf als For­scher zuvor inter­na­tio­na­le Gel­tung besa­ßen. Die Ära Staiger war danach schlag­ar­tig been­det, sei­ne werk­im­ma­nen­te Inter­pre­ta­ti­ons­me­tho­de wis­sen­schafts­po­li­tisch beer­digt wie sei­ne Hal­tung zum dich­te­ri­schen Text oder zur anschau­li­chen For­mu­lie­rung, die auch dem gebil­de­ten Lai­en zugäng­lich war. Ab jetzt herrsch­ten unter dem Signum allei­ni­ger „Wis­sen­schaft­lich­keit” bis zu ihrer Ablö­sung durch neue­re Moden Lite­ra­tur­so­zio­lo­gie (mit gelin­den mar­xis­ti­schen Zusät­zen), Rezep­ti­ons­äs­the­tik, Psy­cho­ana­ly­se, (anti­his­to­ris­ti­sche) Ideo­lo­gie­kri­tik und – um es etwas zu über­spit­zen – jener unsinn­li­che Geheim­jar­gon, der die durch­schnitt­li­che Ger­ma­nis­ten­stu­die zur Quel­le sprach­äs­the­ti­schen Miß­ver­gnü­gens hat wer­den las­sen. Soviel zur hoch­schul­stra­te­gi­schen Dimension.
Auch im Staiger-Dis­put wur­de weni­ger argu­men­tiert als mora­li­siert, unter Nut­zung der NS-Keu­le als schärfs­ter Waf­fe zur Aus­gren­zung eines Geg­ners. Auch hier fand der Atta­ckier­te sei­tens sei­ner Fach­kol­le­gen wenig Unter­stüt­zung. Allein sei­ne spe­zi­fi­sche Ein­bet­tung im kon­ser­va­ti­ven Milieu der Schweiz bewahr­te ihn vor den Fol­gen noch wei­ter­ge­hen­der ruf­schä­di­gen­der Unter­stel­lun­gen, wie sie Nol­te und ande­re erdul­den muß­ten. Auch dort zeig­te sich also bereits die dis­zi­pli­nie­ren­de Macht der neu­en Mei­nungs­trä­ger, die den lan­gen Marsch durch die Redak­tio­nen längst begon­nen und auf dem Münch­ner Ger­ma­nis­ten­kon­greß 1966 bereits zahl­rei­che erober­te Stel­lun­gen öffent­lich­keits­wirk­sam bezo­gen hatten.
Auch damals schon ging es um Deu­tungs- respek­ti­ve mora­li­sche Luft­ho­heit, um Aus­schal­tung von Wider­spruch durch per­sön­li­che Dif­fa­mie­rung. Daß man dabei die Dau­men­schrau­ben noch wesent­lich schär­fer anzie­hen kann, soll­ten spä­ter Ernst Nol­te, Andre­as Hill­gru­ber, Botho Strauß, Mar­tin Wal­ser und zahl­rei­che ande­re zu spü­ren bekom­men, von den offi­ziö­sen Aus­gren­zun­gen gan­zer Publi­ka­ti­ons­or­ga­ne nicht zu reden. Man könn­te dar­aus ler­nen, wenn man denn wollte.

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