Bürger ohne Kunst

pdf der Druckfassung aus Sezession 30 / Juni 2009

Die heutige Machtelite, die sogenannte Neue Mitte, rekrutiert sich aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Der Volkskundler Joska Pintschovius legt wortgewaltig und klug dar, mit welch langem Atem das einfache Volk seit Ausgang des Mittelalters zum Angriff auf die Ständehierarchie anrannte.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Daß der Leser eben­falls einen lan­gen Atem braucht, um sich durch das fast andert­halb Kilo schwe­re Werk zu arbei­ten, ist der Wer­muts­trop­fen, der Pint­scho­vi­us’ ful­mi­nan­te Chro­nik eines Mas­sen­auf­stiegs trübt. Bereits der Titel deu­tet an, wohin die Ana­ly­se geht: Die Dik­ta­tur der Klein­bür­ger zeigt auf der Vor­der­sei­te eine »schi­cke« Edel­stahl­gar­de­ro­be, über deren Haken eine Kro­ne gehängt wur­de. Ord­nung, Sau­ber­keit und das Stre­ben nach Sicher­heit zählt Pint­scho­vi­us zu den Tugen­den des Klein­bür­gers, gepaart mit behä­bi­gem Ehr­geiz, der ihn umge­kehrt zu Untu­gen­den wie Neid und Anpas­sungs­wahn ver­lei­te: »Als noto­ri­scher Oppor­tu­nist ist er Spreu im Wind der jewei­li­gen Mehr­heits­mei­nung, und folg­lich beglei­ten Irrun­gen sei­nen Lebens­weg, zu denen er sich mit dem Hin­weis ›so war man frü­her, heu­te denkt man eben anders‹ bekennt.« Sowohl das inno­va­ti­ons­feind­li­che »Nor­men­dik­tat « des früh­neu­zeit­li­chen Zunft­we­sens, die 48er- Revo­lu­ti­on als auch die Mas­sen­be­we­gun­gen des 20. Jahr­hun­derts sei­en von einem Klein­bür­ger­tum getra­gen wor­den, das sich mit eige­nem Stan­des­dün­kel sowohl von Volks­tüm­lich­keit als auch ade­li­ger Sit­te absetz­te. Der Autor ana­ly­siert die »Weg­mar­ken des ste­ten Macht­zu­wach­ses eines Stan­des, des­sen gerin­ges Selbst­wert­ge­fühl das Mit­tel­maß zur Norm erhob.« Bis heu­te füh­re »bereits der Ver­dacht eli­tä­rer Abgren­zung« zu Arg­wohn und aus­gren­zen­der Äch­tung. Obgleich sie die klas­sen­lo­se Gesell­schaft als Ide­al prei­sen, erhö­ben sich ihre Füh­rer aber zur »poli­ti­schen Klas­se« und maß­ten sich Pri­vi­le­gi­en einer Eli­te an. Pint­scho­vi­us pole­mi­siert gran­di­os. So liest sich sein Buch als his­to­risch fun­dier­ter, eigen­wil­li­ger Auf­riß, der mit der Stän­de­trep­pe unter »Got­tes Ord­nung« beginnt und mit einer Über­schau auf »volks­päd­ago­gi­sche« Nütz­lich­kei­ten aus den Federn klein­bür­ger­li­cher »Fern­seh­pro­fes­so­ren« endet.
Daß der Autor bei aller Geleh­rig­keit Hun­der­te Sei­ten lang einen flot­ten Essay-Ton pflegt, zählt zu den Trümp­fen des Buchs. Es kom­plett zu lesen ist eine Jah­res­auf­ga­be. Her­nach mag man es (fuß­no­ten­los, aber mit einem umfäng­li­chen Namens­re­gis­ter) zu den Lexi­ka und Nach­schla­ge­wer­ken stellen.

(Jos­ka Pint­scho­vi­us: Die Dik­ta­tur der Klein­bür­ger. Der lan­ge Weg in die deut­sche Mit­te. Ber­lin: Osburg 2008, 727 S., 29.90 €)

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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