Kinder an der Macht

pdf der Druckfassung aus Sezession 6 / Juli 2004

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Sascha Z. ist Sol­dat. Aus Beru­fung, sagt er, das sei mehr noch als Über­zeu­gung. Den Ein­zel­kämpfer­lehr­gang hat der ernst­haf­te drei­ßig­jäh­ri­ge Pan­zer­gre­na­dier, den sei­ne Stu­ben­ka­me­ra­den als „völ­lig humor­los“ bezeich­ne­ten, erst­klas­sig bestan­den. Das bes­te Ergeb­nis seit zehn Jah­ren, beschie­den ihm die Ausbilder. 

Längst hält sich Sascha eine eige­ne Woh­nung am der­zei­ti­gen Ein­satz­ort. Ein klei­nes pri­va­tes Fit­neß-Stu­dio mit diver­sen Bän­ken und Han­teln ergänzt das Mobi­li­ar. Am Bett­rand und auf der Toi­let­te sta­peln sich Män­ner­ma­ga­zi­ne, Dos­siers und Anlei­tun­gen zum Muskelaufbau. 

Sascha lei­det unter sei­ner Schmal­brüs­tig­keit. Das wür­de der wort­kar­ge Mann nie ein­ge­ste­hen. Zwi­schen Bücher­re­ga­len, in der peni­bel gerich­te­ten Küche und über dem Bett des Jung­ge­sel­len hän­gen gro­ße Sesam­stra­ßen-Pla­ka­te. Ernie und das Quiet­sche-Ent­chen, Miss Pig­gy hys­te­ri­schen Blicks, Oskar, der frech aus der Müll­ton­ne lugt. 

Ganz neu ist die Kla­ge über eine infan­ti­le und zuneh­mend regre­die­ren­de Gesell­schaft nicht. In den spä­ten 1960ern wur­de im Rah­men von Alex­an­der Mit­scher­lichs Kri­tik und Visi­on einer vater­lo­sen Gesell­schaft eine all­ge­mein kon­sta­tier­te Rei­fungs­hem­mung nahe­zu schlagworttauglich.

Spä­ter bemerk­te Neil Post­man in Das Ver­schwin­den der Kind­heit, daß es nur eine Fra­ge der Per­spek­ti­ve sei, ob Kind­heit oder Erwach­se­nen­al­ter ver­schwän­den und kon­sta­tier­te zwi­schen Säug­lings­al­ter und Seni­li­tät eine lang­ge­streck­te drit­te Lebens­stu­fe: die des „Kind-Erwach­se­nen“.

Mit­te der Neun­zi­ger, im Zuge der mas­sen­haf­ten Ver­sor­gung deut­scher Haus­hal­te mit Pri­vat­fern­se­hen und den ent­spre­chen­den Blö­del­pro­gram­men und Voy­eur­shows, erschie­nen zahl­rei­che Bücher zur „kind­li­chen Gesell­schaft“, und der Spie­gel titel­te mit dem Schre­ckens­bild eines Mor­bus Infan­ti­li­ta­tis.

Vor einem hal­ben Jahr sorg­te ein Auf­ma­cher auf den Life­style-Sei­ten der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Sonn­tags­zei­tung für Wir­bel. Der Hohn, mit dem Mat­thi­as Hei­nen dort die Mas­se der alters­mä­ßig längst erwach­se­nen „End­los­pu­ber­tie­ren­den“ bedach­te, trieb den Redak­teur der beach­tens­wer­ten und sonst recht nüch­tern argu­men­tie­ren­den Inter­net­sei­te www.single-dasein.de zur Weiß­glut und einem flam­men­den Mani­fest: „Wir Infan­ti­lis­ten sind nicht infan­til, son­dern infan­ti­lis­tisch!“ wur­de da in Fett­druck gebrüllt, und: „Uns Infan­ti­lis­ten gehört die Zukunft, die Ver­gan­gen­heit über­las­sen wir ger­ne euch.“

Erhel­lend ergänzt durch Ana­ly­se und O‑Töne der infan­ti­len Gene­ra­ti­on wur­de Hei­nens Arti­kel im übri­gen durch das Kurs­buch Die Drei­ßig­jäh­ri­gen vom Dezem­ber 2003 – das Dilem­ma der gelang­weil­ten Pop-Gene­ra­ti­on ohne „aben­teu­er­li­che Her­zen“ wird hier greifbar.

Die Kri­tik an Infan­ti­lis­mus­vor­wür­fen wie­der­um ist so alt wie das eigent­li­che Sym­ptom: Ers­tens, so argu­men­tie­ren ger­ne die Sozi­al­de­mo­kra­tie und ihre wis­sen­schaft­li­chen Adep­ten (etwa Ulrich Beck), sei­en Gemein­sinn und sozia­les Enga­ge­ment unter jun­gen Erwach­se­nen nie­mals stär­ker aus­ge­prägt gewe­sen als derzeit.

Außer­acht gelas­sen wird dabei, daß gesell­schaft­li­ches Enga­ge­ment sich heu­te weit­ge­hend auf ver­ein­zel­te, über­in­di­vi­dua­li­sier­te Zusam­men­hän­ge beschränkt und das Pri­va­te wie das Gemein­schafts­gan­ze eben­so­we­nig tan­giert, wie es etwas über voll­mensch­li­che Rei­fe aussagt.

Eine ehren­amt­li­che Tätig­keit für Amnes­ty Inter­na­tio­nal oder Green­peace zieht eben nicht nach sich, daß der alten Frau oder der hoch­schwan­ge­ren in der U‑Bahn der Platz über­las­sen wird. Auch schwin­den­de Manie­ren sind ein Aspekt der Unreife.

Zwei­tens, sagen die „Infan­ti­lis­ten“, wur­den Nai­vi­tät, Ver­spielt­heit, das ent­hemm­te Lau­fen­las­sen der Emo­tio­nen von moder­nen Kunst­strö­mun­gen und gesamt­ge­sell­schaft­lich von den rebel­lie­ren­den Acht­und­sech­zi­gern gera­de­zu ein­ge­for­dert und wirk­ten letzt­lich „kul­tur­prä­gend“.

Rebel­li­on aber ist heu­te pas­sé, ihre Frag­men­te ver­san­den in schlin­gen­sief­schem Dada­is­mus, im Links­spie­ßer­tum der Jusos (Stim­me und Rede von Niels Annen ver­bild­li­chen doch mehr einen halb­kind­li­chen Schlips­trä­ger denn einen jun­gen Mann) oder in demo­kra­tisch fest struk­tu­rier­ten NGOs, und vor allem man­gelt es an Sub­jek­ten mit ent­spre­chen­der – rebel­li­scher – Veranlagung.

Das juve­nil Auf­be­geh­ren­de ist heu­te einer Ver­mei­dungs­hal­tung gewi­chen. Der gro­ße Stu­den­ten­pro­test des ver­gan­ge­nen Win­ters: Das war nicht mehr als der risi­ko­freie Trotz pöbeln­der Halb­erwach­se­ner mit voll­aus­ge­präg­ten Neh­mer­qua­li­tä­ten – Vater Staat hat zu sor­gen und dabei größt­mög­li­che Zwang­lo­sig­keit zu gewähren.

Fett und impo­tent wer­den: Was Win­s­ton Chur­chill der­einst den Deut­schen wünsch­te, hat sich längst welt­um­span­nend erfüllt. Das Schwin­den der „Gro­ßen Erzäh­lung“, die Aus­lö­schung gemein­schafts­stif­ten­der, iden­ti­täts­bil­den­der Mythen, die im Rah­men der Post­mo­der­ne-Dis­kus­si­on so begrüßt wie von ande­rer Sei­te beklagt wur­de, das any­thing goes als Gebot weg­bre­chen­der Gren­zen in jeg­li­cher Hin­sicht, hat nicht zu einem furio­sen Aus­grei­fen des Indi­vi­du­ums, zum beherz­ten und neu ermög­lich­ten Wagen gro­ßer Schrit­te geführt – zumin­dest nicht in der Sphä­re des Privaten.

Die wur­de um so enger geschnürt, je bedroh­li­cher die aus den Fugen gera­te­ne Welt den Men­schen auf sich, die eige­ne Ver­ant­wor­tung und Potenz, zurück­warf. Der Zusam­men­bruch des „indo­eu­ro­pä­isch-jüdisch-isla­mi­schen Trieb­kon­troll­sys­tems“ (Robert Bly) hat den Men­schen nicht zur Mün­dig­keit befreit, er hat im Gegen­teil eine Rück­ent­wick­lung in kind­li­che Ver­hal­tens­mus­ter begünstigt.

An die Stel­le der ver­ti­ka­len Ori­en­tie­rung – an Gott, am Mythos, an einer Ältes­ten-Kul­tur – ist der hori­zon­ta­le Blick, der stets unsi­che­re Sei­ten­blick und die Macht der peer group getre­ten. Die Resul­ta­te beschrieb bereits Alex­an­der Mit­scher­lich tref­fend, heu­te bewahr­hei­ten sie sich in ihrer Maximierung.

Durch das Schwin­den des Begriffs der Rei­fung als kol­lek­tiv aner­kann­te und gefor­der­te Ent­wick­lung des Indi­vi­du­ums ent­ste­hen „Moment-Per­sön­lich­kei­ten“, die ihre Impul­se allein aus der situa­ti­ven Bedingt­heit ent­leh­nen. Der der­art ange­paß­te, „außen­ge­lei­te­te“ Mensch lebt letzt­lich eine kol­lek­ti­ve Neu­ro­se – ohne den Aus­gleich per­sön­li­chen Unbehagens.

Denn bequem ist das Ver­har­ren in infan­ti­len Ras­tern alle­mal. Zei­ten des Frie­dens legen sol­ches Ver­hal­ten nah.
Ste­phan Schlak nennt im Kurs­buch 154 die­sen frei­wil­lig unmün­di­gen Lebens­stil im Ver­gleich mit dem Typus der „unbe­ding­ten“ jun­gen Män­ner der Vor­vä­ter­ge­nera­ti­on, vor deren hoch­ge­stimm­tem Idea­lis­mus „nur die letz­ten Fra­gen bestan­den“ eine „fle­xi­ble Kul­tur des Bedingtseins“:

Der Drei­ßig­jäh­ri­ge von heu­te läuft nicht so sehr Gefahr, daß er sich wie sei­ne unbe­ding­ten Vor­gän­ger aus den zwan­zi­ger Jah­ren schul­dig macht – son­dern schon eher umge­kehrt: daß er sei­ne Unschuld nie verliert.

Dirk A. ist der Pro­to­typ eines „Machers“. Mit acht­zehn raus aus dem müt­ter­li­chen Nest, mit 28 das fünf­te eige­ne Auto – selbst­ver­ständ­lich in ste­tig auf­stei­gen­den Kate­go­rien. Stu­di­um auf der Über­hol­spur, bereits wäh­rend­des­sen Auf­bau einer bald über­aus erfolg­rei­chen Selb­stän­dig­keit im Sicherheitsbereich. 

Seit eini­ger Zeit beklei­det der Vier­und­drei­ßig­jäh­ri­ge einen hoch­do­tier­ten Mana­ger­pos­ten einer gro­ßen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­fir­ma. Pri­vat lebt er das, was Gesell­schafts­kund­ler „seri­el­le Mono­ga­mie“ nen­nen, fes­te Bin­dun­gen, die recht regel­mä­ßig im Drei- bis Vier­jah­res­rhyth­mus abwechseln. 

Mit Freun­din Ina, 35, und wie Frank bewußt kin­der­los, hat er zwi­schen Neu­jahr und Ostern fünf­mal den Kin­der­film „Fin­det Nemo“ gese­hen, zwei­mal Kino, mitt­ler­wei­le DVD. „ Das ist bei uns zum Kult gewor­den“, und über­haupt: All Age möch­te er sol­che Kon­sum­gü­ter genannt haben, die sich doch an Kin­der wie Erwach­se­ne glei­cher­ma­ßen richteten. 

Daß die Zahl längst erwach­se­ner Nest­ho­cker im „Hotel Mama“ in den letz­ten bei­den Jahr­zehn­ten rapi­de ange­stie­gen ist, ist das eine. Plan­lo­se Lang­zeit­stu­den­ten und sol­che, die drei Jah­re und län­ger ohne zeit­öko­no­mi­sche Abwä­gung an ihren Pro­mo­ti­ons­ar­bei­ten sit­zen, gehö­ren längst zum gesell­schaft­li­chen Bild.

Sie demons­trie­ren auf­fäl­li­ge Ver­mei­dungs­hal­tun­gen, man­geln­de Ent­schei­dungs­freu­de und die Unfä­hig­keit, einen Punkt zu set­zen. Aber auch der äußer­lich ange­paß­te, gar erfolg­rei­che Erwach­se­ne, durch­aus ver­an­lagt, sich mit strom­li­ni­en­för­mi­ger Intel­li­genz beruf­li­chen Erfor­der­nis­sen anzu­pas­sen, bil­det im initia­ti­ons­frei­en Raum der Post­mo­der­ne sein kind­li­ches Refu­gi­um als Rück­zugs­mög­lich­keit aus.

Das frag­men­ta­ri­sche Ich nutzt die­se regres­si­ven Ele­men­te als Abwehr­hal­tung und Ort der Scho­nung in über­for­dern­den Situa­tio­nen – und sei­en dies die Lebens­um­stän­de all­ge­mein. Die Nei­gung zum Kin­der­film, zum Janosch­pos­ter und kin­der­lo­sen Dis­ney­land-Aus­flug wäre dann eine legi­ti­me Nische, wenn solch tem­po­rä­re Hin­wen­dung zum Infan­ti­len mit ent­spann­ter Unbe­schwert­heit, Leich­tig­keit und kind­li­cher Freu­de einherginge.

Allein: die Fähig­keit zum Stau­nen, die Anla­ge zur Wei­ter­ent­wick­lung und men­ta­len Durch­drin­gung des vor­geb­lich Bestaun­ten feh­len und sind einem habi­tu­el­len Unernst gewi­chen. Der kommt nicht nur im humor­lo­sen Blö­del- und Come­dy-Trend zum Tra­gen, son­dern wirkt sich auch jen­seits der Pri­vat­sphä­re aus.

Wäh­rend eine weni­ge Jah­re wäh­ren­de Ado­les­zenz­pha­se mit ihrer Nei­gung zu Albern­heit (gibt es eigent­lich Unter­su­chun­gen über Anruf­be­ant­wor­ter-Mode­ra­tio­nen Zwan­zig- bis Fünf­und­dreißgjäh­ri­ger?) und Reni­tenz bis hin zur Aso­zia­li­tät kei­ne wei­te­rei­chen­den Fol­gen für das Wer­te­ge­rüst einer Gemein­schaft zei­ti­gen kann, so ändert sich das mit dem Anstieg der Sum­me end­los­pu­ber­tie­ren­der Jugend­li­cher im mitt­le­ren Erwachsenenalter.

Denn was gebiert die Gene­ra­ti­on der Infan­ti­len? Im Zwei­fels­fall: gar nichts. Dabei gehen – sie­he obi­gen Fall – beruf­li­cher Erfolg und pri­va­te Regres­si­ons­ten­den­zen gern Hand in Hand: Der Zwang zu Mobi­li­tät und unbe­ding­ter Fle­xi­bi­li­tät ver­mag die Aus­bil­dung eines fes­ten Wesens­kerns zu hem­men und all­ge­mei­ne Bin­dungs­lo­sig­keit zu fördern.

Tref­fend beschreibt Vol­ker Mar­quardt die Spar­te der New Eco­no­my als Chan­ce, auch ohne Stu­di­um und Anzug zum wirt­schaft­li­chen Auf­stei­ger zu wer­den – und dabei noch ein­mal die Jugend zu verlängern:

Genau in dem Alter, in dem wir uns eigent­lich für einen fes­ten Job in die­ser Wirt­schafts­welt hät­ten ent­schei­den müs­sen, bot uns die New Eco­no­my eine Hin­ter­tür. Opa hat­te immer vom Ernst des Lebens gespro­chen, aber der kam nie. Das Leben blieb ein Kinderspiel.

Gefragt waren Eigen­schaf­ten, die auf der Basis der übli­chen Acht­zi­ger-Jah­re-Sozia­li­sa­ti­on längst ein­ge­übt waren, das „ Netz­wer­ken mit Freun­den, das Spie­le­ri­sche, das Fle­xi­ble und das Funk­tio­nie­ren in insta­bi­len Struk­tu­ren … Alles, was uns vor­her als Man­gel aus­ge­legt wur­de, zahl­te sich nun aus. Unse­re Ver­spielt­heit, weil die gan­ze Wirt­schaft eine Spiel­wie­se wer­den soll­te. Unse­re Uner­fah­ren­heit, die plötz­lich die Quel­le für neue Ideen war. Unse­re Unste­tig­keit, da wir ohne­hin jedes hal­be Jahr einen neu­en Job ange­bo­ten bekamen.“

Zeit­gleich zu Mar­quardts lau­ni­ger und lesens­wer­ter Life­style-Ana­ly­se der brei­ten Gene­ra­ti­on Dau­er­ju­gend­li­cher hat der Ber­li­ner Argon-Ver­lag im übri­gen die zum Pein­li­chen ten­die­ren­den Alte­rungs­kla­ge des Spie­gel-Jour­na­lis­ten Rein­hard Mohr ediert.

Für Lebe­mann Mohr, 49, und immer­hin – das macht er zu genü­ge deut­lich – wei­ter­hin mit kna­cki­gen Mitt­zwan­zi­ge­rin­nen zugan­ge, kenn­zeich­net es einen „skan­da­lö­sen Tat­be­stand, nie mehr 20 sein zu kön­nen“. Der „lan­ge Weg von der Revol­te zum Ren­ten­loch“ ist von kei­nem Zuwachs an Rei­fe beein­träch­tigt. „Zukunft war ges­tern“ iro­ni­siert Mohr die Lebens­un­tüch­tig­keit sei­ner Generation.

Als Petra M., 24, schwan­ger wur­de, fand sie das „irgend­wie so total absurd“. Sie hat­te es dar­auf ange­legt, so halb­wegs jeden­falls. „Das war eben so eine Art sich aus­zu­tes­ten, nenn es Selbst­er­fah­rung.“ Nach all den Jah­ren sexu­el­ler Betä­ti­gung, fol­gen­lo­ser Intim­be­zie­hun­gen, kam ihr das Resul­tat „völ­lig irre“ vor. 

Die Abtrei­bung war „krass, klar“, tage­lan­ges Geheul, und selbst nach Wochen noch düs­te­re Aben­de, wenn sie allein war und nach­dach­te. „Aber, hey“, meint die Sozio­lo­gie­stu­den­tin mit den Paus­bäck­chen so schuld­be­wußt wie kokett, „schau mich doch an, mein Leben, alles – ich bin doch selbst noch ein Kind.“ 

Die psy­cho­lo­gi­sche Fach­li­te­ra­tur nennt „Hem­mungs­miß­bil­dung“ – oft ver­bun­den mit einem Hang zur Schau­lust und dem Hang zu Per­ver­sio­nen – als ein Kenn­zei­chen des psy­cho­sexu­el­len Infan­ti­lis­mus: Wo auf den Trieb statt durch Ent­sa­gung oder Sub­li­mie­rung nur mit rascher Sät­ti­gung geant­wor­tet wer­den kann, wer­den ver­ant­wor­tungs­vol­le Lie­bes­bin­dun­gen unmöglich.

Auch in die­sem Zusam­men­hang stellt sich längst die Fra­ge nach der Not­wen­dig­keit, die hier wie dort obso­let gewor­den scheint: Seit­dem die Pil­le Sex ohne Fol­gen garan­tiert, sind intims­te Kon­tak­te vor­aus­set­zungs- und kon­se­quenz­los mög­lich und schei­nen für das außen­ge­lei­te­te Indi­vi­du­um gera­de­zu geboten.

Sexu­el­len Erleb­nis­sen man­gelt es weit­hin an Grö­ße und Schick­sal­haf­tig­keit, sie sind zum aus­wech­sel­ba­ren Spiel­zeug nur kör­per­lich Erwach­se­ner gewor­den. Der­art erscheint sexu­el­le Betä­ti­gung als pro­fa­ne Gewohn­heit, als rein phy­si­sches Bedürf­nis und unfrucht­ba­rer Ersatz für einen ver­lo­ren­ge­gan­ge­nen Lebenssinn.

Es ist ein viel­be­schrie­be­nes Phä­no­men, daß in unse­rer Zeit der All­ge­gen­wart des Sexu­el­len neben der Lie­be auch die Lust auf der Stre­cke bleibt. Wo die Plan­bar­keit von Kin­dern nicht nur mög­lich, son­dern nach­ge­ra­de gefor­dert ist, ist vom Urge­fühl der Zeu­gungs­lust erst recht kei­ne Rede.

Apro­pos Intim­be­reich: dem flei­ßi­gen Sau­na­gän­ger will sich da noch ein Zusam­men­hang auf­drän­gen, der in den Schwitz­ein­rich­tun­gen seit eini­ger Zeit nicht mehr nur als exzen­tri­sche Mode Ein­zel­ner auf­fällt und von Otten­dorf-Okril­la bis Saar­brü­cken bis­wei­len als tren­di­ges must der Alters­grup­pe der Sech­zehn- bis Sechs­und­sech­zig­jäh­ri­gen auf­fällt – die Intim­ra­sur, das Offen­le­gen der Scham, die coif­feur­mä­ßi­ge Zurück­ver­set­zung des Geni­tals­be­rei­ches in einen vor­pu­ber­tä­ren Zustand.

„Naja, Kin­der…“, seufzt Ina C., 32, auch unge­fragt, wenn sie mit jun­gen Müt­tern zusam­men­trifft: „Dazu müß­te man erst­mal den rich­ti­gen Mann fin­den…“ Das Glück, das die schlan­ke Wer­be­fach­frau mit dem Püpp­chen­ge­sicht bei Män­nern hat, hält sich mit dem Pech die Waage. 

Ally McBe­al galt Ina vor eini­gen Jah­ren als Kul­tur­sen­dung und Kat­ja Kull­manns Buch über die „Gene­ra­ti­on Ally“ las sie mit gro­ßer Zustim­mung: „Schon erstaun­lich, daß ich fast jede Sei­te dort abha­ken konn­te und dach­te: die beschreibt ja mich!“ Ähn­lich fas­zi­niert ist sie vom Pro7-Schla­ger „Sex and the City“, und kürz­lich hat­te Freun­din und Schick­sals­ge­nos­sin Big­gi, 33, zu einem genüß­li­chen „Bridget-Jones“-Fernsehabend geladen. 

Die pikan­ten Groß­stadt­ge­schich­ten – TV-Markt­an­teil regel­mä­ßig etwa 13 Pro­zent –, die sich vor allem um die kurz­wei­li­gen Amou­ren vie­rer halb­n­eu­ro­ti­scher Frau­en um die 35 dre­hen, wir­ken offen­bar im hohen Maße iden­ti­täts­stif­tend. Das tra­gi­sche Dilem­ma der eman­zi­pier­ten Frau in der Post­mo­der­ne wird hier durch selbst­iro­ni­schen Zweck­op­ti­mis­mus abge­fe­dert. Wir hat­ten doch bei­de unse­ren Spaß, und ande­re Müt­ter haben doch auch net­te Söh­ne: so machen die ame­ri­ka­ni­schen Erfolgs­wei­ber sich Mut, nach­dem der mut­maß­li­che Haupt­ge­winn in der Män­ner­lot­te­rie sich nach einer Nacht – mit all ihren unan­ge­mes­se­nen Inti­mi­tä­ten und pro­gram­ma­ti­scher Ent­sa­gungs­lo­sig­keit – nicht mehr mel­det oder rasch als lebens­un­taug­li­che Nie­te her­aus­stellt. Das Mus­ter ist so vari­an­ten­arm, daß es lang­wei­lig wer­den könnte:

1. Pha­se: Domi­nanz des läs­si­gen Äuße­ren mit sämt­li­chen Acces­soires moder­ner Ange­sagt­heit: der Poseur.

2. Pha­se: ent­we­der Erkennt­nis, daß es bei der einen Nacht blei­ben soll­te oder die über­ra­schen­de Ein­sicht in den „wei­chen Kern“ des begehr­ten Man­nes: Bin­dungs­pro­ble­ma­tik, Kind­heits­trau­ma, all­ge­mei­ne Versagensängste.

3. Pha­se: der eben Erwähl­te erweist sich als Kind, und gera­de das woll­te man ja nicht haben- oder doch, aber dann mit einem Mann als Vater, bit­te­schön. Robert Bly, des­sen Buch Eisen­hans in den neun­zi­ger Jah­ren zur Kult­fi­bel einer neu­en Män­ner­be­we­gung avan­cier­te, bringt das Dilem­ma in sei­ner Infan­ti­lis­mus­dia­gno­se auf den Punkt:

Da es immer weni­ger erwach­se­ne Män­ner gibt, wer­den immer mehr Töch­ter ohne Gegen­wart eines erwach­se­nen Man­nes groß, daher wäh­len sie Part­ner, die kei­nem Bei­spiel der Rei­fe entsprechen.

Für Ina jeden­falls ist nach Jah­ren des Sich-ver­schen­kens an Blen­der die Män­ner­pirsch zur Qual geworden.

Bin­dungs­un­fä­hig­keit – seit 1960 ist die Zahl der Sin­gle-Haus­hal­te um 500 Pro­zent ange­wach­sen, um nur eine Zahl zu nen­nen und den bekann­ten Anstieg der Schei­dungs­quo­ten ein­mal außer acht zu las­sen – ist ein Pro­dukt der vater­lo­sen Gesell­schaft. Vater­lo­sig­keit und Bin­dungs­scheu sind Ursa­chen und Resul­ta­te des Infan­ti­lis­mus zugleich.

Die selbst­ge­wähl­te Kin­der­lo­sig­keit – und dabei ist es bei­na­he ein Gemein­platz, dar­auf hin­zu­wei­sen, daß unser Staat mit Schrö­der und Fischer von zwei Män­nern geführt wird, die auf ins­ge­samt acht Ehen gänz­lich ohne Nach­kom­men zurück­bli­cken – ist nur eines, aber ein gewich­ti­ges und fol­gen­schwe­res Kenn­zei­chen der infan­ti­len Gesellschaft.

Vor allem tut sich hier wie­der­um, im Ver­bund mit der noch zu beschrei­ben­den „Vater­lo­sig­keit“, ein Kreis­lauf auf: Eltern­los auf­ge­zo­ge­ne Rhe­sus­af­fen, so zeigt es der Tier­ver­such, zei­gen spä­ter kein Zeu­gungs­ver­hal­ten. Nur der Kin­der­lo­se kann – und muß, wenn er sich dem Sei­ten­blick aus­setzt – die zwang­haf­te Zwang­lo­sig­keit der infan­ti­len Gesell­schaft durchhalten:

Mobi­li­tät bis zum moder­nen Noma­den­tum, Spon­ta­nei­tät bis zur Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit, Dau­er­spaß bis zum Über­druß. Eine Ein­übung von „Trieb­auf­schub, Aske­se ver­schie­de­ner Här­te – und das ist Kul­tur – ist für ein allein­le­ben­des Wesen undenk­bar, weil sie unnö­tig wäre“, schrieb Alex­an­der Mit­scher­lich. Und also:

Wer kei­ne Kin­der hat, hat auch kein exis­ten­ti­el­les Inter­es­se an der Zukunft.

(Nor­bert Bolz)

 

Die bei­den Kin­der von Hei­ke und Ger­hard G. sind fast erwach­sen. „Und das ist gut so“, meint Hei­ke, da blei­be end­lich mehr Zeit für eige­ne Inter­es­sen. Eini­ger­ma­ßen hin­ge­bungs­voll sam­melt das Ehe­paar nun Trucks. Legio­nen die­ser Plas­tik-LKW, die Mar­ken­ar­ti­kel­her­stel­ler seit zwei, drei Jah­ren als Zuga­be und Wer­be­mit­tel ihren dadurch leicht ver­teu­er­ten Groß­pa­ckun­gen bei­le­gen, schmü­cken die Wohnung. 

Auf den zwei Fern­se­hern, am Bade­wan­nen­rand, im Küchen­re­gal: Über­all Brum­mis mit Mar­ken­lo­go. „Zwei­und­fünf­zig sind es seit heu­te Nach­mit­tag“, zählt Ger­hard, Bank­kauf­mann, vor: „Das macht schon höl­li­schen Spaß. Mußt dich mal im Inter­net umschau­en – da gibt’s ´nen rie­si­gen Markt für die Dinger.“ 

Kin­disch sei das kei­nes­falls. Auf den ent­spre­chen­den Tausch­bör­sen in klein­städ­ti­schen Bür­ger­häu­sern wür­den Erwach­se­ne deut­lich überwiegen.

Daß gene­rell die For­men­spra­che der Pro­dukt­welt einen Hang zum Kind­li­chen wider­spie­gelt, daß Design allent­hal­ben die gefäl­li­ge Run­dung dem rech­ten Win­kel vor­zieht, Wer­be­slo­gans längst nicht mehr auf Serio­si­tät set­zen, ist das eine. Das ande­re ist der Auf­stieg der Mar­ke zum Iden­ti­täts­fak­tor, zu Hei­mat und Idol.

Ob Sesam­stra­ßen-Pos­ter oder Bar­ba­pa­pa-Bett­wä­sche: erreicht wird ein wenn auch ober­fläch­li­cher Rück­zug ins Über­schau­ba­re, eine wär­men­de Erin­ne­rung an die Zeit, als man selbst noch Kind war und lie­be­voll umsorgt. Deut­lich wird die­se Art nost­al­gi­scher Sehn­sucht auch in den zahl­rei­chen, nicht geschicht­lich ori­en­tier­ten Retro-For­ma­ten der Fernsehsender.

In Dis­ko­the­ken mit älte­rer Ziel­grup­pe über­wie­gen im Musik­an­ge­bot die Remakes und Cover­ver­sio­nen: Depe­che Mode, The Smit­hs, Cock Robin – wie damals, Mit­te der Acht­zi­ger, als die Welt noch klei­ner schien und leich­ter zu über­bli­cken. Zah­len über voll­jäh­ri­ge Kon­su­men­ten von Baby­nah­rung – von deren mat­schi­gen Deri­va­ten via Schnell­im­biß gar nicht zu reden – lie­gen nicht vor, aber eige­ne Beob­ach­tun­gen über Ernäh­rungs­ge­wohn­hei­ten bestä­ti­gen, was der Psy­cho­ana­ly­ti­ker Edu­ard-Peter Koch anläß­lich des Anblicks Hipp-Gläs­chen löf­feln­der Erwach­se­ner kon­sta­tiert: Sie ergä­ben via „Baby­kost und einer ange­paß­ten Mei­nung“ ein gül­ti­ges Abbild einer Gesell­schaft, der „der auto­no­me Biß längst abhan­den gekom­men ist.“

Das ewi­ge Kind: was in Wahr­heit nur die Kon­se­quenz des durch sämt­li­che Instan­zen „frei­ge­lass­se­nen“ Men­schen ist, möch­ten Lin­ke lie­ber unter umge­kehr­ten Vor­zei­chen inter­pre­tie­ren. „Der moder­ne Kapi­ta­lis­mus“, stellt Tho­mas Roth­schild fest, „braucht Men­schen, die stets erneut nach einer raschen Befrie­di­gung durch Kon­sum gie­ren. Des­halb müs­sen sie zurück­ver­setzt wer­den in den Zustand von Kin­dern, die noch nicht gelernt haben, Frus­tra­ti­on zu tole­rie­ren.“ So weit, so klar.

Natür­lich wer­den in durch­li­be­ra­li­sier­ten Sozi­al­for­men Tech­ni­ken des Trieb­ver­zichts nicht mehr ein­ge­übt – es besteht kei­ne Not­wen­dig­keit. Die uto­pie­beses­se­ne Lin­ke geht frei­lich noch wei­ter. Das macht ihr Glau­ben an den eigent­lich mün­di­gen Men­schen, der heu­te durch Groß­kon­zer­ne und Unter­hal­tungs­in­dus­trie sei­ner Mün­dig­keit ent­le­digt werde.

Infan­til sei des­halb auch, so Roth­schild, die Sehn­sucht der Kon­ser­va­ti­ven nach einem star­ken Staat, nach Ritua­len und ver­bind­li­chen Ori­en­tie­rungs­re­geln, wie auch die affir­ma­ti­ve Lek­tü­re von Botho Strauß, Armin Moh­ler und Ernst Jün­ger den Men­schen in sei­ner selbst­ge­wähl­ten Unrei­fe kenn­zeich­ne­ten. I

m Lei­den am von noch bestehen­den hier­ar­chisch-patriacha­len Struk­tu­ren befan­ge­nen Men­schen denn – so sieht das die mar­xis­ti­sche Lin­ke – wird der­art der Gärt­ner zum Bock gemacht.

Hel­mut K. ist Schrift­stel­ler, der von sei­nem Beruf gut leben kann. Inspi­rier­te Pha­sen wer­den jedoch mit zuneh­men­dem Alter sel­te­ner, und so ver­bringt er beträcht­li­che Tei­le sei­ner Frei­zeit gemein­sam mit sei­ner Frau Bea­tri­ce an der Play-Sta­ti­on. Bea­tri­ce, vier­zig­jäh­rig wie ihr Gat­te, tüf­telt oft stun­den­lang an neu­en „Lara-Croft-Levels“.

K., erklär­ter Müt­ter- und Kin­der-Feind, gibt in sei­nem „Tage­buch des März 2003“ auch zu, daß das Alter ihn zuneh­mend „ani­mis­ti­scher“ mache: Da gibt es schon mal eine zärt­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­on mit dem PC-Gehäu­se, oder das neue Buch mit dem Lese­bänd­chen wird gewiegt „wie ein Baby mit Nabelschnur“. 

Eben­falls in sei­nen Tage­bü­chern schrieb K. gele­gent­lich von der Ver­ach­tung, die er sei­nen Eltern gegen­über emp­fin­det. Für ihn ist der Vater längst gestor­ben. Auch das ist bezeichnend. 

Das Ver­hält­nis von Kin­dern zu ihren Eltern ist natur­ge­ge­ben ein ambi­va­len­tes. Vom Dilem­ma des ado­les­zen­ten Jugend­li­chen spre­chen Mytho­lo­gie, Sozio­lo­gie und die Psy­cho­ana­ly­se. Anstel­le der Wech­sel­wir­kung von Vater­haß und Vater­ver­eh­rung ist heu­te weit­ge­hend die Ver­ach­tung des Vaters geblie­ben – wenn er nicht völ­lig fehlt, wie immer häu­fi­ger in der längst voll­gül­ti­gen Lebens­op­ti­on der allein­er­zie­hen­den Mutter.

Und wel­che Mut­ter hat heu­te noch Vor­bild­funk­ti­on? Pre­dig­ten die Groß­el­tern noch, daß „alles sei­nen Preis“ habe und daß man nur „auf einer Hoch­zeit“ tan­zen kön­ne, lau­te­te das ein­zi­ge Gebot der Eltern, selbst noch auf­ge­wach­sen in einer nor­mier­ten Gesell­schaft: „Mach, was du willst“.

Durch die­se erzie­he­ri­sche Schon­kost, so Vol­ker Mar­quardt, begin­ne die end­lo­se Suche – das Leben im Nie-ange­kom­men-sein. Eine „ödi­pa­le Mau­er“ (Bly) als Pro­be des Soh­nes an der Schwel­le zum Erwach­se­nen­al­ter ist nicht mehr in Sicht. Macht und Auto­ri­tät des Vaters haben sich längst aufgelöst.

Das ist natür­lich auch dem Kapi­ta­lis­mus geschul­det, der den Mann zum Lohn­skla­ven und Kon­su­men­ten mach­te, Wohn- und Arbeits­platz von­ein­an­der trenn­te, dem Mann aus­tausch­ba­re Auf­ga­ben als Räd­chen im Getrie­be in Ver­wal­tung oder Fließ­band­fer­ti­gung zuwies.

Durch die Los­lö­sung von tra­di­tio­nell männ­li­chen Auf­ga­ben wur­de der Mann, somit genu­in funk­ti­ons­los gewor­den, auf fata­le Wei­se domes­ti­ziert (der „Pan­tof­fel­held“, wie ihn ein­drucks­voll und immer­hin mit posi­ti­ver Pro­gno­se die Vater­fi­gur im „Wun­der von Bern“ dar­stell­te) und sei­ner Vor­bild­rol­le für den Sohn ledig.

Das ist die eine Sei­te. Dazu kommt eine Ent­wick­lung, die der Psy­cho­lo­ge Mit­scher­lich selbst unter­stützt hat­te: Die Gene­ral­ver­ur­tei­lung der Väter jener Gene­ra­ti­on, für die er schreib, die Aus­lö­schung des Vaters als tra­gen­den Teil der Kriegsgeneration.

Schuld tötet, weiß der Psy­cho­lo­ge, und abge­se­hen von einer rein uto­pisch wünsch­ba­ren „Ent­fal­tung der inte­gra­ti­ven Ver­nunft“, stell­te sich für ihn kei­ne Alter­na­ti­ve zu solch einem „mythi­schen Vater­mord“ dar. Über den Vater­mord sind wir hin­aus: längst hat sich der Vater selbst abgebaut.

Wo es an väter­li­chen Vor­bil­dern man­gelt, wo auch Päd­ago­gen, die heu­ti­gen „Ersatz­vä­ter“, nicht als respekt­ge­bie­ten­de Men­to­ren, son­dern als auto­ri­täts­lo­se Bezie­hungs- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mo­de­ra­to­ren agie­ren, blei­ben die Söh­ne klein.
Die jun­ge Schrift­stel­le­rin Malin Schwerdt­fe­ger hat zuletzt die­ses Phä­no­men und psy­cho­lo­gi­sche Sche­ma hell­sich­tig und glas­klar in ihrem Kurs­buch-Auf­satz „Wir Nutel­lakin­der“ beschrie­ben: Die Nach­kriegs­ge­nera­ti­on woll­te das „schmut­zi­ge Erbe“ der Eltern ausschlagen.

Zwar nah­men sie es „letzt­end­lich doch an – nach­dem sie erst abge­rech­net hat­ten, waren sie dann doch wie­der bereit, sich aus­zu­rech­nen, daß es sich mit dem Geld und den Tra­di­tio­nen der Eltern gar nicht so schlecht leben ließ (…) Aber nun gab es eine Scheu, das Erbe wei­ter­zu­ge­ben, denn das Erbe war ja eigent­lich schmut­zig, genau das hat­ten sie ihren Eltern ja einst vor den Bug geknallt. Und da war noch eine Scheu: die Scheu, Erwar­tun­gen in die eige­nen Kin­der zu set­zen, denn gegen die­se Art von Erwar­tun­gen hat­ten sie sich doch gera­de erst bis aufs Blut gewehrt.“

Schwerdt­fe­gers Fazit über die­se Gene­ra­ti­on ohne Ver­gan­gen­heit und Zukunft, die Gene­ra­ti­on der heu­te Drei­ßig­jäh­ri­gen: spät­ent­wi­ckelt und gleich­zei­tig früh­ver­greist. Das Pro­blem mit Schuld­ge­fühl und Süh­ne­be­dürf­nis als mora­li­schem Über­bau der ent­vä­ter­lich­ten Gesell­schaft aber ist eines der gesam­ten west­li­chen Welt.

Post­man und Bly sind nicht die ein­zi­gen, die deut­lich auf die auch in die­ser Hin­sicht fata­le Aus­wir­kung der TV-Mas­sen­kul­tur hin­ge­wie­sen haben: Die rei­ße­ri­schen Bil­der des Elends der Welt im all­ge­mei­nen, von Kata­stro­phen­mel­dun­gen im beson­de­ren sowie die Unzahl an Talk­shows, die den Men­schen in sei­ner nied­rigs­ten Form der Ent­blö­ßung zei­gen, kön­nen nicht anders als dem Zuschau­er ein Bild der abso­lu­ten Ehr­lo­sig­keit des Mensch­li­chen vermitteln.

Wer, selbst wenn die eige­ne Unschuld längst ver­lo­ren ist, wür­de ange­sichts sol­cher Schwem­me an adul­ter Wür­de­lo­sig­keit nicht lie­ber Kind blei­ben? Das Phä­no­men der poli­ti­cal cor­rect­ness, das im letz­ten Jahr­zehnt die west­li­che Welt geprägt hat, ist eben­falls ein deut­li­ches Symptom.

Die Spra­che der Väter wird als unrecht und mit Schuld behaf­tet emp­fun­den und folg­lich erneu­ert – mit­tels eines Ras­ters von Aus­weich­ma­nö­vern, das ein­deu­ti­ge Zuwei­sun­gen stets scheut und die­se Ver­mei­dungs­hal­tung zum Sys­tem erklärt. Auch das ist infantil.

Ralf, 37, inse­riert auf den Kon­takt­sei­ten eines sze­ni­gen Stadtmagazins:

Klei­ner Bär sucht Tiger! Uuups, schon Mit­te Drei­ßig – steht jeden­falls in mei­nem Paß, aber soll ich dem trau­en? – und noch immer ohne weib­li­ches Pen­dant? Wenn Du, eben­falls jung­ge­blie­be­ne 30+ –, mög­lichst nicht unter 1,75, einen lie­ben Wirr­kopf mit all sei­nen Wider­sprü­chen und nie abge­leg­ten Wider­spruchs­geist zu ertra­gen – zu schät­zen?!? – ver­magst und außer­dem Spaß hast an abend­li­chen Inline-Run­den, Fan­ta­sy (und viel­leicht auch mein Fai­ble für Comics tei­len oder akzep­tie­ren kannst…), dann gib Dir einen Ruck, trau Dich und sen­de mir eine SMS an…

Die längst nicht mehr fal­ten­frei­en Beam­tin, die in der Amts­stu­be wal­tet und Urkun­den aus­stellt, in der Nase ein Ring, auf den Fin­ger­nä­geln Straß­stein­chen und auf­ge­kleb­te Herz­chen oder der vier­zig­jäh­ri­ge Fili­al­lei­ter in Car­go-Pants und bedruck­tem T‑Shirt über lang­är­me­li­gen Pull­over: Sol­che Bil­der via Dress­code krampf­haft ein­ge­fro­re­ner Jugend­lich­keit sind zu all­täg­li­chen Ein­drü­cken geworden.

Als Zis­ves­tis­mus beschrieb Magnus Hirsch­feld sei­ner­zeit eine Erschei­nungs­form des patho­ge­nen Infan­ti­lis­mus, sym­pto­ma­tisch gefaßt als Nei­gung zum Tra­gen von Kin­der­klei­dung im Erwach­se­nen­al­ter. Die­se Stö­rung, beob­ach­te­te er, gehe regel­mä­ßig ein­her mit einer Bei­be­hal­tung der see­li­schen Art des Kin­des, teil­wei­se hin bis zu einer „gewis­sen Ver­wandt­schaft zu leich­ten Gra­den des Schwachsinns.“

Ern­tet die Gym­na­si­al­leh­re­rin, die im T‑Shirt mit fet­tem Auf­druck „Zicke“ vor ihre Klas­se tritt, posi­ti­ve Auf­nah­me oder ein mil­des Lächeln? Wies es die Psy­cho­ana­ly­se noch als gän­gi­ge Ent­wick­lung nach, daß Kin­der das Vor­bild ihrer Eltern ver­in­ner­lich­ten und nach­ahm­ten, so zeigt sich die­ser Vor­gang heu­te in sei­ner Umkehrung.

Wo bür­ger­li­che Fami­li­en im Kai­ser­reich Her­ren­an­zü­ge in Kin­der­grö­ße für den Nach­wuchs – den „klei­nen Erwach­se­nen“– maß­schnei­dern lie­ßen, da adap­tiert die kind­li­che Gesell­schaft Mode­strö­mun­gen und – zwän­ge ihrer jugend­li­chen Kinder.
Nun könn­te man rein quan­ti­ta­tiv argu­men­tie­ren: Wenn die Lebens­er­war­tung im letz­ten hal­ben Jahr­hun­dert um über 15 Jah­re ange­stie­gen ist, mag es eben eine ver­län­ger­te Span­ne der Jugend geben.

Allein: Jugend­wahn und Infan­ti­lis­mus spren­gen die über­lie­fer­ten Alters­gren­zen bei wei­tem. Die Umstän­de erlau­ben, Rei­fungs­pro­zes­se allent­hal­ben zu ver­mei­den. Früh­ver­greis­te Jugend­li­che stel­len Ansprü­che, die einem Rent­ner zukä­men, Sech­zig­jäh­ri­ge las­sen chir­ur­gi­sche Haut­straf­fun­gen vor­neh­men, wäh­rend Sechs­jäh­ri­ge im Kin­der­gar­ten halb­wis­send „Inter­na­tio­na­ler Ter­ro­rist“ spie­len und Vier­zehn­jäh­ri­ge in der Bild ihre zahl­rei­chen Män­ner­ge­schich­ten referieren.

Bän­de spricht die Kin­der­sen­dung Radio Kaka­du des ansons­ten eher infan­ti­lis­mus­un­ver­däch­ti­gen Deutsch­land­ra­dio Ber­lin über das Unver­mö­gen, Kind­ge­rech­tes von Unter­hal­tungs­be­dürf­nis­sen Erwach­se­ner zu unter­schei­den: Für Grund­schul­kin­der, die die Ziel­grup­pe sein dürf­ten, ist ein annä­hern­des Ver­ständ­nis der über­dreh­ten Albern­hei­ten nur unter Mode­ra­ti­on eines mit­hö­ren­den Erwach­se­nen möglich.

Wie soll erwach­sen wer­den, wer nie als Kind ver­stan­den wur­de? Wenn die sieb­zehn­jäh­ri­ge Chia­ra, Toch­ter der mon­dä­nen Bene­fiz-Lady Ute Oho­ven, ihre Lip­pen mit Sili­kon zu annä­hern­der Schlauch­boot­grö­ße auf­sprit­zen läßt, dann ist das als Signal in zwei Rich­tun­gen zu deu­ten, die glei­cher­ma­ßen fatal sind und die des Mäd­chens alters­ge­mä­ßen Sta­tus als Her­an­wach­sen­de leug­nen: Das Kind­chen­sche­ma mit einem gie­ri­gen Mund, der nach Sät­ti­gung durch die Mut­ter­brust heischt wird eben­so sug­ge­riert, wie die eben­so unan­ge­mes­se­ne Ver­hei­ßung sexu­el­ler Befriedigungsbereitschaft.

Der Wunsch Mit­scher­lichs, daß das Fak­tum der Vater­lo­sig­keit nicht mehr als läh­men­der Schre­cken wir­ke, daß es letzt­lich zur Rei­fung des Men­schen füh­re – die­se Hoff­nung auf und der Glau­be an Eman­zi­pa­ti­on fin­det kei­ne Begrün­dung in der Gegenwart.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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