Der Schweiz beitreten – die Schweiz zerschlagen

pdf der Druckfassung aus Sezession 37 / August 2010

Die Schweiz zählt zu den beliebtesten Staaten der Welt – außer in Libyen. Es bringt Bonuspunkte in Gesprächen mit Zeitungen oder auf wissenschaftlichen Tagungen, einfach mal die Eidgenossen zu nennen, wenn man auf vorbildliche Systeme angesprochen wird. Der Populär-Philosoph Richard David Precht (Wer bin ich? Und wenn ja, wie viele? sowie Liebe – Ein unordentliches Gefühl) kennt diese Strategie natürlich. Als im September letzten Jahres der Wahlkampf in Deutschland wirklich nicht mehr zu ertragen war, machte er den Vorschlag: Laßt es uns doch einfach so machen wie in der Schweiz! In mehreren Interviews prangerte Precht die Mehrheitsdemokratie an und wünschte sich mehr plebiszitäre Elemente, da damit langfristige Probleme einfacher gelöst werden könnten.

Felix Menzel

Felix Menzel ist Chefredakteur des Schülerblogs blauenarzisse.de.

Prechts Vor­schlag war aller­dings nichts wei­ter als intel­lek­tu­el­les Koket­tie­ren. Den Fin­ger so rich­tig in die offe­ne Wun­de zu legen ist sei­ne Sache nicht. Anders tritt hin­ge­gen der Schwei­zer Natio­nal­rat Domi­ni­que Baet­tig (SVP) auf. Er hat unlängst eine Initia­ti­ve zu einer Ver­fas­sungs­än­de­rung gestar­tet. Fest­ge­schrie­ben wer­den soll, daß sich angren­zen­de Regio­nen der Schweiz anschlie­ßen kön­nen. Baden-Würt­tem­berg, das Elsaß, Vor­arl­berg, Nord­ita­li­en, Savoy­en und das fran­zö­si­sche Jura dür­fen sich davon ange­spro­chen füh­len. »Es han­delt sich dabei um eine Gegen­of­fen­si­ve zu den Befür­wor­tern des EU-Bei­tritts der Schweiz, die glau­ben, dies sei die ein­zig mög­li­che Opti­on. Jedoch ist das Modell der Schweiz, direk­te Demo­kra­tie der Nähe, eine glaub­wür­di­ge Alter­na­ti­ve zur zen­tra­lis­ti­schen Regie­rung und Büro­kra­tie der EU«, erklär­te der Poli­ti­ker der natio­nal­kon­ser­va­ti­ven Schwei­zer Volks­par­tei auf Nach­fra­ge. Die Euro­päi­sche Uni­on sei »viel zu groß und ohne gemein­sa­me Kul­tur«. Gera­de in der Schul­den­kri­se zei­ge sich, daß sie nichts wei­ter als ein Wirt­schafts- und Umver­tei­lungs­ap­pa­rat sei. Alle Ein­grif­fe von Brüs­sel waren bis­her inter­ven­tio­nis­ti­sche Ver­ord­nun­gen, die von den dum­men Staa­ten frü­her und den klu­gen spä­ter umge­setzt wür­den. Es stel­le sich unwei­ger­lich die Fra­ge, wie lan­ge sich das die Bür­ger, ins­be­son­de­re der wohl­ha­ben­den Staa­ten, noch gefal­len lie­ßen. Baet­tig meint, die EU »sei dazu ver­dammt, sich zu dekon­stru­ie­ren, gera­de wie ein büro­kra­ti­sches Mons­ter und ein Reich, das den direk­ten Draht zu den Bür­gern ver­lo­ren hat.«
2009 hat­te der liby­ische Dik­ta­tor Muammar Abu Min­yar al-Gad­da­fi in Reak­ti­on auf die kurz­zei­ti­ge Ver­haf­tung eines sei­ner Söh­ne in der Schweiz gefor­dert, den Alpen­staat zu zer­schla­gen und an Deutsch­land, Frank­reich und Ita­li­en auf­zu­tei­len. Wer jetzt meint, der Vor­schlag von Baet­tig und sei­nen Par­tei­ge­nos­sen sei genau­so gro­ßer Unsinn wie der liby­sche Vor­stoß, täuscht sich. Gebiets­ver­schie­bun­gen in Euro­pa sind zwar äußerst unwahr­schein­lich, aber wer weiß, was plötz­lich alles mög­lich ist, wenn sich die Kri­se wei­ter zuspitzt und Sys­te­me ins Wan­ken gera­ten? Die Fak­ten spre­chen auf jeden Fall für die Schweiz: »Eine Viel­zahl von Grenz­be­woh­nern kommt jeden Tag zum Arbei­ten und pro­fi­tiert von den Sozi­al­leis­tun­gen, der Lebens­qua­li­tät, der Sicher­heit und der Dyna­mik der Wirt­schaft. Ein Kan­ton der Schweiz zu wer­den, gäbe mehr Ent­schei­dungs­macht und demo­kra­ti­sche Unab­hän­gig­keit als ein Land oder eine Regi­on zu blei­ben, die von der Haupt­stadt oder Brüs­sel ver­ges­sen wird«, betont Baet­tig die Vor­zü­ge sei­nes Landes.
Auf den Vor­schlag des SVP-Poli­ti­kers ange­spro­chen, äußert der Ber­li­ner Ver­wal­tungs­recht­ler Pro­fes­sor Ulrich Bat­tis von der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät jedoch Beden­ken bezüg­lich der Mach­bar­keit einer sol­chen Sezes­si­on. Wenn sich etwa Baden-Würt­tem­berg der Schweiz anschlie­ßen wöll­te, müß­te dies der Bund erlau­ben. Dies sei schwer vor­stell­bar. »Sowohl das jewei­li­ge natio­na­le Recht als auch das Völ­ker­recht sind sezes­si­ons­feind­lich. Wie aber die Ent­wick­lung im ehe­ma­li­gen Jugo­sla­wi­en in der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit zeigt, sind Los­lö­sun­gen ein­zel­ner Teil­ge­bie­te natio­nal durch­führ­bar und die dar­aus her­vor­ge­gan­ge­nen Staa­ten völ­ker­recht­lich aner­kannt«, so Battis.

Die Lis­te mög­li­cher abtrün­ni­ger Regio­nen in Euro­pa ist lang und die Sym­pa­thie für sepa­ra­tis­ti­sche Bewe­gun­gen nicht zu unter­schät­zen. Das Echo auf den Vor­schlag der SVP bezeich­net sowohl Baet­tig als auch die FAZ als »weit­ge­hend posi­tiv«. Im nord­ita­lie­ni­schen Como befür­wor­ten laut einer Zei­tungs­um­fra­ge 74 Pro­zent das Vor­ha­ben. Aus Vor­arl­berg tönt es eben­so zustim­mend her­über und selbst eini­ge Baden-Würt­tem­ber­ger kön­nen sich mit einer neu­en Staats­zu­ge­hö­rig­keit anfreun­den. Im Süd­ku­rier wird ein Leser zitiert, der meint: »Die Schwei­zer sind uns von der Men­ta­li­tät her näher.« Und auch finanz­po­li­tisch sei es lukra­tiv, sich dem Nach­barn anzu­schlie­ßen: »Nichts wie weg von den Plei­te­gei­ern aus Berlin.«
Auch in ande­ren Staa­ten rumort es und wenn die Iden­ti­fi­ka­ti­on mit der »gro­ßen« Poli­tik schwin­det, haben Cha­ris­ma­ti­ker aus der Pro­vinz immer bes­se­re Kar­ten. Bat­tis erklärt: »In Bel­gi­en hat die flä­mi­sche Par­tei offen die Aus­ru­fung eines unab­hän­gi­gen Flan­dern ange­droht und auch in Kata­lo­ni­en ist ein dies­be­züg­li­ches sym­bo­li­sches Volks­be­geh­ren jüngst erfolg­reich gewe­sen. Ein wei­te­res Bei­spiel für das Vor­han­den­sein sepa­ra­tis­ti­scher Bewe­gun­gen in Euro­pa ist das Baskenland.«
Baet­tig hat sicher recht, wenn er betont, daß es bes­ser sei, »Chef bei sich selbst zu Hau­se zu sein, von einer klei­nen Ein­heit mit mensch­li­chem Maß­stab, als in einem über­di­men­sio­na­len und fra­gi­len Reich ein Dasein als ver­lo­re­nes Indi­vi­du­um zu fris­ten. « Der Haupt­ein­wand gegen die­se Argu­men­ta­ti­on ist jedoch vor­pro­gram­miert: Euro­pa wer­de auf die­se Wei­se ins 19. Jahr­hun­dert der Klein­staa­te­rei zurück­ka­ta­pul­tiert. In einer glo­ba­li­sier­ten Welt gel­te es aber, Poli­tik in einem größt­mög­li­chen Ver­bund zu betrei­ben, weil die gegen­wär­ti­gen Pro­ble­me trans­na­tio­na­ler Natur seien.
Zwei neue Wör­ter zur Ent­kräf­tung die­ses Gegen­ar­gu­ments ver­die­nen in die­sem Zusam­men­hang Beach­tung: »Glo­ka­li­sie­rung« und »Syn­er­gi­on«. Glo­ka­li­sie­rung (aus »glo­bal« und »lokal« zusam­men­ge­setzt) ver­deut­licht die Ten­denz, daß trotz der unum­gäng­lich erschei­nen­den wirt­schaft­li­chen Glo­ba­li­sie­rung loka­le Netz­wer­ke an Bedeu­tung gewin­nen. Sie ver­mit­teln Ver­trau­en, Boden­stän­dig­keit und gegen­sei­ti­ge Hil­fe. Gera­de in glo­ba­len Zei­ten set­zen Unter­neh­men auch auf gut funk­tio­nie­ren­de kur­ze Wege, und nur Wirt­schafts­re­gio­nen mit lukra­ti­ven »wei­chen« Stand­ort­fak­to­ren wer­den lang­fris­tig erfolg­reich sein. Nur Regio­nen, die ein umfas­sen­des Kul­tur­le­ben anzu­bie­ten haben und über lokal ver­an­ker­te Unter­neh­men ver­fü­gen, die bis in alle Welt aus­strah­len, kön­nen einen »Boom« auslösen.
Im glei­chen Atem­zug ist das Kon­zept der Syn­er­gi­on zu nen­nen (zusam­men­ge­setzt aus »Syn­er­gie« und »Regi­on«). Wäh­rend mit einem »Euro­pa der Regio­nen« häu­fig von­ein­an­der aut­ar­ke Stand­or­te und vie­le klei­ne, nicht mit­ein­an­der ver­bun­de­ne Nischen asso­zi­iert wer­den, soll die Syn­er­gi­on die­se Ein­engung über­win­den. Damit sind Regio­nen gemeint, die unter­ein­an­der einen viel­fäl­ti­gen Aus­tausch orga­ni­sie­ren, sich aber trotz­dem ihre Eigen­stän­dig­keit bewah­ren. Prak­tisch wür­de dies eine wei­test­ge­hen­de Dezen­tra­li­sie­rung Euro­pas mit vie­len klei­nen Kno­ten­punk­ten bedeu­ten. Wel­che kon­kre­te Orga­ni­sa­ti­ons­form die ein­zel­nen Regio­nen wäh­len, bleibt ihnen selbst über­las­sen. Mög­lich erscheint vie­les: War­um soll­ten sich nicht in eini­gen Gegen­den ein­fluß­rei­che Unter­neh­mer durch­set­zen und ihr Land wie eine AG füh­ren? An ande­ren Orten set­zen sich dafür viel­leicht direk­te Demo­kra­tien durch und in Sach­sen kommt es hof­fent­lich zu einer Neu­auf­la­ge des alten Königreiches.
Es ist bedau­er­lich, daß Euro­pa nach dem Weg­fall des »Eiser­nen Vor­hangs« 1989/90 wie­der einen zen­tra­lis­ti­schen Weg ein­ge­schla­gen hat. Doch die Geschich­te ist glück­li­cher­wei­se nie zu Ende und des­halb besteht in den nächs­ten Jah­ren eben­so die Mög­lich­keit, daß sich in meh­re­ren Regio­nen eine »Par­al­lel-Polis« bil­det. Der ehe­ma­li­ge tsche­chi­sche Prä­si­dent Václav Havel hat die­se 1978 in dem Essay Ver­such, in der Wahr­heit zu leben vor­ge­dacht: »Der urei­gens­te Raum, der Aus­gangs­punkt für alle Bestre­bun­gen der Gesell­schaft, sich dem Druck des Sys­tems zu wider­set­zen, ist das Gebiet des ›Vor­po­li­ti­schen‹, da die ›Par­al­lel­struk­tu­ren‹ ja nichts ande­res als ein Raum des ande­ren Lebens sind, eines Lebens, das im Ein­klang mit sei­nen eige­nen Inten­tio­nen ist und das sich selbst im Ein­klang mit die­sen Inten­tio­nen strukturiert.«
Viel­leicht wird es auch für die Preu­ßen unter uns Zeit, über staats­fer­ne, aber trag­fä­hi­ge Struk­tu­ren nach­zu­den­ken, selbst wenn sie ein »Euro­pa der Syn­er­gio­nen« nur als vor­über­ge­hen­des Exil begreifen.

Felix Menzel

Felix Menzel ist Chefredakteur des Schülerblogs blauenarzisse.de.

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