Noch mehr Extremismus

Der Beitrag von Christoph Weckenbrock zur laufenden Extremismus-Debatte auf Endstation Rechts ist vermutlich ziemlich repräsentativ für den Mainstream der Politikwissenschaftler und Verfassungsschützer.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Jeden­falls kann man dar­an gut die gan­ze Mise­re die­ses Betriebs und der zugrun­de lie­gen­den Auf­fas­sun­gen stu­die­ren. Folgt man näm­lich die­sen Prä­mis­sen, so hät­te eine ernst­zu­neh­men­de und authen­ti­sche poli­ti­sche Rech­te über­haupt kei­ne Chan­ce, in den demo­kra­ti­schen Sand­kas­ten auf­ge­nom­men zu wer­den.  Das ist natür­lich nicht das ein­zi­ge Problem.

Da wird etwa als mög­li­che “kon­sen­sua­le Defi­ni­ti­on” des Extre­mis­mus  fol­gen­des ange­bo­ten (Her­vor­he­bun­gen von mir):

Eine kon­sen­sua­le Defi­ni­ti­on, die zumin­dest grund­sätz­lich allen Ansät­zen gerecht wird, könn­te (…) wie folgt aus­se­hen: Extre­mis­ti­sche Ein­stel­lun­gen basie­ren auf der grund­sätz­li­chen Ableh­nung gesell­schaft­li­cher Viel­falt, Tole­ranz und Offen­heit, wel­che sich zum Teil in „ver­hal­tens­auf­fäl­li­gen“ anti­de­mo­kra­ti­schen Bestre­bun­gen ihrer Akteu­re äußert, die aus einer nach außen abge­schlos­se­nen Pro­gram­ma­tik her­aus gerecht­fer­tigt werden.

Was nun genau ist “gesell­schaft­li­che Viel­falt”? Was ist “Tole­ranz”, an sich und für sich allein im Raum ste­hend? Und was ist bit­te­schön “Offen­heit”? Wes­sen “Offen­heit”, gegen­über wem oder was? Man kennt die­se nebu­lö­sen, rein kon­tex­tu­el­len Voka­beln als typi­sches poli­ti­sches Wort­ge­klin­gel aus dem Schlag­wort­schatz der Lin­ken und Libe­ra­len; nach der Vor­stel­lung von Poli­tik­wis­sen­schaft­lern die­ser Art sol­len sie trotz (oder wegen?) ihrer man­geln­den Anschau­lich­keit allen Erns­tes als “Mini­mal­ka­ta­log von Wer­ten” herhalten.

Die­se Gum­mi­be­grif­fe nun kön­nen in der Pra­xis letzt­lich alles und nichts bezeich­nen, vor allem aber die­nen sie dazu, jeg­li­cher Oppo­si­ti­on zu lin­ker und libe­ra­ler Poli­tik den “extre­mis­ti­schen” Rie­gel vor­zu­schie­ben. Sie gehö­ren bei­spiels­wei­se zur Grund­aus­stat­tung der Rhe­to­rik des Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus, der Anti­dis­kri­mi­nie­rungs-Ideo­lo­gie und der Gen­der­po­li­tik, die damit “ver­fas­sungs­schüt­zend” abge­si­chert wären. (Im Grun­de ist das de fac­to schon so.) Wenn aber eine poli­ti­sche Rech­te über­haupt einen Sinn haben soll, dann gera­de in der Kri­tik der­ar­ti­ger Schwam­mig­kei­ten und ihrer Kon­tex­tua­li­sie­rung und Rela­ti­vie­rung durch kon­kre­te Lagebeschreibungen.

Als Rela­ti­ons­punkt des “Extre­men” soll nach Wecken­b­rock nicht etwa die “extre­me” Über­spit­zung eines (lin­ken oder rech­ten) poli­ti­schen Prin­zips gel­ten, son­dern die “extre­me” Ent­fer­nung vom “demo­kra­ti­schen Ver­fas­sungs­staat”. Die­ses Modell ent­sprä­che “einer nor­ma­ti­ven, demo­kra­tie­theo­re­tisch aus­ge­rich­te­ten Wis­sen­schaft”.  Bereit­schaft zur Gewalt­an­wen­dung wird dabei inter­es­san­ter­wei­se nicht als Kri­te­ri­um genannt, stattdessen:

ein geschlos­se­nes ideo­lo­gi­sches Denk­ge­bäu­de, der Allein­ver­tre­tungs­an­spruch einer ein­zi­gen poli­ti­schen Kraft, die Gegen­über­stel­lung von Plu­ra­lis­mus und „wah­rer Leh­re“ (Dog­ma­tis­mus), die Dif­fa­mie­rung des Par­la­men­ta­ris­mus als Ver­fäl­schung des Volks­wil­lens, das Vor­han­den­sein von Freund-Feind-Ste­reo­ty­pen sowie ein star­kes Missionsbewusstsein.

Wer defi­niert nun eigent­lich, ob und wie sehr ein Denk­ge­bäu­de “geschlos­sen” oder “offen”  ist? Wer legt nor­ma­tiv fest, daß ein bestimm­ter Vor­wurf gegen das Par­la­ment nicht berech­tigt ist? Kann man das denn dog­ma­tisch set­zen: der Par­la­men­ta­ris­mus ist unan­tast­bar, und ver­tritt unver­fälscht den Volks­wil­len, immer und über­all? Wer nun defi­niert den “Volks­wil­len” ver­bind­lich (eines der ältes­ten, unge­lös­ten Pro­ble­me der Demo­kra­tie)? Was man ja eben­so tun muß, wenn man meint, er wer­de “ver­fälscht”, wie wenn man meint, es wäre “dif­fa­mie­rend”, jeman­den als des­sen “Ver­fäl­scher” zu bezeichnen.

Davon abge­se­hen: das Lus­ti­ge an die­ser Defi­ni­ti­on ist, daß jeder ein­zel­ne Punkt auch auf die Ver­tre­ter des gän­gi­gen Mit­tis­mus und des poli­ti­schen Kon­sens, den Wecken­b­rock ver­tei­digt haben will, ange­wandt wer­den kann, beson­ders auf die “streit­ba­ren” Ver­fas­sungs­schüt­zer mit ihren Vor­stel­lun­gen von  “gesell­schaft­li­cher Viel­falt, Tole­ranz und Offen­heit”. Spie­le ein jeder die­ses Gedan­ken­spiel durch, und es wird lücken­los pas­sen, mit zwei spie­gel­ver­kehr­ten Modi­fi­ka­tio­nen: schrei­be “die Gegen­über­stel­lung von Extre­mis­mus und ‘wah­rer Leh­re’ (Dog­ma­tis­mus)”. Und: “Die Dif­fa­mie­rung des Volks­wil­lens als Gefahr für den Parlamentarismus.”

Wecken­b­rock meint,

…  dass der nor­ma­ti­ve Extre­mis­mus­be­griff ledig­lich den Ver­such dar­stellt, einen Bereich poli­ti­scher Gegen­kul­tur zu benen­nen, der (…) im Rah­men einer „Sol­lens-Ord­nung“ denn einer „Seins-Ord­nung“ zu bewer­ten ist.

Das heißt also nichts ande­res: der Sta­tus Quo muß so blei­ben wie er ist – was “nor­ma­tiv” gesetzt, aber nicht kon­kret begrün­det wird, etwa mit sei­ner poli­ti­schen Effek­ti­vi­tät, Kri­sen zu erken­nen und zu bewältigen‑, und jeg­li­che Alter­na­ti­ve kann damit als “extre­mis­tisch” gebrand­markt wer­den. Ein “Soll” darf es nicht geben, nur ein ewi­ges “Ist”. Der Ein­schub, daß zum “Extre­mis­mus” auch die “Ableh­nung eines Mini­mal­ka­ta­logs von Wer­ten und Ver­fah­rens­re­geln des demo­kra­ti­schen Recht­staa­tes” gehö­re, soll­te auf­grund sei­ner dehn­ba­ren Inter­pre­tier­bar­keit kei­ne grö­be­ren Schwie­rig­kei­ten bedeuten.

Schließ­lich kommt noch zur Spra­che, daß die gewähr­leis­te­te “poli­ti­sche Mei­nungs­frei­heit nach Art. 5 GG”, ihr Ende fände,

wo Mit­tel des phy­si­schen und psy­chi­schen Ter­rors, der Irre­füh­rung und Dif­fa­mie­rung, der Mas­sen­sug­ges­ti­on und Hetz­pro­pa­gan­da zur Anwen­dung kom­men und den „neur­al­gi­schen Punkt frei­heit­li­cher Tole­ranz“ (Mar­kus Thiel) überschreiten.

Immer­hin: hier haben wir das impli­zi­te Ein­ge­ständ­nis, daß “Tole­ranz” nur in einem kon­kre­ten Bezug einen Sinn und Wert (oder Unwert) hat.  Die ande­ren Punk­te: psy­chi­scher Ter­ror, Irre­füh­rung, Dif­fa­mie­rung, Mas­sen­sug­ges­ti­on und “Hetz­pro­pa­gan­da” sind in Deutsch­land kei­ne Pri­vi­le­gi­en poli­ti­scher Extre­mis­ten.  Im Gegen­teil sind sie tag­täg­lich ange­wand­te (vor allem media­le) Mit­tel, mit denen sich auch die Nutz­nie­ßer des Sta­tus Quo ver­tei­di­gen, legi­ti­mie­ren und hinweglügen.

Aus alle­dem wird klar ersicht­lich, daß Poli­tik­wis­sen­schaft im Diens­te der  “Schutz­kon­zep­ti­on der streit­ba­ren Demo­kra­tie” zur puren Kampf­ma­schi­ne wird, die stän­dig unter dem Soll­zwang steht, Argu­men­te für ihren eige­nen Erhalt zu pro­du­zie­ren. Damit kann von “Wis­sen­schaft” natür­lich kei­ne Rede mehr sein.  Daß es den meis­ten Ver­tre­tern die­ser Zunft aller­dings eher um Poli­tik geht (dazu gehört auch die Durch­set­zung “nor­ma­ti­ver Wer­te”) als um Wis­sen­schaft, läßt Wecken­b­rock durch­bli­cken, wenn er von einem “unter­schied­li­chen Extre­mis­mus­ver­ständ­nis in Poli­tik­wis­sen­schaft und Ver­fas­sungs­recht” spricht.

“Streit­bar” und “wehr­haft” ist die von den Poli­tik­wis­sen­schaft­lern und Ver­fas­sungs­schüt­zern gemein­te “Demo­kra­tie” hier nur mehr inso­fern, als sie vor allem um die Unge­stört­heit ihrer eige­nen Kreis­be­we­gung um sich selbst und ihre feti­schi­sier­ten Begrif­fe (denn nicht ande­res sind die Flos­keln des “Wer­te­ka­ta­logs”) kämpft, also zum rei­nen Selbst­zweck wird.

Wenn nun Wecken­bruck meint, daß

es uner­läss­lich ist, nicht erst bei extre­mis­ti­schen Bestre­bun­gen ein­zu­schrei­ten und zu war­ten, bis die­se auch mit dem höchst­rich­ter­li­chen Eti­kett „ver­fas­sungs­wid­rig“ belegt sind.

…, mit ande­ren Wor­ten früh­zei­tig Gesin­nungs­kon­trol­len aus­zu­üben, dann soll das gesche­hen durch:

Öffent­lich­keits­ar­beit, Kam­pa­gnen, die Durch­füh­rung von Semi­na­ren und Ver­öf­fent­li­chun­gen, Bür­ger­initia­ti­ven, Berich­ten von Medi­en und Pres­se, wis­sen­schaft­li­che Arbeits­krei­se und nicht zuletzt auch die Doku­men­ta­tio­nen der Verfassungsschutzbehörden (…).

Dies nennt er dann eine “argu­men­ta­ti­ve Aus­ein­an­der­set­zung mit Ver­fas­sungs­fein­den”.  Wie aber der Blick in die Rea­li­tät die­ser satt­sam bekann­ten “Öffent­lich­keits­ar­beit” zeigt, dre­hen sich in Wahr­heit die Argu­men­te der Aus­ein­an­der­set­zung um nichts ande­res als den Nach­weis, daß die Ver­fas­sungs­fein­de ver­fas­sungs­feind­lich sind und wie sie ver­fas­sungs­feind­lich sind. Dies soll “Argu­ment” genug sein, die Kri­tik und die Kri­ti­ker des Sta­tus Quo zu diskreditieren.

Update: In einem ähn­li­chen Sin­ne, wie wir an die­ser Stel­le wie­der­holt argu­men­tiert haben, äußer­te sich nun auch Uwe Backes:

Wenn der oft in pole­mi­schen Kon­tex­ten gebrauch­ten Wen­dung vom „Extre­mis­mus der Mit­te“ eine gewis­se Berech­ti­gung zuge­spro­chen wer­den kann, so in dem Sin­ne, dass poli­ti­sche Mit­te (man den­ke an die sys­tem­tra­gen­den Strö­mun­gen demo­kra­ti­scher Ver­fas­sungs­staa­ten) und Extre­mis­men (sofern sie nicht als „luna­tic frin­ge“ gänz­lich mar­gi­nal sind) zumeist in einer leben­di­gen Wech­sel­be­zie­hung zuein­an­der ste­hen. Sie zäh­len nach aller Erfah­rung in gewis­ser Wei­se zum „Nor­mal­haus­halt“ offe­ner Gesell­schaf­ten. Das Reüs­sie­ren von Extre­mis­men weist oft auf Schwä­chen und Ver­säum­nis­se der poli­ti­schen Mehr­heits­kul­tur hin. Kri­tik aus extre­mis­ti­scher War­te mag viel­fach über­zo­gen sein, ent­hält mit­un­ter aber auch einen wah­ren Kern. Der Extre­mis­mus ist in man­cher­lei Hin­sicht ein Spie­gel­bild sozia­ler Ent­wick­lun­gen, lässt Rück­schlüs­se auf den Zustand der Mehr­heits­ge­sell­schaft zu. Die Meso­tes­leh­re ver­mit­telt die Ein­sicht, dass die Mit­te etwas von den Extre­men ent­hält. Die­se trei­ben Prin­zi­pi­en auf die Spit­ze, die in tem­pe­rier­ter und balan­cier­ter Form von Nut­zen sind. Vor allem poli­ti­sche Extre­mis­men, die im Rah­men der Lega­li­tät agie­ren, kön­nen – wie in gerin­gen Dosen Heil­wir­kung ent­fal­ten­de Gif­te – auf die­se Wei­se Anstö­ße für Kurs­kor­rek­tu­ren geben, auf ver­nach­läs­sig­te Pro­blem­be­rei­che hin­wei­sen und letzt­lich – neben ihren des­in­te­grie­ren­den Effek­ten – auch inte­gra­ti­ve Wir­kun­gen zei­ti­gen. Die Freun­de des Ver­fas­sungs­staa­tes soll­ten sich daher vor einem manich­äi­schen Kreuz­zugs­den­ken hüten, das unter dem Vor­satz scho­nungs­lo­ser Extre­mis­mus­be­kämp­fung in die Ver­hal­tens­mus­ter des Anti­po­den ver­fie­le. Denn eine Mit­te, die ihre Prin­zi­pi­en bis zur letz­ten Kon­se­quenz trei­ben will, wird selbst extrem.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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