Wie etwas bleibt

pdf der Druckfassung aus Sezession 38 / Oktober 2010

Wer exemplarisch vorgeführt bekommen möchte, wie man Traditionen...

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

pflegt und Über­lie­fe­run­gen wei­ter­trägt, kann zu dem in die­sem Früh­jahr erschie­ne­nen Roman Die Lein­wand grei­fen. Ver­faßt hat ihn der 1970 in Ost­ber­lin gebo­re­ne und zum Juden­tum kon­ver­tier­te Ben­ja­min Stein. Er hieß bis 1988 nicht so, son­dern anders – wie, das ver­schweigt er.

Die Lein­wand ist in die­ser Hin­sicht auto­bio­gra­phisch: Wie kann es gelin­gen, zu jeman­dem zu wer­den, der man ger­ne sein möch­te, obwohl die Her­kunft einen ganz ande­ren Lebens­weg nahe­leg­te? Die Lein­wand beschreibt aber auch, wie man in das hin­ein­wächst, was nahe­lag, viel­leicht sogar aus­weg­s­los vor­ge­ge­ben war, und wie gera­de in sol­cher Folg­sam­keit Erfül­lung und Stolz gefun­den wer­den können.

Ben­ja­min Stein schil­dert also zum einen die Kon­ver­si­on Jan Wechs­lers (spre­chen­der geht es nicht!) zum Juden­tum und – in dem ande­ren Teil des Romans – die streng jüdi­sche Erzie­hung eines in ein ortho­do­xes Eltern­haus hin­ein­ge­bo­re­nen Jungen.Um mit dem Kon­ver­ti­ten zu begin­nen: Es ist fas­zi­nie­rend und amü­sant zu erfah­ren, wel­che All­tags­ri­ten ein streng gläu­bi­ger Jude ein­hal­ten muß, selbst dann, wenn er in einer Groß­stadt wie Mün­chen lebt, wo die Wege weit und die Arbeits­ab­läu­fe rasant sind. Schon der Ein­stieg in die Geschich­te ist eine Gro­tes­ke für jeden, der den Kirch­gang ger­ne ein­mal aus­fal­len läßt, wenn bes­tes Bade­wet­ter ist. Nicht so Jan Wechs­ler, der gelern­te Jude: Ihm ist am Sab­bat nicht ein­mal erlaubt, von einem Kurier ein Paket ent­ge­gen­zu­neh­men, über Sei­ten zieht sich der Dia­log, ein Eier­tanz, den man unter­bre­chen möch­te mit dem Ruf: Ent­spann dich, nimm das Paket an, dein Gott wird es ver­zei­hen. Aber man kann in einen Roman nicht hin­ein­ru­fen, und lie­ße der Autor nicht in der Woh­nung gegen­über einen sehr ver­stän­di­gen und hilfs­be­rei­ten, nicht-jüdi­schen Nach­barn leben, der dem streng­gläu­bi­gen Juden über sol­che All­tags­hür­den hel­fen kann – der Kurier müß­te samt Paket wie­der abzie­hen und erneut zustellen.

So geht es immer wei­ter mit der Schil­de­rung von Vor­schrif­ten und Riten, die für Nicht­gläu­bi­ge nichts wei­ter als All­tags­hin­der­nis­se sind: Die Woh­nung muß in Syn­ago­gen­nä­he lie­gen, damit man am Fei­er­tag zu Fuß dort­hin gelan­gen kann (Ver­kehrs­mit­tel sind nicht erlaubt, und daß die Mie­te deut­lich höher liegt als in güns­ti­ge­ren Stadt­tei­len, wird in Kauf genom­men); der Frei­tag­nach­mit­tag gehört dem Gespräch und der reli­giö­sen Unter­wei­sung, es wird nicht gear­bei­tet, nicht gelärmt, nur gespro­chen und stu­diert; das Sab­bat-Mahl folgt stren­gen Regeln, und wenn man auf Rei­sen geht, muß man vor­her nach geeig­ne­ten Hotels und Restau­rants for­schen und für den Miß­er­folg gerüs­tet sein: »Ein kosche­res Hotel hat­te ich in der Gegend erwar­tungs­ge­mäß nicht fin­den kön­nen. Ich muß­te mich selbst ver­sor­gen. Mei­ne Frau pack­te mir eine fürst­li­che Lunch­box mit gekoch­ten Eiern, Sand­wi­ches, geschnit­te­nem Obst und vor­ge­schäl­ten Karot­ten. Für den zwei­ten Tag nahm ich eini­ge Pita-Bro­te mit, Humus und Tachi­na in zwei klei­nen Bechern und eine Dose Thun­fisch. Ver­hun­gern wür­de ich jeden­falls nicht.«

Das sicher nicht, und mehr: Wäh­rend jeder ande­re Gast zu den Mahl­zei­ten in den Spei­se­raum des Hotels geht und unter ande­ren Gäs­ten sitzt, wird Jan Wechs­ler oder Ben­ja­min Stein oder jeder ande­re gläu­bi­ge Jude sein ein­sa­mes Mahl auf dem Hotel­zim­mer ein­neh­men. Er wird dabei viel­leicht kurz damit hadern, daß er solch stren­gen Regeln unter­wor­fen ist. In die­sen Hader aber wird sich der Stolz dar­über mischen, daß er – der Jude – der­je­ni­ge ist, der Regeln ein­zu­hal­ten ver­mag, und der mit die­ser Dis­zi­plin sei­nem Gott dient. Jeden­falls wird er wäh­rend des Mahls und durch die abge­schot­te­te Situa­ti­on an den Glau­ben und an die Zuge­hö­rig­keit zu einer beson­de­ren, geson­der­ten Gemein­schaft erin­nert und knüpft im Voll­zug der All­tags­ri­ten das Band neu und wie­der ein Stück­chen fester.
Mit Sicher­heit lau­fen sol­che Bewußt­seins­vor­gän­ge in vie­len Fäl­len und Situa­tio­nen nicht an der Ober­flä­che des Bewußt­seins ab. Es ist eher so, daß sich reli­giö­se Vor­schrif­ten und All­tags­ri­ten ein­schlei­fen, daß sie ohne beton­te Fei­er­lich­keit beach­tet und aus­ge­übt wer­den. Aber sie sor­gen dafür, daß eine Tra­di­ti­on all­tags­re­gelnd, lebens­be­glei­tend und –bestim­mend bleibt, also in den täg­li­chen Lebens- und Wahr­neh­mungs­voll­zug ein­drin­gen konn­te und immer wie­der zur unbe­wuß­ten oder bewuß­ten Unter­schei­dung von ande­ren führt.

Ein Tisch­ge­bet zu Hau­se gehört zur Rou­ti­ne, ein Tisch­ge­bet in einem öffent­li­chen Restau­rant ist ein gesetz­ter Akt, und wenn man in Ben­ja­min Steins Lein­wand liest, wie schwie­rig sich der Besuch eines Juden selbst bei einem ande­ren, jedoch nicht ganz so auf Eß‑, Trink- und Hygie­ne­vor­schrif­ten pochen­den Juden anläßt, dann hat man den Ein­druck, hier lebe einer sei­ne Tra­di­ti­ons­ver­fan­gen­heit doch bis zur Unhöf­lich­keit aus. »Er begrüß­te mich über­schwäng­lich«, heißt es da an einer Stel­le, »und führ­te mich zuerst in die Küche. Er hat­te tat­säch­lich ein­ge­schweiß­tes Ein­weg­ge­schirr besorgt und sogar eine neue Kaf­fee­ma­schi­ne ange­schafft, die er mich aus­zu­pa­cken bat.«
Ein­ge­schweißt, neu, noch ori­gi­nal ver­packt – alles dreht sich um Rein­heit, um das Unver­schmutz­te, um eine pein­li­che Hygie­ne. Die Fort­set­zung sol­cher Unbe­fleckt­heit ins Den­ken und in die Erzie­hung hin­ein ist des­halb nicht ver­wun­der­lich. Und in der Tat: Der ande­re Teil der Lein­wand beschreibt die Lehr- und Wan­der­jah­re eines Soh­nes aus ortho­do­xem Hau­se, Amnon Zichro­ni, der in Jeru­sa­lem der Tal­mud-Schu­le ver­wie­sen wird, weil er unter der Bank ein welt­li­ches Buch las. Er wird zu einem Nenn­on­kel in die Schweiz geschickt, aber dort beginnt nicht etwa das locke­re, euro­päi­sche Groß­stadt­le­ben fern von den Zen­tren der jüdi­schen Orthodoxie.

Viel­mehr gibt es auch in Zürich jede denk­ba­re Mög­lich­keit der Beschu­lung jun­ger Juden, in Anspruch, Stren­ge und Glau­ben­s­exakt­heit nicht einen Mil­li­me­ter neben dem lie­gend, was der Schü­ler in Jeru­sa­lem hin­ter sich ließ.
Die Hoff­nung auf mehr Welt­lich­keit zer­schlägt sich, und die Schil­de­rung der Zür­cher Jah­re gip­felt in einem kur­zen, rebel­li­schen Moment. Zichro­ni, mitt­ler­wei­le 19, begehrt auf, als ihm sein Onkel mit­teilt, wel­che streng jüdi­sche Uni­ver­si­tät er für ihn aus­ge­sucht habe. »War­um, frag­te ich ihn, soll­te ich auch in den kom­men­den Jah­ren drei Vier­tel mei­ner Zeit über den zwölf Tal­mud-Bän­den und ande­ren from­men Büchern ver­brin­gen, wenn doch eine unglaub­li­che Fül­le welt­li­chen Wis­sens und ein gan­zes Uni­ver­sum gro­ßer Lite­ra­tur auf mich warteten?«

Der Onkel ver­schiebt die Ant­wort und nimmt den Rebel­len eini­ge Tage spä­ter mit in sei­ne Juwe­lier­werk­statt, um ihm Deman­to­ide zu zei­gen. Die­se Stei­ne zeich­nen sich – so wird es beschrie­ben – durch eine gleich­mä­ßi­ge Rein­heit aus, gewin­nen ihre Schön­heit aber durch Ein­schlüs­se, das Chry­so­lith. Der Onkel läßt Zichro­ni nun schät­zen, wie­viel Raum die­ses Chry­so­lith ein­näh­me. Man einigt sich auf höchs­tens fünf Pro­zent, mehr wäre zuviel, mehr wür­de den Ein­druck des Ein­spreng­sels inmit­ten der Rein­heit zer­stö­ren, über­tra­gen: den Ein­druck der Indi­vi­dua­li­tät und des span­nen­den welt­li­chen Ein­trags inmit­ten der rei­nen, als Fun­da­ment ver­mit­tel­ten, ortho­do­xen Lehre.

Jüdi­scher Tra­di­ti­ons­ver­mitt­lung ist zwei­fels­oh­ne vor­bild­lich. Karl­heinz Weiß­mann hat vor Jah­ren unter dem Titel Bibli­sche Lek­tio­nen die Bedeu­tung klei­ner Grup­pen her­vor­ge­ho­ben, die in Momen­ten der Iden­ti­täts­be­dro­hung und der exis­tenz­ge­fähr­den­den Assi­mi­lie­rung in der Lage wären, das Volks­be­wußt­sein zu wah­ren und zu ver­brei­ten: »Sol­che Tra­di­ti­ons­kom­pa­nien sam­meln die ent­schei­den­den Iden­ti­täts­ele­men­te und schaf­fen ein sta­bi­les Eli­te­ge­fühl«, und wenn es soeben leicht war, eini­ge die­ser Hal­te­grif­fe für die gläu­bi­gen Juden aus einem Roman her­aus­zu­schrei­ben (nebst inne­woh­nen­dem Eli­te­ge­fühl), so muß es doch schwer­fal­len, neben dem Holo­caust, der Fuß­ball­bun­des­li­ga und dem ADAC noch wei­te­re Bau­stei­ne für die Behau­sung iden­ti­täts­be­wuß­ter Deut­scher zu benen­nen. Ganz humor­los gesagt: Denen, die an Deutsch­land, den Deut­schen, der deut­schen Nati­on fest­hal­ten wol­len, ist die gro­ße Erzäh­lung nicht wei­ter­erzählt wor­den, ist die Ver­bind­lich­keit der geschicht­li­chen Über­lie­fe­rung, der his­to­ri­schen Hal­te­grif­fe, der Namen, die man nennt, und Bücher, die man liest, abhan­den gekommen.

Es ist ein biß­chen stra­pa­zi­ös, die jüdi­sche Ortho­do­xie hier und die Zuge­hö­rig­keit zur deut­schen Nati­on dort in Fra­gen der Tra­die­rung zu ver­glei­chen. Aber wenn hier für den Geschmack des moder­nen Men­schen zuviel an Tra­di­ti­on, Vor­schrift und star­rem Iden­ti­täts­kor­sett geschul­tert wer­den muß, so ist dort für jeden nicht ganz an die Moden der Moder­ne ver­lo­re­nen Geist davon ent­schie­den zuwe­nig vor­han­den. Der ehe­ma­li­ge Bun­des­ban­ker Thi­lo Sar­ra­zin, der­zeit in aller Mun­de, hat das wohl eher unfrei­wil­lig auf den Punkt gebracht und vor­ge­führt: Er schreibt in sei­nem Buch Deutsch­land schafft sich ab, daß bald, all­zu­bal­de nie­mand mehr in der Lage sein wer­de, Kul­tur­gut wie etwa Goe­thes Gedicht »Über allen Gip­feln ist Ruh« aus­wen­dig auf­zu­sa­gen. In einer Fern­seh­run­de wur­de die­se Ver­mu­tung bestä­tigt: Kei­ner der Anwe­sen­den war in der Lage, die paar Ver­se zu spre­chen (mit Aus­nah­me Sar­ra­zins natür­lich). Einer Run­de tra­di­ti­ons­be­wußt erzo­ge­ner Juden wäre dies – ange­spro­chen auf eine Tal­muds­en­tenz – sicher nicht passiert.
Weg nun von die­ser welt­his­to­risch ziem­lich ein­ma­li­gen Ver­knüp­fung aus reli­giö­ser, geschicht­li­cher und ras­si­scher Tra­die­rung eines So-und­nicht-anders-Seins im Juden­tum, hin zu den Deut­schen, genau­er: zu einer kon­ser­va­ti­ven, das heißt in die­sem Fall rech­ten, klei­nen Grup­pe, die im Moment der Iden­ti­täts­be­dro­hung und der exis­tenz­ge­fähr­den­den Assi­mi­lie­rung auf den Plan tritt, um die ent­schei­den­den Iden­ti­täts­ele­men­te zu sam­meln und das Volks­be­wußt­sein zu wah­ren und zu ver­brei­ten. – Was wäre die Auf­ga­be die­ser rech­ten Intel­li­genz, was wäre die gerings­te For­de­rung, das »kon­ser­va­ti­ve Mini­mum«? Die Auf­ga­be wäre doch wohl eher ein Maxi­mum, jeden­falls kei­ne gerin­ge For­de­rung: Es wäre ein Kanon auf­zu­stel­len, ein Lek­tü­re-Kanon, und zwar kein fach­chi­ne­si­scher, son­dern einer, den mit eini­ger Anstren­gungs­be­reit­schaft jeder halb­wegs intel­li­gen­te Schü­ler und Stu­dent soll­te absol­vie­ren können.

Man kann auf den Kon­junk­tiv ver­zich­ten: Karl­heinz Weiß­mann und Erik Leh­nert haben einen sol­chen Kanon nun auf­ge­stellt, erschei­nen wird er im Dezem­ber als Band 2 des Staats­po­li­ti­schen Hand­buchs, unter dem Titel Schlüs­sel­wer­ke. Die­ser Kanon umfaßt rund hun­dert­fünf­zig Tex­te und soll­te jenen, die es ernst mei­nen mit der Tra­di­ti­ons­bil­dung und dem gemein­sa­men Ver­stän­di­gungs­so­ckel, als ver­bind­lich gel­ten. Daß einer Che­mie und nicht Geschich­te, Bau­in­ge­nieur­we­sen und nicht Jura stu­diert, also fach­fremd ist, kann über­haupt kei­ne Rol­le spie­len; die Über­zeu­gung von und die geis­ti­ge Aus­ein­an­der­set­zung mit etwas sind nicht an eine Fakul­tät gebun­den, und wer mit sech­zehn beginnt, hat mit fünf­und­zwan­zig die­se ein­hun­dert­fünf­zig Bücher und Auf­sät­ze gele­sen, um die es geht – etwa ein Werk jeden Monat.

Das will bewäl­tigt wer­den, und ein so ler­nen­der jun­ger Mensch wird zusätz­lich zu sei­nem schu­li­schen oder uni­ver­si­tä­ren Pen­sum ein Buch auf­schla­gen und wei­ter in sei­nem Speng­ler oder Jün­ger oder Schmitt oder Kon­dy­lis lesen müs­sen. Er wird dabei viel­leicht kurz damit hadern, daß er sich die­sen Lek­tü­re­plan auf­ge­la­den hat. In sei­nen Hader aber wird sich der Stolz dar­über mischen, daß er der­je­ni­ge ist, der wirk­lich stu­diert, ein Fun­da­ment mau­ert und zu etwas wird, was man vor­aus­set­zungs­los nur im Keim schon ist – unent­wi­ckelt, viru­lent, noch nicht in Form gebracht. Jeden­falls wird er wäh­rend der Lek­tü­re und durch die abge­schot­te­te Situa­ti­on an die Zuge­hö­rig­keit zu einer beson­de­ren, geson­der­ten Gemein­schaft erin­nert, an eine Kom­pa­nie des Geis­tes und der Anstren­gungs­be­reit­schaft, und jede Buch­sei­te knüpft das Band ein biß­chen fester.
Wie inkon­se­quent erscheint vor die­sem Bild das Ver­ständ­nis für sol­che, die – etwa auch auf den Aka­de­mien des Insti­tuts für Staats­po­li­tik – einem Refe­ren­ten lau­schen, ohne sich auf ihn und sei­ne The­sen vor­be­rei­tet zu haben. Es gäbe viel zu sagen über den trau­ri­gen Mut der ahnungs­lo­sen Wort­mel­dung, über Sät­ze, die mit »Ich fin­de« oder »Für mich ist« begin­nen und aus dem Moment her­aus Erkennt­nis­se gebä­ren, die der Mann am Red­ner­pult in sei­nem längst ver­öf­fent­lich­ten Buche glück­lich schon zur Welt gebracht – und ent­fal­tet hat. Den jähen, ori­gi­nel­len, von kei­nes Geis­tes Bläs­se ange­krän­kel­ten Sturm und Drang in Ehren – aber hun­dert Pro­zent Indi­vi­dua­lis­mus nebst stei­lem Auf­tre­ten rei­chen zwar für ein Wort­ge­fecht aus, nicht jedoch für eine Ver­grö­ße­rung des Klang­rau­mes einer Tradition.
In der Lein­wand Ben­ja­min Steins ist der inter­es­san­te­re Teil des Romans zwei­fel­los der­je­ni­ge über die Kon­ver­si­on Jan Wechs­lers. War­um? Weil es auch im Fal­le einer tra­di­ti­ons­be­wuß­ten, kon­ser­va­ti­ven Grup­pe stets dar­um geht, mög­li­che Kon­ver­ti­ten auf­zu­spü­ren und ihnen zur »zwei­ten Geburt« (Armin Moh­ler) zu ver­hel­fen. Und dies ist eben nicht bil­lig zu haben, son­dern bedarf jenes Klang­raums, in dem Inhal­te und Form einer kon­ser­va­ti­ven Welt­an­schau­ung abge­stimmt zu Stimm­füh­rern wer­den. Es mag einen gewis­sen Pro­zent­satz an Wech­sel­wil­li­gen und ‑fähi­gen geben, denen das Argu­ment genügt. Der weit­aus grö­ße­re Teil wird sich aber nicht aus logi­schen Grün­den, son­dern auf­grund einer Atmo­sphä­re, eines voll­to­ni­gen Wohl­klan­ges anlo­cken und »tau­fen« lassen.

Dies gilt aus­ge­wei­tet natür­lich auch für die Idee der Nati­on und für den Gang unse­res Vol­kes durch die Zeit: Wer sol­che his­to­ri­schen Grö­ßen begriff­lich, gar juris­tisch auf­fä­delt und dar­aus eine Daseins­be­rech­ti­gung ablei­ten möch­te (oder auch nicht), hat von der Wir­kungs­macht der »gro­ßen Erzäh­lung« und von Deutsch­land als einem »Lebe­we­sen, das zwei­tau­send Jah­re alt ist« nichts begrif­fen. Die Geschich­te muß erzählt wer­den, und sie muß über­wäl­ti­gend erzählt wer­den, bruch­los, als Geschich­te eben, Schicht auf Schicht. Im Vor­wort zu einem Gesprächs­bänd­chen mit Karl­heinz Weiß­mann steht etwas über eine sol­che »gro­ße Erzäh­lung«, über ein gewal­ti­ges Bild, das Gewalt aus­zu­üben imstan­de ist, das zwin­gend ist und aufrüstend.

Das war Mit­te der neun­zi­ger Jah­re, Weiß­mann ließ zum Ende eines Vor­trags hin »an den Hörern den his­to­ri­schen Zug der Deut­schen vor­bei­zie­hen, nann­te Kai­ser­ge­schlech­ter, Bau­ern­füh­rer, Sied­ler, Künst­ler, Den­ker, Epo­chen, alles selbst­ver­ständ­lich und vor allem ohne Rela­ti­vie­rung. Als er auf die Epo­che des Drit­ten Reichs zusteu­er­te, hielt die Men­ge im Saal den Atem an. Und Weiß­mann rief die Front­sol­da­ten, die Män­ner des 20. Juli, die KZ-Häft­lin­ge, die letz­ten Ver­tei­di­ger der Ost­gren­ze, die Ver­trie­be­nen und die Spät­heim­keh­rer auf; ließ dann, ohne die Abfol­ge zu unter­bre­chen, die Arbei­ter des 17. Juni 1953 fol­gen, um mit denen zu enden, die die Mau­er ein­ge­ris­sen hatten.«
Die Wir­kung die­ses »gro­ßen Schlach­ten­ge­mäl­des« auf die Anwe­sen­den war spür­bar, in man­chen Fäl­len – obwohl ein ein­ma­li­ges, nicht ritua­li­sier­tes Erleb­nis – sogar nach­hal­tig. Sich solch eine wirk­mäch­ti­ge Erzäh­lung anzu­hö­ren, ihren Neben­strän­gen zu fol­gen und sie selbst erzäh­len zu ler­nen, hat indes mit den All­tags­hin­der­nis­sen einer aus Glau­bens­re­geln und Riten bestehen­den reli­giö­sen Tra­di­ti­on nichts zu tun. Man bleibt bei all­dem fle­xi­bel, stark indi­vi­du­ell, und das Ver­hält­nis, das oben am Bei­spiel des Deman­to­iden in Ben­ja­min Steins Roman beschrie­ben wur­de, mag sogar umge­kehrt sein: Dann wür­den in den gro­ßen Indi­vi­dua­lis­mus fünf Pro­zent Ver­bind­lich­keit ein­ge­mischt. Zwei­fels­oh­ne muß vom Durch­schnitt sich lösen, wer die Auf­ga­be der Iden­ti­täts­wah­rung, der Tra­di­ti­ons­wei­ter­ga­be angeht und sich die­se fünf Pro­zent erar­bei­ten möchte.
Vom Durch­schnitt sich lösen heißt dann vor allem: das Heu­te nicht für die Krö­nung zu hal­ten son­dern für eine wei­te­re Schicht, wie Micha­el Klo­novs­ky es in sei­nem Auf­satz Geschichts­sinn beschreibt, neben­bei Gil­bert K. Ches­ter­ton zitie­rend: »Tra­di­ti­on ist Demo­kra­tie für die Toten. Sie ist die Wei­ge­rung, der klei­nen, anma­ßen­den Olig­ar­chie derer, die zufäl­lig gera­de auf der Erde wei­len, das Feld zu überlassen.«

Zurück noch­mals zur Lein­wand: In die­sem viel­schich­ti­gen Roman steckt noch eine wei­te­re Leh­re, eine Aneig­nungs­form der gro­ßen Erzäh­lung, die gera­de­zu abschüs­sig wer­den kann. Letzt­lich krei­sen näm­lich bei­de Erzähl­strän­ge – der des Kon­ver­ti­ten und der des ein­ge­bo­re­nen Ortho­do­xen – um eine zeit­ge­nös­si­sche Per­son, die es so tat­säch­lich gab. Stu­die 11 des Insti­tuts für Staats­po­li­tik, in der es um den Schuld­stolz der Deut­schen geht, hebt gar mit die­sem Bei­spiel einer Opfer­an­ma­ßung an: Es war 1995, als Bin­ja­min Wil­ko­mir­ski sei­ne auto­bio­gra­phi­schen Bruch­stü­cke. Aus einer Kind­heit 1939–1948 vor­leg­te und dar­in über die Greu­el sei­ner Lei­dens­zeit in deut­schen KZ Bericht erstat­te­te. Erst drei Jah­re und vie­le Aus­zeich­nun­gen spä­ter wur­de Wil­ko­mir­ski als Fäl­scher sei­nes eige­nen Lebens und als eigent­lich unehe­li­ches Kind und Wai­sen­hauszög­ling ent­tarnt. In Die Lein­wand heißt er Min­sky, und Jan Wechs­ler ist jener, der ihn entlarvt.

Hier ist, das lehrt die­ser Fall, einer sogar zum Opfer einer ganz gro­ßen Erzäh­lung gewor­den, einer Erzäh­lung, die – obwohl recht eigent­lich »Geschich­te« wie so manch ande­res – der­art ritua­li­siert und sche­ma­ti­siert wei­ter­erzählt wird, daß sie aus dem Raum des Welt­li­chen (und damit Dis­ku­ta­blen) in eine reli­giö­se Sphä­re (eine zivil­re­li­giö­se, aber immer­hin!) gewech­selt ist. Wilkomirski/Minsky woll­te zum Teil die­ser Erzäh­lung wer­den, und die­ser pro­mi­nen­te Fall ist wie­der­um ein gutes Bei­spiel dafür, wie das in abge­schwäch­ter Form durch­aus zum Plan jeder »gro­ßen Erzäh­lung « dazu­ge­hört. Man muß nur ein­mal einem alten 68er zuhö­ren, wenn er von den Demos und Sit-Ins der Kampf­zeit zu berich­ten beginnt – und mehr und mehr die Distanz ver­liert, die er sicher­lich räum­lich zu den gro­ßen Ereig­nis­sen sei­ner Bewe­gung hat­te. Zuletzt erzählt er die Geschich­te viel­leicht sogar so, als sei er direkt neben einem Mit­strei­ter gestan­den, der von einem Poli­zis­ten nie­der­ge­knüp­pelt wur­de. In Wirk­lich­keit stand er zwar ganz woan­ders, und nie­der­ge­knüp­pelt wur­de auch nicht, son­dern allen­falls abge­drängt. Aber die Geschich­te ist ein biß­chen schö­ner und vor allem ein gro­ßes Stück mobi­li­sie­ren­der, wenn es knallt und kracht.
Die Auf­ga­be der rech­ten Intel­li­genz ist – neben der Publi­ka­ti­on der rich­ti­gen Tex­te und der Aus­wei­tung geis­tig besetz­ten Gelän­des – die Schaf­fung viru­len­ter Momen­te und Situa­tio­nen. Die »gro­ße Erzäh­lung«, die Atmo­sphä­re der Tra­di­ti­on, der Ton des Klang­raums – das alles kann in sei­ner Wirk­mäch­tig­keit auch dar­an abge­mes­sen wer­den, ob die­je­ni­gen, die davon hören und sich hin­ein­ver­tie­fen, dabei­ge­we­sen sein wol­len. Der Stolz des Dazu­ge­hö­rens muß die Mühe des Ein­tritts über­strah­len. Nur dann bleibt etwas, bleibt mehr als Papier.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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