Die Maßregel der Gleichberechtigung – Von der grauen Masse zur Vielfaltsmasse

pdf der Druckfassung aus Sezession 24/Juni 2008

sez_nr_243von Frank Böckelmann

„Masse" ist ein suggestiver Begriff. An ihm haftet der Eindruck von Dichte, Schwere und Menge. In den Gesellschaftslehren des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts, aber auch in unzähligen Romanen, wird die entfesselte „Masse" als das bedrohliche Signum der Epoche beschworen. Sie markiert den äußersten Gegensatz zu „Individualität" und „Autonomie" - deren Ende.

Heu­te jedoch för­dern Wirt­schaft, Medi­en und Insti­tu­tio­nen mit ver­ein­ten Kräf­ten die Selbst­be­stim­mung der ein­zel­nen als die Ulti­ma ratio der sozia­len Ent­wick­lung. Was kann, von Armut und Teue­rung abge­se­hen, die Frau­en und Män­ner in ihrem Drang nach eigen­wil­li­ger Lebens­ge­stal­tung noch auf­hal­ten? Offen­sicht­lich ist damit das Mas­sen­zeit­al­ter been­det. Oder etwa nicht?

Die der „Mas­se” zuge­spro­che­nen Eigen­schaf­ten haben sich in gut zwei­hun­dert Jah­ren kaum ver­än­dert. In Abgren­zung gegen­über dem „Volk” und der „Nati­on” einer­seits und der „Eli­te” ande­rer­seits gerät in den Jahr­zehn­ten nach der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on die „Mas­se” zum Inbe­griff amor­pher Kol­lek­ti­vi­tät. Der Bür­ger bean­sprucht für sich den Part des frei­en, selbst­ge­wis­sen Sub­jekts. Sein Schreck­bild ist die unkon­trol­lier­ba­re Men­schen­an­samm­lung. Da pfer­chen sich zufäl­lig anwe­sen­de Per­so­nen unter­schied­li­chen Stan­des zu einem Hau­fen mit eige­ner „Mas­sen­see­le” zusam­men. Ohne sich zu ver­stän­di­gen, fol­gen die Ver­zück­ten der Eigen­dy­na­mik des Zuges, einem unbe­wußt her­auf­däm­mern­den Ziel ent­ge­gen. Durch das Gewehr­feu­er der Ord­nungs­kräf­te wer­den sie oft­mals in Panik ver­setzt – so plötz­lich die Mas­se ent­steht, so plötz­lich zer­fällt sie -, oft­mals aber zu rasen­der Angriffs­wut gereizt. „Der ein­zel­ne ist nicht mehr er selbst, er ist ein Auto­mat gewor­den, des­sen Betrieb sein Wil­le nicht mehr in der Gewalt hat”, schreibt Gust­ave Le Bon in sei­ner grund­le­gen­den Psy­cho­lo­gie der Massen. Die spon­ta­ne Zusam­men­rot­tung läßt sich auch insze­nie­ren; der Draht­zie­her muß nur die Schlüs­sel­rei­ze ken­nen. Was die Mit­glie­der der bür­ger­li­chen Gesell­schaft, Arbei­ter ein­ge­schlos­sen, sich müh­sam erwor­ben haben, im Mas­sen­auf­lauf geht es ver­lo­ren: Iden­ti­tät, Per­sön­lich­keit, sozia­le Distanz, Sta­tus, Wohl­ver­hal­ten, Ich-Gren­zen und Selbst­kon­trol­le, selbst die Furcht vor dem Namenlosen.

Auf­ge­hen in einem „mons­trö­sen Raub­tier” (Gabri­el Tar­de) und von ihm hin­weg­ge­ris­sen werden…

Eli­as Canet­ti betrach­tet sowohl in sei­ner Auto­bio­gra­phie als auch in sei­nem essay­is­ti­schen Haupt­werk Mas­se und Macht (1960) die „Mas­se” nicht nur kul­tur­kri­tisch von außen, son­dern auch teil­neh­mend von innen. Er beschreibt, was das Indi­vi­du­um ver­lockt, von der Mas­se auf­ge­so­gen zu wer­den: den Rausch der Erwei­te­rung des Ichs zur viel­köp­fi­gen Eksta­se, die „Erfah­rung dröh­nen­der Selbst­lo­sig­keit” in einer Welt der „Selbst­sucht”. Für den Kon­troll­ver­lust ent­schä­digt das Erleb­nis der Ver­schmel­zung mit den ande­ren. Der Ver­zicht auf Selbst­schutz, das Gleich­wer­den, berei­tet unge­ahn­te Lust. „In der Ent­la­dung wer­den die Tren­nun­gen abge­wor­fen und alle füh­len sich gleich.”

Bevor man hier gewohn­heits­mä­ßig die Regres­si­on der hart an sei­ner Erhal­tung arbei­ten­den Per­sön­lich­keit auf früh­kind­li­che und vor­ge­burt­li­che Ent­wick­lungs­pha­sen fest­stellt, möge man beden­ken, daß die Mas­se kei­ne Mut­ter ist. Das indi­vi­dua­li­sier­te Men­schen­we­sen sehnt sich nicht nur nach Rück­kehr in früh- und vor­kind­li­che Gebor­gen­heit, son­dern auch nach Ver­ge­mein­schaf­tung, einem Zustand, in dem die Berüh­rungs- und Todes­furcht durch die Gewiß­heit, Glied eines umfas­sen­den Wesens in ziel­si­che­rer Bewe­gung zu sein, auf­ge­löst und in ande­re, trans­per­so­na­le Bedräng­nis ein­ver­wan­delt wird.

Die meis­ten Mas­sen-Theo­re­ti­ker, unter ihnen Le Bon und Canet­ti, hat­ten aus­schließ­lich den an einem bestimm­ten Ort ent­ste­hen­den Mas­sen­auf­lauf im Blick. Aber bereits Ende des 19. Jahr­hun­derts ver­wies Gabri­el Tar­de auf die Spiel­art einer „ver­streu­ten Mas­se”, in der sich „phy­sisch getrenn­te Indi­vi­du­en” über gro­ße Ent­fer­nun­gen hin­weg gegen­sei­tig geis­tig beein­flus­sen, ein „rein spi­ri­tu­el­les Kol­lek­tiv”, das sei­nen Zusam­men­halt über men­ta­le Gleich­heit her­stellt. Tar­de dach­te an die Mei­nungs­bil­dung inner­halb der Leser­schaf­ten bestimm­ter Zei­tun­gen und Zeitschriften.

Orte­ga y Gas­set schließ­lich schil­der­te in sei­nem Haupt­werk Der Auf­stand der Mas­sen (1930) das „Mas­se-Sein” der Indi­vi­du­en unab­hän­gig vom Bal­lungs­er­eig­nis an bestimm­ten Orten und von der Zuge­hö­rig­keit zu einem bestimm­ten Publi­kum. Wie Hen­drik de Man beklag­te er den bar­ba­ri­schen Herr­schafts­an­spruch der all­zu vie­len, die skla­visch und sinn­ver­ges­sen in die Kon­sum­tem­pel und Urlaubs­pa­ra­die­se trot­ten und sich nur im Göt­zen­dienst an Ido­len der gro­ßen Mehr­heit auf­ge­ho­ben fühlen.

An der klas­si­schen Pola­ri­sie­rung von auto­no­mem Indi­vi­du­um und bewußt­lo­sen Mas­sen änder­te dies wenig. Die Mas­sen­men­schen tru­gen die glei­chen Zei­chen der Ent­per­sön­li­chung und des Frei­heits­ver­lusts wie der gesetz­lo­se Pöpel bei Gust­ave Le Bon. „Mas­se” reprä­sen­tier­te wei­ter­hin ein her­un­ter­ge­kom­me­nes und getrie­be­nes Dasein, nun eben die Abhän­gig­keit und Gleich­för­mig­keit als Dauerzustand.

Heu­te hin­ge­gen scheint der Gefahr einer dump­fen Uni­for­mi­tät der Boden ent­zo­gen. Zeit­dia­gnos­ti­ker wägen bereits die Risi­ken extre­mer Indi­vi­dua­li­sie­rung ab.

Das Schlag­wort der Indi­vi­dua­li­sie­rung begüns­tigt indes­sen eine weit­ver­brei­te­te Selbst­täu­schung. Die ein­zel­nen haben ihre Selb­stän­dig­keit näm­lich nicht erkämpft. Sie wur­den frei­ge­setzt oder aus­ge­setzt, im sel­ben Maß, in dem über­kom­me­ne Nor­men­ge­fü­ge und Bin­dun­gen zer­fie­len: die Loya­li­tät gegen­über Nati­on, Fami­lie und Klas­se, die pro­tes­tan­ti­sche Ethik, das lands­mann­schaft­li­che Wir-Gefühl, die reli­giö­se Offen­ba­rung und die frag­lo­se Selbst­ver­pflich­tung von Männ­lich­keit und Weiblichkeit.

Die Frei­ge­setz­ten kom­men suchend und fin­dend, arbei­tend, kon­su­mie­rend, rei­send, fern­se­hend und „sur­fend” viel her­um. Sie impro­vi­sie­ren vor­läu­fi­ge, flüch­ti­ge Selbst­bil­der, mit­tels Gene­ra­tio­nen­be­zug und stil­bil­den­der Medi­en­nut­zung. Das, was sie sind, glau­ben sie durch Wahl­ak­te (Lebens­stil, Kar­rie­re, Mobi­li­tät) selbst geschaf­fen zu haben. Der oder die ein­zel­ne geht in Selbst­sor­ge auf, auch als „Part­ner” oder Haupt einer Klein­fa­mi­lie. Er sieht in sich das Poten­ti­al einer ein­ma­li­gen Indi­vi­dua­li­tät, die es zu wah­ren gilt, so wie, im gro­ßen Maß­stab, die „plu­ra­lis­ti­sche Gesell­schaft”, die sich einer his­to­risch unver­gleich­li­chen Viel­falt von Lebens­wei­sen rühmt.

Zugleich jedoch schmä­lert die fort­schrei­ten­de Auf- und Aus­glie­de­rung gesell­schaft­li­cher Funk­tio­nen den indi­vi­du­el­len Bewe­gungs­spiel­raum. Täg­lich von einer Rol­le zu vie­len ande­ren wech­selnd (kon­tak­tie­rend, job­bend, vor­beu­gend, nut­zend) und sie müh­sam auf die Rei­he brin­gend, erlebt sich der ein­zel­ne als unaus­ge­wo­gen, ja in stän­di­ger Frag­men­tie­rung. Ins­be­son­de­re in sei­ner Berufs­welt ent­eig­nen ihn Hier­ar­chien, Ablauf­pla­nung und Einstufungssysteme.

Sei­ne Opti­ons­per­sön­lich­keit drängt nach Wei­ter­ent­wick­lung, wird aber immer wie­der miß­ach­tet und hofft auf das Schei­tern der ande­ren Hoff­nungs­trä­ger, der mög­li­chen Riva­len. Sie fühlt sich zurück­ge­wie­sen. Die ent­fes­sel­te Lebens­welt ver­spricht weit­aus mehr. Ande­re Arten der Genug­tu­ung, wie sie der ein­ge­bun­de­ne Mensch besaß, erfährt der Ver­ein­zel­te nicht. So über­wäl­tigt ihn das Gefühl der Benach­tei­li­gung. Jeder ein­zel­ne erfährt die Dis­kri­mi­nie­rung mei­ner Art zu leben und die Pri­vi­le­gie­rung von Per­so­nen mit bestimm­ten ande­ren Merk­ma­len. Unver­meid­lich beruft er sich auf das Prin­zip der Gleich­heit, zu ver­wirk­li­chen durch gerech­te Umver­tei­lung. Wie anders sol­len sich die vie­len ver­schie­de­nen Ansprü­che behaup­ten kön­nen? Daher wird nun über­all die unglei­che Ver­tei­lung von Mitteln

und Chan­cen als Gefahr für die Viel­falt ange­pran­gert. Wir sind selbst­be­wuß­te Indi­vi­du­en, heißt es in jeder Geschlech­ter- und Min­der­hei­ten­de­bat­te, aber um sie zu blei­ben, benö­ti­gen wir Chancengleichheit.
Die deut­sche Sozial‑, Bil­dungs- und Finanz­po­li­tik erschöpft sich in Ver­tei­lungs­kämp­fen. Sie ist die Exe­ku­ti­ve einer Gleich­stel­lungs­lo­gik, die zir­kel­schlüs­sig arbei­tet und kei­ne ande­re Auf­fas­sung von Gerech­tig­keit dul­det als die der Ver­gleichs­rech­nung. In zwang­haf­ter Aus­drucks­ar­mut und Wie­der­ho­lung steu­ert sie das vor­ent­schie­de­ne Ergeb­nis an: Was glei­che Anrech­te for­dert, indem es dar­auf pocht, genau­so anders wie die ande­ren zu sein, soll end­lich auch buch­hal­te­risch und in der Nomen­kla­tu­ra ange­gli­chen werden.

Das Pos­tu­lat der Gleich­stel­lung von Män­nern und Frau­en ist seit Jahr­zehn­ten ein regie­rungs­amt­li­cher Gemein­platz. Gegen­wär­tig befin­den wir uns im „Auf­hol­pro­zeß”. Auf der euro­päi­schen Agen­da steht die posi­ti­ve Dis­kri­mi­nie­rung der Frau­en. Deren Erwerbs­quo­te ist zu erhö­hen, das Top-Manage­ment bio­lo­gisch aus­zu­ba­lan­cie­ren, das weib­li­che Selbst­bild von männ­li­chen Erwar­tun­gen zu säu­bern, der „gleich­stel­lungs­po­li­ti­sche Durch­bruch” im zu Hoch­schul­be­reich erzie­len. Dies alles legi­ti­miert sich wie von selbst. Nur noch sel­ten kommt der Leit­ge­dan­ke zu Ehren: man müs­se den Ver­än­de­rungs­druck in jenen Sphä­ren erhö­hen, „in denen es um die grund­le­gen­den Res­sour­cen – näm­lich Geld und Macht – für eine selbst­be­stimm­te Lebens­ge­stal­tung geht”.
In unzäh­li­gen Grup­pen und Insti­tu­tio­nen wer­den die Frau­en- und Män­ner­quo­ten erho­ben. Die Lage der deut­schen Frau­en wird aus­schließ­lich per Geschlech­ter­ver­gleich ermit­telt; für sich selbst scheint die Frau ein Nichts zu sein. Tre­ten die Män­ner einen Punkt ab, rücken die Frau­en einen vor. Deren Selbst­ver­wirk­li­chung kann offen­bar aus­schließ­lich in der Berufs­tä­tig­keit ein­set­zen. Fami­li­en­haf­tung kann im Ran­king sogar Minus­punk­te ein­brin­gen. Kon­se­quen­ter­wei­se trai­nie­ren sich die Spit­zen­platz­an­wär­te­rin­nen im Wochen­end­se­mi­nar ihre Gewis­sens­bis­se ab.
Umge­kehrt kön­nen wir fra­gen, war­um Män­ner den Frau­en Füh­rungs­po­si­tio­nen vor­ent­hal­ten, wenn sie auf ihrer Eigen­art, Männ­lich­keit, nicht mehr behar­ren. Ver-glei­chen ist das Übel, das es besei­ti­gen soll. Doch unser Unbe­ha­gen kommt zu spät. Nach glei­chem Maß ver­glei­chen las­sen sich Frau­en­ar­beit und Män­ner­ar­beit über­haupt nur des­halb, weil die indus­tri­el­le Öko­no­mie die auto­no­me Lebens­sphä­re der Frau­en und die der Män­ner seit lan­gem abge­schafft hat.
Eini­ge Jah­re lang schien es, der Femi­nis­mus beru­fe sich auf ein „weib­li­ches” Den­ken, Spre­chen und Füh­len. Doch wenn Män­ner heu­te die Gechlech­ter­kar­te zie­hen, berei­ten ihnen die Funk­tio­nä­rin­nen eine bit­te­re Ent­täu­schung. „Sie akzep­tie­ren ein­fach nicht, daß Männ­lich­keit heu­te eben auch von Frau­en gelebt wird”, fer­tig­te Jut­ta All­men­din­ger, die Prä­si­den­tin des Wis­sen­schafts­zen­trums Ber­lin, unlängst den Medi­en­phi­lo­so­phen Nor­bert Bolz ab, als die­ser mutig frag­te: „Wo bleibt die Männ­lich­keit?” Den­noch irr­te Jut­ta All­men­din­ger, denn wenn es kei­ne Weib­lich­keit mehr gibt, was wäre dann die Männ­lich­keit? Im Bereich der sexu­el­len Null­sum­men­spie­le ist der Platz des Phal­lus längst neu­tra­li­siert. Eigent­lich erüb­rigt sich damit die For­de­rung nach „Geschlech­ter­de­mo­kra­tie”. Nichts ändert sich, wenn die Lohn­ar­beit der Män­ner nun hälf­tig von Man­ne­quins, den „Männ­chen”, über­nom­men wird.

„Gerech­tig­keit” und „Demo­kra­tie” sind anma­ßen­de Losun­gen für die All­macht nume­ri­scher Ega­li­tät. Das Nach­se­hen hat jeden­falls der nicht quan­ti­fi­zier­ba­re Bereich – Fami­lie, Kin­der, geis­ti­ges Erbe, das, wor­an Lie­be hängt. Unter dem Titel der „Ver­ein­bar­keit” wird er der Berufs­tä­tig­keit unter­ge­ord­net. Für die Rest­pro­ble­me soll eine wei­te­re Gleich­heits­for­de­rung sor­gen (die nach ega­li­tä­rer Betei­li­gung der Män­ner an Haus- und Fami­li­en­ar­beit) sowie die Kin­der­be­treu­ung in Tages­stät­ten. Die unver­meid­li­chen Kon­flik­te stär­ken das Vor­recht des Gleich­stell­ba­ren. Kon­kre­te Eman­zi­pa­ti­on defi­niert sich nun unüber­biet­bar schlicht: nach oben zu kom­men und gut zu ver­die­nen. Die Män­ner sind still­schwei­gend ein­ge­schlos­sen. Zwei Drit­tel der Deut­schen glau­ben, Kar­rie­re nur ohne Kin­der machen zu kön­nen. Wir haben es ja ver­sucht, lau­tet das Ali­bi, aber es hat sich gezeigt, daß kin­der­lo­se Auf­stei­ge­rin­nen höhe­re Ren­ten­an­sprü­che erwirt­schaf­ten als Mehr­fach­müt­ter und über­dies im Schei­dungs­fall bes­ser daste­hen. Kurz­um, die Gleich­heit der Geschlech­ter hat mit dem Geschlecht nichts zu tun.
Ent­spre­chen­des läßt sich auch von den Min­der­hei­ten sagen. Es ist eine schon bejahr­te Erkennt­nis, daß wir in einer „Mul­ti-Mino­ri­tä­ten-Gesell­schaft” leben. Wer gehört nicht jeweils meh­re­ren Min­der­hei­ten an? Lebens­klug ist es, sich zu die­ser oder jener zu beken­nen. Aber Vor­sicht. Auch hier gab es Geran­gel, und was nicht gleich­heits­taug­lich war, wur­de der Spra­che beraubt. Als Min­der­hei­ten akkre­di­tiert sind die Trä­ger jener Merk­ma­le, die das All­ge­mei­ne Gleich­be­hand­lungs­ge­setz (AGG) im Erwerbs­le­ben und in des­sen sozia­lem Umfeld zu dis­kri­mi­nie­ren ver­bie­tet: „Ras­se” (man beach­te die Anfüh­rungs­zei­chen – hier wird unter­sagt, einer Fik­ti­on zu erlie­gen), eth­ni­sche Her­kunft, Geschlecht, Reli­gi­on, Welt­an­schau­ung, Behin­de­rung, Alter und sexu­el­le Iden­ti­tät. Das Stich­wort ist „Iden­ti­tät”. Der ein­zel­ne muß aus sei­nem Merk­mal­s­en­sem­ble ein bestimm­tes her­aus­grei­fen und für die­ses optie­ren, selbst­re­dend für ein akkre­di­tier­tes. Wie schon das öffent­li­che Benen­nen des Merk­mals ist das Outen, Ein­grup­pie­ren und Ein­kla­gen ein Vehi­kel der wirt­schaft­li­chen Gleichbehandlung.
Wer selbst dis­kri­mi­niert bzw. glaubt, es zu tun, ver­strickt sich übri­gens in das glei­che Iden­ti­täts­pro­blem. War­um hat er der Schwarz­afri­ka­ne­rin den Arbeits­platz oder die Woh­nung ver­wei­gert? Wegen der Haut­far­be oder des­we­gen, weil die Bewer­be­rin nicht attrak­tiv genug und/oder nicht gebil­det genug war und/oder geis­tes­ab­we­send vor sich hin­mur­mel­te? Die Zuord­nungs­mi­se­re resul­tiert letzt­lich dar­aus, daß von selbst­ge­wis­sen Mehr­hei­ten kei­ne Rede mehr sein kann und an ihre Stel­le die Öko­no­mie der Selbst­ver­mark­tung getre­ten ist. Die­se Öko­no­mie ist zum Dis­kri­mi­nie­ren grund­sätz­lich unfä­hig. Sie son­dert nur jene aus, die dis­kri­mi­nie­ren, und jene, denen man es unterstellt.

In dem Bestre­ben, gleich behan­delt zu wer­den, treibt sich jede Merk­mals­grup­pe das Dis­kri­mi­nie­ren aus. Sofern sie jedoch nicht nur eine sta­tis­ti­sche Grö­ße, son­dern auch Schick­sals­ge­mein­schaft war, leb­te sie – inbrüns­tig – aus beja­hen­der und ver­nei­nen­der Dis­kri­mi­nie­rung. Nun­mehr gibt sie also ihren Geist auf. In hoff­nungs­vol­ler unend­li­cher Anpas­sung an die Stan­dards der Aner­ken­nung und des Wett­be­werbs um Bud­gets wird sie gleich­ge­schal­tet. Machen wir die Pro­be aufs Exem­pel. Der Ort männ­li­cher Homo­se­xua­li­tät ent­stand einst im Zusam­men­wir­ken von min­der­heit­li­chem Begeh­ren und mehr­heit­li­chem Abscheu. Ihre Nischen­kul­tur über­dau­er­te in abtrün­ni­ger Ver­schwo­ren­heit. Heu­te ist „Schwul­sein” eine gene­tisch zu Ende erklär­te und aller­or­ten vor­ge­führ­te, somit belie­big gewor­de­ne Alter­na­tiv­be­tä­ti­gung. Das Begeh­ren ist eine Beu­te des Mar­ke­tings für das Gay-Seg­ment, der Abscheu (auch vor dem Unbe­kann­ten) ver­dampft in apa­thi­scher Tole­ranz. Und wie steht es mit der Welt­an­schau­ung? Dem Katho­li­zis­mus, dem Euro­is­lam? Den bis zum Hin­sin­ken aufs Pfle­ge­bett wei­ter­schaf­fen­den Senio­ren? Den Jun­gen, die nach Schul­ab­schluß ihre rest­li­ches Leben vor­weg­neh­men sollen?
Ein Kol­lek­tiv von iso­lier­ten, eigen­sin­nig auf­tre­ten­den, doch gleich­ge­schal­te­ten Indi­vi­du­en lag außer­halb des Vor­stel­lungs­be­reichs von Le Bon, Orte­ga y Gas­set und Canet­ti. Die­se Den­ker stell­ten sich unter „Mas­se” etwas Gleich­för­mi­ges vor. Extre­mer Indi­vi­dua­lis­mus, iden­tisch mit fugen­lo­ser Will­fäh­rig­keit, erfor­dert ein ganz ande­res „Masse”-Konzept. Aber auch die Kri­tik an der „Markt­för­mig­keit der Indi­vi­dua­li­tät” wird dem lebens­lan­gen Dienst am Ein­zel-Selbst nicht gerecht. Denn unse­re anspruchs­vol­le Indi­vi­dua­li­tät, das Non­plus­ul­tra der Päd­ago­gik, ist kein offe­ner Cha­rak­ter, in den sich durch sym­bo­li­schen Kon­sum und Teil­nah­me an beju­bel­ten Ereig­nis­sen (Love-Para­des, Fes­ti­vals, Cas­ting-Shows, Mes­sen) „die Mas­se ein­la­gert”. Sie selbst ist die Mas­se, her­vor­ge­gan­gen aus der Ver­nei­nung des Massenhaften.
Ste­tig wach­sen die Lebens­chan­cen und wächst die Zuver­sicht der Ent­pflich­te­ten. Gleich­zei­tig neh­men die Risi­ken der Deklas­sie­rung und mit ihnen die Gerech­tig­keits­fra­gen über­hand. Frau­en und Män­ner, Jun­ge und Alte, Eltern und Kin­der­lo­se, bes­ser und schlech­ter Abge­si­cher­te behar­ren auf Chan­cen­gleich­heit, um sich die Mit­tel für Eige­nes, ihr ganz beson­de­res Leben, zu sichern. Sie blei­ben dann aber zeit­le­bens im Sichern und Absi­chern ste­cken. Wer um abs­trak­te Gleich­be­rech­ti­gung kämpft, wird die­se anschlie­ßend nicht für Ungleich­ar­ti­ges nut­zen kön­nen. In der Fron der Selbst­ver­mark­tung keh­ren die über­wun­den geglaub­ten Ver­pflich­tun­gen als per­sön­lich gleich­gül­ti­ge Zwän­ge zurück. Aus­ufern­de Arbeit, die Selbst­be­haup­tung gegen­über ande­ren „Arbeits­kraft­un­ter­neh­mern” und der Kampf um Auf­merk­sam­keit ver­ein­nah­men die Wahr­neh­mung und die Wil­lens­kraft des ein­zel­nen auf Dau­er. Doch die Welt der Pro­le­ta­ri­er ist Ver­gan­gen­heit – heu­te beu­tet sich der ein­zel­ne selbst­ge­steu­ert aus. Er pro­du­ziert sich las­ziv, ori­gi­nell, schräg, selbst­si­cher, frech und tren­dy, und bleibt dabei doch eine Mario­net­te des Ver­glei­chens. Die neue Gestalt der Ver­mas­sung ist Viel­för­mig­keit und die Pose von Autonomie.
Gibt es ein Ent­kom­men aus der Viel­falts­mas­se? Durch­dringt sie uns voll­stän­dig? Wenn wir laut­hals Ansprü­che ver­tre­ten, tönen die­se zwangs­läu­fig wie Gleich­heits­for­de­run­gen. Aber fast alles, was (uns) geschieht, unter­läuft die Ver­gleichs­rech­nung, sabo­tiert die Lebens­pla­nung und wäre, in Wor­te gefaßt, nicht plau­si­bel. Die Ohn­macht der Ver­wer­tungs­zwän­ge grün­det in ihrer All­macht (nicht im Wider­stand gegen sie). Da sie allein das Sagen haben, bleibt im Ver­stän­di­gungs­be­trieb fast alles unge­sagt. Über die­ses Unsag­ba­re aber ist nicht zu ver­fü­gen. Die „schwei­gen­de Mehr­heit” hört den Weck­ruf nicht, denn sie ist kein fes­ter Bestand. Sie ist das jeder­zeit Mög­li­che, Mas­se ohne­glei­chen, Volks­mas­se, die plötz­lich auf den Plan tritt, in einem Ereig­nis, das uns ins Unver­gleich­li­che wirft und nur gemein­schaft­lich zu bewäl­ti­gen ist.

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