Europa, relativ

pdf der Druckausgabe aus Sezession 26/Oktober 2008

sez_nr_264von Karlheinz Weißmann

Daß irgendwie alles „relativ" ist, gehört zu den Gemeinplätzen öffentlicher Diskussion. Die Behauptung wird kaum in Frage gestellt und als Ausweis moderner, rationaler, aufgeklärter Einstellung angesehen. Mag die Naturwissenschaft objektive Aussagen kennen, außerhalb des von ihr Erfaßten herrscht Relativität, was bedeutet, daß kein Vorrang festgestellt werden kann, sondern alle Phänomene nebeneinander stehen und tendenziell gleichwertig sind. Die Verbreitung dieser Ansicht hat nichts mit ihrer Durchdachtheit zu tun, sondern mit ihrer Kompatibilität: Wenn es keinen Wahrheitsanspruch gibt, den irgendjemand berechtigterweise erheben könnte, dann herrschen „Offenheit", „Toleranz", „Pluralismus", acceptance. Fast jedem, der diese Position vertritt, ist mit wenigen Argumentationsschritten klarzumachen, daß er seiner Behauptung kaum konsequent zu folgen bereit wäre, zumindest nicht in ethischer Hinsicht, aber man muß es sich nicht so leicht machen. Es gibt durchaus ein Feld, auf dem die Vorstellung von allgemeiner Relativität einer gründlichen Erwägung wert ist: die Verschiedenheit der menschlichen Kulturformen.


Der „Kul­tu­rel­le Rela­ti­vis­mus” wird irri­tie­ren­der­wei­se von Anhän­gern ganz ent­ge­gen­ge­setz­ter Welt­an­schau­un­gen ver­tre­ten: von Lin­ken genau­so wie von Rech­ten, von den Ver­tei­di­gern der Aus­ge­sto­ße­nen und Geäch­te­ten wie von revo­lu­tio­nä­ren Natio­na­lis­ten, von den Ver­fech­tern des Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus wie von denen des Eth­no­plu­ra­lis­mus, von der UNO eben­so wie von asia­ti­schen Dik­ta­to­ren, die gegen die Men­schen­rech­te ihre eige­nen „Wer­te” set­zen. Um in die­ser Unüber­sicht­lich­keit eine gewis­se Ord­nung zu schaf­fen, soll­te man der Fra­ge nach­ge­hen, war­um der „Kul­tu­rel­le Rela­ti­vis­mus” über­haupt eine sol­che Bedeu­tung erlan­gen konn­te. Dazu sei auf ein Buch ver­wie­sen, das vor vier­zig Jah­ren zum ers­ten Mal ver­öf­fent­licht wur­de, aber das Pro­blem so gründ­lich behan­delt und klug ana­ly­siert, daß es bis heu­te aktu­ell ist und sei­ne Neu­auf­la­ge nur begrüßt wer­den kann. Es han­delt sich um die 1968 als Habi­li­ta­ti­ons­schrift von der FU Ber­lin ange­nom­me­ne Arbeit Der Kul­tu­rel­le Rela­ti­vis­mus von Wolf­gang Rudolph (For­schun­gen zur Eth­no­lo­gie und Sozi­al­psy­cho­lo­gie, Bd 6, Ber­lin: Dun­cker & Hum­blot 2008. kart, 291 S., 52.00 €).
Gewid­met hat­te Rudolph sei­ne Unter­su­chung Franz Boas (1858–1942), den er als Zen­tral­fi­gur des „Kul­tu­rel­len Rela­ti­vis­mus” behan­delt. Das, obwohl Boas kei­ne Theo­rie im eigent­li­chen Sinn geschaf­fen hat, son­dern sei­ne Grund­an­nah­men in Aus­ein­an­der­set­zung mit jenen Völ­ker­kund­lern und Anthro­po­lo­gen ent­wi­ckel­te, die sich an der Evo­lu­ti­ons­leh­re ori­en­tier­ten. Die­se Schu­le hat­te am Ende des 19. Jahr­hun­derts gro­ßen Ein­fluß auf die ame­ri­ka­ni­sche oder all­ge­mei­ner die angel­säch­si­sche For­schung, was Boas Wider­spruch her­aus­for­der­te, der einer deutsch-jüdi­schen Fami­lie ent­stamm­te, in Deutsch­land stu­diert hat­te und nach­hal­tig von Ideen der Roman­tik und des Idea­lis­mus beein­flußt wur­de. Im Grun­de wan­del­te Boas das Kon­zept des „Volks­geis­tes” ab und ver­knüpf­te es mit einer Art Her­me­neu­tik der Kul­tu­ren, die deren Ganz­heit und deren Eigen­wert von vorn­her­ein aner­ken­nen, aber vor einer rei­nen, letzt­lich frucht­lo­sen, Beschrei­bung des Ande­ren bewah­ren soll­te. In einem Brief an einen Freund umriß Boas sei­ne Vor­stel­lung: „Kei­nem von uns ist es gege­ben sich frei zu machen von dem Bann, in den das Leben ihn geschla­gen. Wir den­ken, füh­len und han­deln getreu der Über­lie­fe­rung, in der wir leben. Das ein­zi­ge Mit­tel uns zu befrei­en ist die Ver­sen­kung in ein neu­es Leben und Ver­ständ­nis für ein Den­ken, ein Füh­len, ein Han­deln, das nicht auf dem Boden unse­rer Zivi­li­sa­ti­on erwach­sen ist, son­dern sei­ne Quel­len in ande­ren Kul­tur­schich­ten hat.”

Es lag nur in der Logik sei­nes Kon­zepts, daß Boas der Annah­me eines unend­li­chen „Fort­schritts” ableh­nend gegen­über­stand. Was dar­aus mit gewis­ser Zwangs­läu­fig­keit folg­te, war die Kri­tik der zeit­ge­nös­si­schen Eth­no­lo­gie und ver­wand­ter Dis­zi­pli­nen, sofern sie sich mit „Wil­den” oder „Halb­zi­vi­li­sier­ten” unter dem Gesichts­punkt beschäf­tig­ten, das die­se auf der Stu­fen­lei­ter der mensch­li­chen Ent­wick­lung (noch) nicht vor­an­ge­kom­men sei­en. Boas Adep­ten wei­te­ten die­se Kri­tik zu einer grund­sätz­li­chen am Kolo­nia­lis­mus und aller Ideen von der Über­le­gen­heit der wei­ßen Kul­tur aus.
Bis in die Zwi­schen­kriegs­zeit gewann der Ansatz von Boas zwar Unter­stüt­zung, aber von all­ge­mei­ner Aner­ken­nung konn­te kei­ne Rede sein. Wie so oft in der Wis­sen­schafts­ge­schich­te kam auch hier dem „Para­dig­men­wech­sel” (Tho­mas S. Kuhn) ein gesell­schaft­li­cher Pro­zeß zu Hil­fe, der mit der Wis­sen­schaft eigent­lich gar nichts zu tun hat­te. Boas ent­fal­te­te jeden­falls in den zwan­zi­ger und drei­ßi­ger Jah­ren – mit­be­dingt durch sei­ne jüdi­sche Her­kunft – eine hef­ti­ge Agi­ta­ti­on nicht nur gegen die NSIdeo­lo­gie, son­dern gegen jede Behaup­tung, daß die Bio­lo­gie für die Anthro­po­lo­gie eine aus­schlag­ge­ben­de Rol­le spie­le. Das brach­te ihm mäch­ti­ge Ver­bün­de­te ein, aber den Enthu­si­as­mus der Öffent­lich­keit weck­ten erst die Bücher sei­ner Schü­le­rin­nen Ruth Bene­dict und Mar­ga­ret Mead, die den Nach­weis zu füh­ren glaub­ten, daß es kei­ne natür­li­chen Unter­schie­de zwi­schen den Men­schen­grup­pen und ‑indi­vi­du­en gebe, daß grund­sätz­lich auch eine ganz ande­re als die euro­päi­sche Form der Zivi­li­sa­ti­on mög­lich sei, die sich noch dazu als fried­li­cher, lust­vol­ler und sozia­ler dar­stel­le. Wer dem­ge­gen­über auf der Anschau­ung beharr­te, daß die Kul­tu­ren schon wegen ras­si­scher Dif­fe­ren­zen und der bio­lo­gi­schen Sei­te der Geschlecht­lich­keit und dann auf­grund von Aus­le­se­pro­zes­sen, die dar­wi­nis­ti­schen Regeln folg­ten, von ver­schie­de­ner Qua­li­tät sei­en, sah sich mit dem Vor­wurf kon­fron­tiert, Auf­fas­sun­gen zu ver­tre­ten, die fak­tisch denen des ideo­lo­gi­schen Haupt­feinds der west­li­chen Welt bezie­hungs­wei­se ihrer ton­an­ge­ben­den Intel­li­genz entsprachen.
Nach des­sen Nie­der­wer­fung stan­den die Kon­zep­te der Boas-Schu­le auf dem Lehr­plan der ame­ri­ka­ni­schen ree­du­ca­ti­on, dien­ten der „Milieu-Theo­rie” als Argu­men­ta­ti­ons­ba­sis und fan­den außer­dem Ein­gang in die UNO-Dok­trin. Das war inso­fern über­ra­schend, als der Kul­tu­rel­le Rela­ti­vis­mus eigent­lich der Annah­me uni­ver­sa­ler Wer­te wider­sprach. Rudolph sah die­sen Man­gel an Logik, schloß sich aber trotz­dem Boas an und ergänz­te des­sen Kon­zept um die Gel­tung jener Pat­terns of Cul­tu­re – Kon­fi­gu­ra­tio­nen, die das Wesen einer Kul­tur aus­ma­chen -, die deren Funk­ti­ons­tüch­tig­keit gewähr­leis­ten. Das ist nicht ganz befrie­di­gend, aber man wird aner­ken­nen müs­sen, daß Rudolphs Par­tei­nah­me aus­drück­lich gegen den „ideo­lo­gisch-emo­tio­na­len ‚Anti-Ras­sis­mus‘” wie den „Anti-Bio­lo­gis­mus” gerich­tet war, der die For­schun­gen von Bene­dict und Mead kenn­zeich­ne­te. Hät­te er schon 1968 wis­sen kön­nen, auf wel­chen Wegen die eben­so ein­fluß­rei­chen wie abwe­gi­gen The­sen der Mead zustan­de kamen, wäre sei­ne Kri­tik an die­sem Punkt sicher noch schär­fer ausgefallen.
Man kann an der Wir­kungs­ge­schich­te der Boas-Schu­le ein­mal mehr erken­nen, wie kom­pli­ziert der Weg der Ideen ver­läuft und wie stark die Umstän­de auf ihre Ent­fal­tung, oder um genau zu sein: die Ent­fal­tung bestimm­ter Aspek­te, Ein­fluß neh­men. Dem Ursprung nach ein kon­ser­va­ti­ves, die Ver­schie­den­heit und Ganz­heit der Kul­tu­ren beto­nen­des Kon­zept, hat der „Kul­tu­rel­le Rela­ti­vis­mus” sich letzt­lich als revo­lu­tio­nä­res, die Uni­for­mie­rung und Glo­ba­li­sie­rung stüt­zen­des Ideo­lo­gem entpuppt.

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