Autorenportrait Helmut Schelsky

pdf der Druckfassung aus Sezession 35 / April 2010

von Rainer Waßner

Ein oder zwei pflichtschuldige Kurzbeiträge – mehr war dem deutschen Feuilleton vor einem Jahr der 25. Todestag des einst wichtigsten, einflußreichsten und populärsten Vertreters der bundesdeutschen Soziologie nicht wert: Helmut Schelsky verstarb am 24. Februar 1984 und ist aus dem öffentlichen Gedächtnis ebenso verschwunden wie anscheinend aus dem seines Faches. Und als die Frankfurter Allgemeine Zeitung im vergangenen Juni das Thema »Ideengeschichte der Bundesrepublik als Konfliktgeschichte« mit dem Etikett »Habermas und …« versah, tauchte Schelskys Name auf einer ganzen Doppelseite Text nicht ein einziges Mal auf. Der infamste »Nachruf« war jedoch beim Deutschen Soziologentag in Jena 2008 zu registrieren, wo sich Studenten nicht entblödeten, Schelskys Wirken als Kontinuität seines studentischen Rechtssozialismus von Anfang der dreißiger Jahre hinzustellen.

Wor­in bestand nun tat­säch­lich sein Leben und Wir­ken? Auf­stieg und Fall die­ses Gelehr­ten fol­gen den geis­ti­gen und poli­ti­schen Umwäl­zun­gen im Deutsch­land nach 1945, deren geschicht­li­che Spur bis in die NS-Zeit zurück­reicht. Schelsky selbst hat aus sei­ner Ver­gan­gen­heit nie ein Hehl gemacht, muß­te nicht »ent­tarnt« wer­den. Aus einer klein­bür­ger­li­chen Fami­lie im Anhal­ti­ni­schen stam­mend – gebo­ren 1912 in Chem­nitz –, ging er nach einem Semes­ter in Königs­berg 1931 zum Stu­di­um der Phi­lo­so­phie, Ger­ma­nis­tik, Geschich­te und Päd­ago­gik nach Leip­zig. In die­se Zeit fal­len Zuge­hö­rig­kei­ten zum NS-Stu­den­ten­bund wie zur SA (Ein­tritt in die NSDAP 1937). Sei­ne aka­de­mi­schen Leh­rer in Leip­zig hie­ßen Hans Frey­er, Arnold Geh­len und Theo­dor Litt. Nach dem Staats­examen pro­mo­vier­te er 1935 über Fich­tes »Natur­recht«, beglei­te­te Geh­len 1938 als des­sen Assis­tent an die Uni­ver­si­tät Königs­berg, wo er sich 1939 mit einer Schrift über Tho­mas Hob­bes für Phi­lo­so­phie und – auf eige­nen Wunsch – Sozio­lo­gie habi­li­tier­te. Merk­wür­di­ger­wei­se hat ihn die neu­ge­grün­de­te Reichs­uni­ver­si­tät Straß­burg, wo nie ein Lehr- oder For­schungs­be­trieb statt­fand, 1943 auf eine Pro­fes­sur für Sozio­lo­gie beru­fen. 1940/41 arbei­te­te Schelsky als Assis­tent Frey­ers in Buda­pest am Deut­schen Kul­tur-Insti­tut, bevor er an die Ost­front ein­ge­zo­gen wur­de. Mehr­fach ver­wun­det (er litt lebens­lang an sei­nen Ver­let­zun­gen) und mehr­fach deko­riert, wegen »Ver­ächt­lich­ma­chung der Par­tei « in Königs­berg noch zu Fes­tungs­haft ver­ur­teilt, erreich­te er in den letz­ten Kriegs­ta­gen Schleswig-Holstein.
In Ham­burg und Karls­ru­he bau­te er anschlie­ßend den Such­dienst des Deut­schen Roten Kreu­zes an ent­schei­den­der Stel­le mit auf. In Karls­ru­he wur­de er 1946/47 publi­zis­tisch für die badi­sche SPD-Zei­tung Volk und Stim­me aktiv, ein Organ, das eine so eigen­stän­di­ge Posi­ti­on ver­trat, daß ihr der SPD-Vor­stand in Han­no­ver bald das Erschei­nen untersagte.
1948 erhielt Schelsky an der neu­ge­grün­de­ten »Aka­de­mie für Gemein­wirt­schaft « in Ham­burg einen Lehr­stuhl für Sozio­lo­gie, auf den er sich auch durch inten­si­ves Selbst­stu­di­um der bis dato unbe­kann­ten angel­säch­si­schen Sozi­al­wis­sen­schaf­ten vor­be­rei­tet hat­te. Von dort aus gelang ihm der Sprung auf ein Ordi­na­ri­at für Sozio­lo­gie der Uni­ver­si­tät Ham­burg 1953, das er bis 1960 inne­hat­te, bevor er an die Uni­ver­si­tät Müns­ter beru­fen wur­de. Damit in Per­so­nal­uni­on ver­bun­den war die Lei­tung der Sozi­al­for­schungs­stel­le Dort­mund (damals die größ­te Sozi­al­for­schungs­stel­le West­eu­ro­pas), wo er bis 1970 mehr Habi­li­ta­tio­nen und Pro­mo­tio­nen in Sozio­lo­gie durch­setz­te als alle ande­ren Lehr­stuhl­in­ha­ber der Bun­des­re­pu­blik zusam­men und damit einen gewal­ti­gen Pro­fes­sio­na­li­sie­rungs­schub des Faches auslöste.

Wen­den wir uns nach die­sem bio­gra­phi­schen Über­blick Schelskys wis­sen­schaft­li­cher Arbeit zu. Schon in sei­nen aka­de­mi­schen Früh­schrif­ten klingt ein Grund­the­ma an: Wie ist unter sich ste­tig ver­än­dern­den his­to­ri­schen Bedin­gun­gen gleich­zei­tig sozia­le Sta­bi­li­tät und Ent­wick­lung mög­lich? In der Hob­bes-Schrift plä­diert Schelsky – ohne jede Anbie­de­rung an den Zeit­geist, der dar­auf Kar­rie­re­prä­mi­en aus­setz­te – für einen sou­ve­rä­nen, kei­nes­falls aber auto­ri­tä­ren Staat, einen Staat, der immer auf dem Wol­len und inne­ren Betei­ligt­sein sei­ner Bür­ger auf­ru­hen müs­se. Sei­ne Funk­ti­on bestün­de dar­in, den Men­schen pro­duk­ti­ve Gestal­tungs­räu­me zu ver­schaf­fen bezie­hungs­wei­se destruk­ti­ve zu ver­ei­teln und ihnen der­ge­stalt Sicher­heit im Zeit­ab­lauf zu garan­tie­ren. Der Mensch als Gat­tungs­we­sen, lau­te­te Schelskys anthro­po­lo­gi­sche Prä­mis­se, sei pri­mär ein pro­vi­so­ri­sches, insta­bi­les, aus kon­kre­ten Inter­es­sen­la­gen her­aus han­deln­des Wesen, nicht den­ken­de Ver­nunft (so setzt er sich vom Idea­lis­mus sei­ner Dis­ser­ta­ti­on ab). Der Staat wie­der­um sei ein Rechts­ver­hält­nis einer ganz rea­len Lebens­ge­mein­schaft, kein (wie bei Hegel) unan­fecht­ba­rer »objek­ti­ver Geist«. Schelsky wag­te es, die Schrift 1981 mit einem neu­en Vor­wort her­aus­zu­brin­gen. Eine Hom­mage an Carl Schmitt wur­de ihm dabei übel­ge­nom­men, noch übler die Wei­ge­rung, sei­ne poli­ti­sche Jugend­be­geis­te­rung klein­zu­re­den. Geflis­sent­lich wur­den dafür Pas­sa­gen über­le­sen, in denen Schelsky bekann­te, heu­te wür­de er einen Anti-Hob­bes schrei­ben, in Rich­tung eines Ver­trags­staa­tes mit garan­tier­ten Rechts­ver­än­de­rungs­we­gen – die lega­lis­ti­sche Auf­fas­sung jedes Liberalen.
Sei­ne Nach­kriegs­pu­bli­zis­tik in der Par­tei­pres­se der SPD, so spo­ra­disch und tas­tend die Bei­trä­ge auch sein mögen, stand durch­aus im Zusam­men­hang mit die­sen Gedan­ken­gän­gen, indem sie nach Wegen und Mög­lich­kei­ten eines gesell­schaft­li­chen Neu­be­ginns Aus­schau hielt. Aber wie sah die kon­kre­te Gesell­schaft West­deutsch­lands aus, von wel­chen Ten­den­zen, Kräf­ten und Span­nun­gen war sie bewegt? Als Ant­wort auf die­se Fra­ge ent­stan­den in den Ham­bur­ger und Müns­te­ra­ner Jah­ren in schnel­ler Fol­ge Schelskys breit ange­leg­te Unter­su­chun­gen zu prak­tisch allen rele­van­ten The­men der Nach­kriegs­zeit: Jugend und Fami­lie, Bil­dung und Berufs­bil­dung, zur Ein­glie­de­rung der Ver­trie­be­nen, zur Sexua­li­tät und zur Uni­ver­si­täts­ge­schich­te, zur Auto­ma­ti­sie­rung, zu Frei­zeit und Alter, zur sozia­len Schich­tung der Bun­des­re­pu­blik, zu Reli­gi­on und Kir­che, zum Gesund­heits­we­sen. Schelsky zeig­te dabei ein sel­te­nes Talent, kom­ple­xe Pro­ble­me so auf einen Buch­ti­tel zu brin­gen, daß sie schnell und dau­er­haft ins öffent­li­che Bewußt­sein dran­gen. Bei­spie­le dafür sind Die skep­ti­sche Gene­ra­ti­on (1957), Die nivel­lier­te Mit­tel­stands­ge­sell­schaft (1961), Ein­sam­keit und Frei­heit (1963), Auf der Suche nach Wirk­lich­keit (Eine Auf­satz­samm­lung, 1965), Berech­ti­gung und Anma­ßung in der Mana­ger­herr­schaft und ande­re mehr. Auch die Auf­la­ge­zah­len waren erstaun­lich hoch – von den zahl­rei­chen Über­set­zun­gen ganz zu schweigen.
In heu­te kaum mehr vor­stell­ba­rem Maße wirk­te Schelsky mit die­sen Publi­ka­tio­nen und mit sei­nen Vor­trä­gen, als Her­aus­ge­ber wis­sen­schaft­li­cher Rei­hen und Jahr­bü­cher und mit sei­ner Mit­ar­beit in Gre­mi­en, Ämtern, Stif­tun­gen, und, nicht zu ver­ges­sen, durch sei­ne Exami­n­an­den in das öffent­li­che Leben der Repu­blik hin­ein. Par­tei­en, Ver­bän­de, die Sozi­al­ver­si­che­rung, die Wirt­schaft, selbst Regie­rungs­krei­se zogen ihn zu Rate. In den Sozi­al­wis­sen­schaf­ten selbst blie­ben sei­ne The­sen Dis­kus­si­ons­the­ma, doch war er nie unum­strit­ten; gele­gent­lich wur­den ihm gar Links­las­tig­keit und Moder­nis­mus vor­ge­wor­fen, bezei­chen­der­wei­se ist er nie zum Fakul­täts­de­kan ernannt worden.

1970 wech­sel­te Schelsky an die neu­ge­grün­de­te Uni­ver­si­tät Bie­le­feld, die er auf Wunsch des christ­de­mo­kra­ti­schen Kul­tus­mi­nis­ters Paul Mikat mit instal­liert hat­te und wo er eine eige­ne Fakul­tät für Sozio­lo­gie durch­setz­te, nicht ahnend, daß sich nun­mehr sein Höhen­flug in einen Sturz ver­wan­deln wür­de. Es begann mit Quer­schüs­sen aus dem katho­li­schen Pader­born, das sich bei der Uni­ver­si­täts­grün­dung über­gan­gen fühl­te und ende­te mit dem Boy­kott sei­ner Fakul­täts­kol­le­gen: »Alle wesent­li­chen Ent­schei­dun­gen wur­den schließ­lich ohne Schelsky getrof­fen. Dazu kamen die zahl­lo­sen Unge­hö­rig­kei­ten des Betra­gens …« (Niklas Luh­mann) Im Kli­ma des kul­tur­re­vo­lu­tio­nä­ren Auf­räu­mens an den Uni­ver­si­tä­ten begann man, in Schelskys Bio­gra­phie her­um­zu­sto­chern. Ein Vier­tel­jahr­hun­dert Arbeit zähl­te nicht mehr.
Ver­bit­tert zog sich Schelsky 1973 wie­der nach Müns­ter zurück, wo er auf einem Lehr­stuhl für Rechts­so­zio­lo­gie über­dau­ern durf­te. Was schon in sei­ner gro­ßen Pole­mik Die Arbeit tun die ande­ren (1975) spür­bar gewor­den war, ver­schärf­te sich zuneh­mend zur Posi­ti­on des »Anti-Sozio­lo­gen«, der mit sei­nen glän­zend geschrie­be­nen Büchern ganz ande­re Erfol­ge hat­te als die Sozio­lo­gen mit ihrer inzwi­schen for­mel­haft ver­krus­te­ten Geheimsprache.
Zwei Grund­kon­flik­te kamen hier zum Aus­trag. Der ers­te Dis­sens bezog sich auf die Betrach­tung und Bewer­tung des his­to­risch Gewor­de­nen, der Über­lie­fe­run­gen, und das waren für Schelsky immer die ganz kon­kre­ten Insti­tu­tio­nen der Bun­des­re­pu­blik. Zum einen die pri­mä­ren wie Fami­lie, Ver­wandt­schaft, Freund­schaft, Nach­bar­schaft; dann die sekun­dä­ren, die gro­ßen: die sozia­le Markt­wirt­schaft, der Rechts­staat, das Bil­dungs­sys­tem, die Kir­chen, der Par­la­men­ta­ris­mus etc. In ihnen sah Schelsky eine Erfah­rungs­weis­heit ange­sam­melt, die einer nor­ma­len Gesell­schaft mit gewöhn­li­chen Men­schen genü­gend Spiel­räu­me der per­sön­li­chen Ent­fal­tung, der gemein­schaft­li­chen Pro­blem­er­ken­nung und –lösung und der Wei­ter­ent­wick­lung ließ und von daher ein schüt­zens- und erhal­tens­wer­tes Gut waren. Dar­in war Schelsky sicher kon­ser­va­tiv. Sei­ne Geg­ner hin­ge­gen gin­gen von der Uto­pie einer idea­len, per­fek­ten Gestal­tung sozia­ler Bezie­hun­gen und Ver­hält­nis­se (das heißt säku­la­ri­sier­te Zie­le reli­giö­ser Heils­leh­ren), aus, die sie sich am grü­nen Tisch, ange­führt von intel­lek­tu­el­len Füh­rern aus­ge­klü­gelt hat­ten. Die immer not­wen­dig ein­tre­ten­den Neben­fol­gen eines dazu die Macht- und Lebens­ver­hält­nis­se radi­kal ver­än­dern­den Han­delns wur­den nicht mit­be­dacht, waren sowie­so vor­her nicht abzu­schät­zen, beson­ders nicht die Rol­le der Gewalt. Schelsky trenn­te von den Links­in­tel­lek­tu­el­len der Gegen­satz, den Max Weber als den von Ver­ant­wor­tungs- und Gesin­nungs­ethik defi­niert hat­te: die einen ver­such­ten, in über­schau­ba­ren Hand­lungs­ab­läu­fen Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men, die ande­ren for­der­ten ver­bal Umge­stal­tung um jeden Preis, ohne dafür den Kopf hin­hal­ten zu müssen.

Die hef­tigs­te Ankla­ge erhob Schelsky zwei­fel­los in sei­nem Buch Die Arbeit tun die ande­ren. Schon der Reiz­ti­tel pro­vo­zier­te, erst recht lös­ten die dar­in ver­tre­te­nen The­sen Auf­re­gung und Empö­rung bei den Ange­grif­fe­nen aus. Schelsky spar­te nicht mit Bei­spie­len: Aug­stein, Brandt, Mit­scher­lich und Böll sind als »Kar­di­nä­le und Mär­ty­rer«, also mit Aus­drü­cken aus der Kir­chen­hier­ar­chie ein­ge­ord­net. Libe­ra­le und sogar Sozi­al­de­mo­kra­ten distan­zier­ten sich eif­rig. Deren Wut läßt aller­dings ver­mu­ten, daß man sich ertappt fühlte.
Schelskys Kri­tik des links­in­tel­lek­tu­el­len Milieus ziel­te dar­auf, daß die­ses nicht nur Geschich­te, Zustän­de, Per­so­nen, Insti­tu­tio­nen der Bun­des­re­pu­blik zu demon­tie­ren und die Poli­ti­sie­rung aller Lebens­be­rei­che zu errei­chen such­te, was schon bedenk­lich genug war. Es ging auch um die poli­ti­sche und wirt­schaft­li­che Eta­blie­rung einer neu ent­stan­de­nen sozia­len Klas­se, der »Refle­xi­ons­eli­te«, auf Kos­ten der­je­ni­gen, die sie zu ver­tre­ten vor­ga­ben, der Werk­tä­ti­gen. Schelsky cha­rak­te­ri­sier­te die lin­ke Intel­li­genz nicht als eine sozia­le oder poli­ti­sche Inter­es­sen­grup­pe unter ande­ren, son­dern als einen mit Herr­schafts­an­spruch auf­tre­ten­den neu­en Kle­rus (»Pries­ter­herr­schaft«), der sich anschick­te, das Bewußt­sein der abhän­gig arbei­ten­den Bevöl­ke­rungs­schich­ten zu mani­pu­lie­ren, ihnen vor­zu­gau­keln, es lie­ße sich eine Gesell­schaft pla­nen, auf­bau­en und kon­trol­lie­ren, die sozia­le Har­mo­nie bei einem Maxi­mum von Selbst­ver­wirk­li­chung, Gerech­tig­keit und Frei­heit her­stel­le. Die­se mit gera­de­zu pro­phe­ti­scher Anma­ßung und Bes­ser­wis­se­rei vor­ge­tra­ge­ne Ver­kün­di­gung klei­de sich in sozi­al­re­li­giö­se Ver­hei­ßun­gen der Befrei­ung vom Leis­tungs­druck, einer Herr­schaft der Ratio­na­li­tät und einer all­um­fas­sen­den Mit­wir­kung am gesell­schaft­li­chen Pro­zeß. In Rea­li­tät über­führt wer­den sol­le die ver­schlei­er­te Macht­über­nah­me durch eine per­ma­nen­te »Beleh­rung« in allen Bil­dungs­ein­rich­tun­gen und Mas­sen­me­di­en, die natür­lich »Auto­no­mie« für sich ver­lan­gen würden.
Schelsky ging noch einen Schritt wei­ter. Über ein Netz von »Funk­ti­ons­mo­no­po­len der Sinn­pro­du­zen­ten« soll­ten schließ­lich auch Staat und Wirt­schaft gesteu­ert wer­den, ver­gleich­bar der Situa­ti­on im Mit­tel­al­ter mit sei­ner Deu­tungs­ho­heit der kirch­li­chen Theo­lo­gen. Die Aktio­nen der selbst­er­nann­ten Auf­klä­rer – so schließt das Buch – wären im Lich­te der wah­ren Auf­klä­rung betrach­tet Reak­ti­on und Rück­schritt. Am Ende stün­de ein neu­er Typus von Unter­tan: »der betreu­te Mensch«. Auf der Stre­cke blie­be die abend­län­di­sche Idee der frei­en Per­son – hier brach das Frei­heits­pa­thos sei­ner idea­lis­ti­schen Stu­di­en wie­der durch.
Viel­leicht darf man Schelsky mit jenen Atta­cken sogar einen gewis­sen Ein­fluß auf die kon­ser­va­tiv-libe­ra­le Wen­de der acht­zi­ger Jah­re zuspre­chen, deren Beginn er noch erleb­te. Im Jahr 1978 in Müns­ter eme­ri­tiert, fand er mit sei­ner Fami­lie im öster­rei­chi­schen Bur­gen­land eine Alters­hei­mat. In Wien war er Gast­pro­fes­sor, die Uni­ver­si­tät Graz mach­te ihn zum Hono­rar­pro­fes­sor. Hel­mut Schelsky starb 1984. Er fand in dem klei­nen Ort Stadt­sch­lai­ning sei­ne letz­te Ruhestätte.
Stellt sich zuletzt noch die Fra­ge, was von Schelskys Werk und Leis­tung bleibt, wenn man sie nicht nur his­to­risch, als ele­men­ta­ren Bestand­teil der Geis­tes­ge­schich­te der alten Bun­des­re­pu­blik wür­di­gen will? Sei­ne heu­te noch lesens­wer­ten Ana­ly­sen kön­nen nicht ein­fach über­nom­men wer­den, zu sehr sind sie an die Kon­stel­la­tio­nen der Nach­kriegs- und Auf­bau­zeit gebun­den. Das Licht der gro­ßen Kul­tur­pro­ble­me ist wei­ter­ge­zo­gen, um mit Max Weber zu spre­chen. Die Struk­tu­ren und Pro­ble­me des heu­ti­gen Deutsch­land nach innen und außen sind gänz­lich anders gela­gert, auch gegen­über der Situa­ti­on unmit­tel­bar nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung. Mir erscheint der Sozio­lo­ge und homo poli­ti­cus Hel­mut Schelsky heu­te in drei­en sei­ner For­schungs­rich­tun­gen gründ­li­cher Besin­nung wert, die eng mit­ein­an­der zusam­men­hän­gen: in der Fra­ge nach der gesell­schaft­li­chen Sta­bi­li­tät in einer glo­ba­li­sier­ten Welt, in einer ideo­lo­gie­kri­ti­schen Hal­tung zur Intel­li­genz und in einer ent­ta­bui­sier­ten, scho­nungs­lo­sen Ana­ly­se der sozia­len Wirk­lich­keit, sämt­lichst Auf­ga­ben, die die gegen­wär­ti­ge aka­de­mi­sche Sozio­lo­gie nicht wahrnimmt.

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