Konservative und Literatur

pdf der Druckfassung aus Sezession 39 / Dezember 2010

von Günter Scholdt

Neulich überkam mich wieder einmal mit Macht das Bewußtsein unserer Defizite. Ein begabter Liedermacher sang eine reizvolle Ballade von einem Raubtier,...

des­sen Erschei­nung eine fried­li­che Gesell­schaft in eine wöl­fi­sche ver­wan­delt. Das Publi­kum ließ sich packen und quit­tier­te die Deu­tung des Autors, daß sich der Text gegen rech­te frem­den­feind­li­che Dem­ago­gen rich­te, mit zusätz­li­chem Bei­fall. Und wer woll­te bei sol­chem Pro­blemar­ran­ge­ment auch nicht zustim­men und sich aus­schlie­ßen aus einer Gesin­nungs­ge­mein­schaft der Guten und Tole­ran­ten, die zudem noch so ergrei­fen­de Lie­der auf ihrer Sei­te hat?

Die­sel­ben Leu­te, die im all­täg­li­chen Erfah­rungs­be­reich zum Teil ganz ande­re Wolf-Sto­rys erle­ben mit ande­ren Aus­gän­gen, Opfern oder Sor­gen (von migra­ti­ons­be­dingt ver­kom­me­nen Schu­len bis miß­han­del­ten Ein­hei­mi­schen), applau­die­ren den immer glei­chen Geschich­ten und Gesell­schafts­ideen eines lin­ken »gut­mensch­li­chen« Main­streams. Sie tun es bes­ten Gewis­sens, berauscht, ver­führt oder erpreßt von der schein­bar alter­na­tiv­lo­sen Macht der Wor­te, Bil­der und Klän­ge. Alter­na­tiv­los, weil nun schon seit Jahr­zehn­ten kaum rela­ti­vie­ren­de Gegen­ge­sän­ge zu ver­neh­men sind, kaum Gegen­er­zäh­lun­gen, Gegen­ro­ma­ne, ‑dra­men oder ‑fil­me, die ande­re Aspek­te zur Gel­tung brin­gen oder ande­re Schluß­fol­ge­run­gen zie­hen. Und ein cir­cu­lus vitio­sus schließt sich unaus­ge­spro­chen im Bewußt­sein der Mehr­heit, wonach böse Men­schen eben kei­ne Lie­der haben.
Ganz anders im »guten« lin­ken Lager. Ein Bier­mann, ein Degen­hardt, Joan Baez oder Bob Dylan begeis­ter­ten sei­ner­zeit mit ihrer Gitar­re, danach Grö­ne­mey­er, die »Toten Hosen« oder ande­re so unge­mein tap­fe­re Orga­ni­sa­to­ren des »Rock gegen rechts«. Dau­er­prä­mier­te Star­au­toren, Come­dy, Kaba­rett und Film­in­dus­trie bedie­nen im Grund­satz uni­so­no das eine poli­ti­sche Groß­la­ger, so pseu­do­kri­tisch sie sich auch bei par­tei­po­li­tisch beding­ten Bin­nen­dif­fe­ren­zen gebär­den. »Der Geist steht links«, lern­te ich sozu­sa­gen als Entree mei­ner stu­den­ti­schen Lauf­bahn als Ger­ma­nist und His­to­ri­ker bereits 1967. Nun, der Geist tut dies gewiß nicht, die Lite­ra­tur aber schon. Und das zu ver­ste­hen, ist rela­tiv leicht, wobei sich ideel­le und mate­ri­el­le Grün­de mischen.
Zunächst ein­mal gehört ein Schuß sozia­ler Empö­rung zu den Haupt­ur­sa­chen des Schrei­bens. Seit der Auf­klä­rung iden­ti­fi­zie­ren sich zahl­rei­che Autoren mit gesell­schaft­lich Zukurz­ge­kom­me­nen oder durch Kir­che und Staat Ver­folg­ten. Büch­ners Losung »Frie­de den Hüt­ten, Krieg den Paläs­ten! « liest sich als Pro­gramm­spruch des moder­nen Autors. Die gan­ze Mensch­heit soll befreit, sozi­al oder eth­nisch gleich­ge­stellt, Wohl­stand für alle gesi­chert, Krieg geäch­tet wer­den. Und solan­ge es nicht brei­ten­wirk­sam gelingt, zu ver­deut­li­chen, daß es einer poli­ti­schen Alter­na­ti­ve nicht dar­um geht, Mensch­heits­träu­me wie Frei­heit, Gleich­heit, Brü­der­lich­keit, Ras­sen­ver­söh­nung, Welt­frie­den etc. zu dis­kre­di­tie­ren, son­dern nur deren blau­äu­gi­ge, zuwei­len gefähr­li­che Ver­kün­dung oder poli­ti­sche Umset­zung, die nicht sel­ten im Gegen­teil des Ver­spro­che­nen endet, besitzt die­se Ent­schei­dung ja auch frag­los mora­li­sche Plausibilität.
Mit dem welt­wei­ten zumin­dest ver­ba­len Sie­ges­zug sozia­lis­ti­scher Ideen in fast allen Par­tei­en und poli­ti­schen Grup­pie­run­gen wuch­sen auch ent­spre­chen­de Steue­rungs- und Sank­ti­ons­mög­lich­kei­ten. In Nach­kriegs­deutsch­land kam noch eine nie aus­ge­setz­te Ree­du­ca­ti­on-Ideo­lo­gie hin­zu. Infol­ge­des­sen wird in unse­rer von Netz­wer­ken beherrsch­ten Medio­kra­tie eine alter­na­ti­ve rech­te Kul­tur­sze­ne dif­fa­miert, allen­falls in Nischen gedul­det oder durch geziel­tes Ver­schwei­gen qua­si aus­ge­hun­gert. Ich bezweif­le denn auch nicht, daß es auch heu­te beacht­li­che kon­ser­va­ti­ve Talen­te, Cha­rak­te­re, Denk- und Emp­fin­dungs­wei­sen gibt. Aber ihnen fehlt bis­lang die Infra­struk­tur, um in der Brei­te wahr­ge­nom­men zu wer­den, also: Ver­la­ge, Zeit­schrif­ten, Radio- und TV-Redak­tio­nen, Schrift­stel­ler­ver­bän­de, Kul­tur­sen­dun­gen, Thea­ter, Agen­tu­ren, Mäze­ne, Kri­ti­ker, Preis­rich­ter und Leser, die sich für sie ein­set­zen. Und weil dies so ist, ori­en­tiert sich so man­cher poten­ti­el­le Ver­tre­ter unse­rer Ideen eben anders, gemäß dem recht hand­fes­ten Prin­zip, das schon einem Walt­her von der Vogel­wei­de geläu­fig war: »Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing«. Für »gut­wil­lig« Ange­paß­te hält das Sys­tem näm­lich mit einer rela­ti­ven Fül­le an Prei­sen, Sti­pen­di­en und Jobs ja doch noch so man­che Fut­ter­krip­pe bereit.

An die­ser Stel­le könn­te alle Dia­gno­se in ein nicht unbe­rech­tig­tes Lamen­to mün­den über die unfai­re feind­li­che, alles ver­hin­dern­de Medi­en­do­mi­nanz. Aber das wäre nur die hal­be Wahr­heit und unter­schlü­ge den eige­nen Bei­trag zu die­ser Mise­re. Schließ­lich war es nicht immer so, daß die Grass, Böll, Jens, Giord­a­no und ihre heu­ti­gen Epi­go­nen mit den ein­fach gestrick­ten Bestands­auf­nah­men zur Lage der Nati­on allein das Feld beherrsch­ten. Da gab es ja auch noch ande­re Namen, die heu­te ver­drängt sind und deren Akti­ons­raum prak­tisch kampf­los preis­ge­ge­ben wur­de. Und dies wie­der­um geschah – ein wenig pla­ka­tiv gesagt –, weil die kon­ser­va­ti­ve Eli­te in kul­tu­rel­ler Hin­sicht zuneh­mend illi­te­rat gewor­den ist.
Denn kauf­ten sie noch in nen­nens­wer­ter Wei­se Bücher, läsen sie und reagier­ten auch mal hef­tig auf Zumu­tun­gen und Absur­di­tä­ten in all­zu ein­sei­ti­gen Feuil­le­tons, wäre die­ser ideel­le Kahl­schlag weni­ger dras­tisch erfolgt. Säßen sie als ernst­zu­neh­men­de Sach­ver­stän­di­ge in Kul­tur­gre­mi­en, wir hät­ten ande­re lite­ra­ri­sche Nor­men und Reprä­sen­tan­ten. Gin­gen sie noch ins Thea­ter und misch­ten sich ein, wir hät­ten ein ande­res. Doch wo sind sie geblie­ben: die gebil­de­ten Ärz­te, die sprach­be­wuß­ten Juris­ten, mit denen man sich vor Jahr­zehn­ten noch in ansehn­li­cher Zahl geist­reich unter­hal­ten konn­te? Wo die Natur­wis­sen­schaft­ler und Inge­nieu­re, die es echt bedau­er­ten, daß sie berufs­be­dingt von vie­lem bedeut­sa­men Schö­nen getrennt sind, so wie ich es als Man­ko emp­fin­de, in wirk­li­che Höhen mathe­ma­ti­scher, phy­si­ka­li­scher, archäo­lo­gi­scher oder astro­no­mi­scher Ent­de­ckun­gen nur in äußerst beschei­de­ner, allen­falls ver­mit­tel­ter Wei­se zu gelangen?
Statt­des­sen land­auf, land­ab Spe­zia­lis­ten, die wenig ver­mis­sen und für die Bel­le­tris­tik zumin­dest im über­tra­ge­nen Sinn ein Fremd­wort ist. Ich begeg­ne Leu­ten, die sich für kon­ser­va­tiv-bür­ger­lich und gebil­det hal­ten, weil sie aus ihrer Schul­zeit noch Ril­kes »Pan­ther« zitie­ren kön­nen, aber mit die­sem nie­mals auf ihr Leben bezo­ge­nen Ein­ge­trich­ter­ten auch schon ein nie mehr erwei­ter­tes kul­tu­rel­les Maxi­mum zur Schau stel­len. Bücher kau­fen sie höchs­tens zum Ver­schen­ken, am bes­ten reprä­sen­ta­ti­ve Bild­bän­de. Der PR-Chef einer Bank, den ich um Unter­stüt­zung für eine Tra­di­ti­ons­rei­he bat, schrak zusam­men, als ich ihm einen Gedicht­band zum Hin­ein­blät­tern hin­hielt, und mus­ter­te mich fast so ange­wi­dert, als hät­te ich ihn unsitt­lich betatscht. Ein Ten­nis- oder Golf­tur­nier wol­le er ger­ne spon­sern, ein Kon­zert viel­leicht, bes­ser noch eine Ver­nis­sa­ge, aber labb­ri­ge Lyrik …
Eine Aus­nah­me? Eher die Regel. Wel­cher Amts­trä­ger defi­nier­te sich noch wie in Frank­reich über Spra­che und Lite­ra­tur? Wel­chen »kon­ser­va­ti­ven « Poli­ti­ker sähe man bei Lesun­gen, Thea­ter­auf­füh­run­gen, als Lite­ra­tur­ken­ner in Rund­funk­rä­ten oder Preis­ko­mi­tees? Man sichert sich, wenn’s geht, das Finanz‑, Innen‑, Wirt­schafts- oder Jus­tiz­res­sort. Doch das Kul­tus­mi­nis­te­ri­um oder des­sen Kul­tur­ab­tei­lung kon­ze­diert man meist frei­ge­big dem Koali­ti­ons­part­ner. Der Abtei­lungs­lei­ter eines Wirt­schafts­mi­nis­te­ri­ums gestand mir ohne Scheu, seit min­des­tens einer Deka­de kein (bel­le­tris­ti­sches) Werk mehr gele­sen zu haben. Nicht etwa weil ihm die Trends vie­ler moder­ner Tex­te zum Hals raus­hin­gen, son­dern weil er für sol­che Din­ge schlicht kei­ne Zeit und kein Inter­es­se habe. Er sei ein Mann der Fak­ten, nicht der Fiktionen.
Hier sei nun Klar­text gespro­chen: Die Schein­über­le­gen­heit falsch ver­stan­de­ner Rea­lis­ten zeugt nicht nur von kaum zu bemän­teln­dem Banau­sen­tum, son­dern von Igno­ranz und gera­de­zu schrei­en­der (poli­ti­scher) Nai­vi­tät. Denn es gibt sie nicht: die rigo­ro­se Tren­nung in »har­te« Tat­sa­chen und »wei­che« lite­ra­ri­sche Vor­stel­lungs­wel­ten. Und je puris­ti­scher und phan­ta­sie­lo­ser wir uns als Ratio­na­lis­ten gebär­den, um so leich­ter ver­fal­len wir einer Illu­si­on über den Zustand der Welt, die aller­dings häu­fig von Kräf­ten regiert wird, die sich so gar nicht an Logik oder Zweck­mä­ßig­keit ausrichten.

Was blieb auf­grund feh­ler­haf­ter Prä­mis­sen von diver­sen volks­wirt­schaft­li­chen, staats­recht­li­chen, phi­lo­so­phi­schen oder poli­to­lo­gi­schen Kon­struk­tio­nen öffent­li­chen Glücks in der jewei­li­gen Pra­xis eigent­lich übrig? Selbst scharf­sin­nigs­te juris­ti­sche Ablei­tun­gen gewäh­ren Rechts­si­cher­heit nicht ein­mal in min­der schwe­ren Fäl­len. Vor Gericht und auf hoher See, bestä­ti­gen erfah­re­ne Anwäl­te, sei jeder in Got­tes Hand. Polit­vi­sio­nä­re oder Bör­sen­an­la­ge­be­ra­ter erzäh­len uns Geschich­ten, deren Rea­li­täts­ge­halt hin­ter dem von krea­ti­ven Aus­ge­bur­ten eines Poe oder E.T.A. Hoff­mann zurück­bleibt. Was sind Kaf­kas gro­tes­ke Erzähl­ent­wür­fe vom Pro­zeß oder Schloß gegen­über zahl­lo­sen sozia­len Traum­ge­bil­den aller Zei­ten? Hoch­do­tier­te Welt­öko­no­men, die sich in schwin­del­erre­gen­den Spe­ku­la­tio­nen ihre Kar­ten­häu­ser bau­ten, erschei­nen nicht weni­ger phan­tas­tisch als ver­we­ge­ne epi­sche Plots. Auf der ande­ren Sei­te tun wir gut dar­an, zahl­rei­che lite­ra­ri­sche Pro­gno­sen von Mary Shel­ley über Hux­ley bis Orwell erns­ter zu nehmen.
Auch in der lite­ra­tur­fer­nen All­tags­welt sind wir allent­hal­ben von Mythen umge­ben. Jeder Lebens­ent­wurf ist eine Erzäh­lung, jede Erin­ne­rung auch, Geschichts­schrei­bung nicht weni­ger, so fun­diert sie durch umfang­rei­che Fak­ten­de­po­nien sein mag. Denn das Eigent­li­che, das, was Mil­lio­nen von Ein­zel­be­rich­ten der Erleb­nis­ge­ne­ra­tio­nen zum his­to­ri­schen Extrakt kom­bi­niert, hat meist mehr mit rück­schau­en­der Legi­ti­ma­ti­on zu tun als mit asep­ti­scher Wahr­heits­fin­dung, sofern es nicht, wie in Nach­kriegs­deutsch­land, gar zum Beleg­ar­se­nal für moral­po­li­ti­sche Straf­ge­rich­te verkümmert.
Ja, selbst Wis­sens­dis­zi­pli­nen, in denen nur noch gemes­sen und gerech­net wird, bedür­fen mys­ti­scher Meta­phern wie der­je­ni­gen vom »Schwar­zen Loch«, wäh­rend die schul­bil­den­de phy­si­ka­li­sche String­theo­rie man­chem ihrer Krti­ker als gigan­ti­sches Illu­si­ons­ge­bäu­de gilt. Von den Ver­stie­gen­hei­ten der Psy­cho­ana­ly­se ganz zu schwei­gen. Ich weiß also nicht, woher der Hoch­mut des Exak­ten kommt und wie er zu begrün­den sei, zumal wir ja inzwi­schen häu­fig – von den Bör­sen­gän­gen über die ope­ra­ti­ve Mili­tär­stra­te­gie bis zur Sper­rung von Flug­hä­fen – von kaum noch ver­stan­de­nen und kon­trol­lier­ba­ren Com­pu­ter-Algo­rith­men abhängen.
Doch selbst wer nur den prag­ma­ti­schen Nut­zen im Auge hat, möge beden­ken: Schrift­stel­ler sind klas­si­sche Ver­mitt­ler (neu­er) Ideen oder Ein­sich­ten, die sie lite­ra­risch durch­spie­len und anschau­lich wer­den las­sen. Die meis­ten Men­schen tun sich mit Theo­rien, Defi­ni­tio­nen und Abs­trak­tio­nen sehr schwer. Ihnen hel­fen Hand­lungs­mo­del­le mit sug­ges­tiv geschil­der­ten Per­so­nen, mit denen sie sich zuwei­len iden­ti­fi­zie­ren kön­nen. Sol­sche­ni­zyns Ein Tag im Leben des Iwan Denis­so­witsch kor­ri­giert, volks­päd­ago­gisch unauf­dring­lich, ein gan­zes Arse­nal von Befrei­ungs­phra­sen. Ionescos Nas­hör­ner leh­ren in aller Sinn­lich­keit, was Noel­le-Neu­manns Schwei­ge­spi­ra­le theo­re­tisch expli­ziert und sta­tis­tisch belegt. Haupt­manns Weber illus­trie­ren die Sozia­le Fra­ge. Schil­ler hat Kant ver­si­fi­ziert und popu­la­ri­siert, Brecht Marx’ weit­hin unles­ba­res Kapi­tal in sing­ba­ren Schlag­wor­ten exzer­piert. (Wem das Basis-Über­bau-Sche­ma des His­to­ri­schen Mate­ria­lis­mus zu theo­re­tisch war, wur­de per Drei­gro­schen­oper wenigs­tens Rudi­men­tä­res gebo­ten: »Erst kommt das Fres­sen, dann kommt die Moral.«) Anto­ni­us’ Toten­re­de in Shake­speares Cäsar bie­tet einen Ein­füh­rungs­kurs in agi­ta­to­ri­sche Rhe­to­rik, und so weiter.

Aus dick­lei­bi­gen Stu­di­en fil­tern Schrift­stel­ler die Quint­essenz in grif­fi­gen For­mu­lie­run­gen, (Roman-)Dialogen oder Schlag­wor­ten. Ihre Sprach­kraft und ein (sel­ten berech­tig­ter) Nim­bus gesell­schaft­li­cher Neu­tra­li­tät ver­lei­hen ihnen zur Mei­nungs­bil­dung häu­fig grö­ße­ren Kre­dit als Fach­leu­ten oder Staats­män­nern. Man unter­schät­ze die­sen poli­ti­schen Fak­tor nicht. Wer die Geschich­te deu­te, heißt es, prä­ge die Gegen­wart. Wer die Geschich­ten erzählt, nicht weni­ger. Das war schon immer so. Alle Mas­sen­be­we­gun­gen hat­ten ihre Dich­ter oder such­ten sie zu gewin­nen. Luther bat sei­ne Freun­de, Lie­der zu schrei­ben. Über­spitzt hieß es, die Refor­ma­ti­on sei ersun­gen wor­den. Jahr­hun­der­te spä­ter sang man von Man­de­la, Allen­de, Rosa Luxem­burg, vom Spa­ni­en­krieg oder gegen Vietnam.
Von Onkel Toms Hüt­te bis Herzls Alt­neu­land dien­te Bel­le­tris­tik auch kon­kre­ten poli­ti­schen Zie­len. Die Welt­büh­ne las man wegen der pole­mi­schen Klas­se der Tuchol­sky, Käst­ner oder Meh­ring weit über links­ra­di­ka­le Zir­kel hin­aus. Remar­ques Im Wes­ten nichts Neu­es war wirk­sa­mer als tau­send pazi­fis­ti­sche Trak­ta­te, der »Holocaust«-Film ein­gän­gi­ger als Dut­zend Doku­men­ta­tio­nen. Auch Tri­via­li­tät gilt als Erfolgs­prin­zip. Salo­mons Fra­ge­bo­gen war der ers­te weit­hin wahr­ge­nom­me­ne Faust­schlag gegen alli­ier­te Selbst­ge­rech­tig­keit. Mit Orwells 1984 wur­de sei­ner­zeit die Volks­zäh­lung atta­ckiert. Selbst der Ter­ro­ris­mus fand in Bölls Katha­ri­na Blum sei­ne betriebs­blin­de Ver­tei­di­gung. Mili­tan­te Öko­lo­gen favo­ri­sier­ten Guhas oder Pau­se­wangs epi­sche Hor­ror­sze­na­ri­en. Auch bor­nier­tes­tes Gen­der main­strea­ming, Mul­ti­kul­ti oder anti­in­dus­tri­el­les Schwär­mer­tum kon­ve­nier­te mit bel­le­tris­ti­schen Schlüsseltexten.
Es rech­net sich also sogar im Poli­tik- und Wirt­schafts­le­ben, wenn man die »Bewußt­seins­kos­ten« nicht all­zu dras­tisch her­un­ter­fährt. Für die schein­bar so welt­klu­gen Indus­trie­ka­pi­tä­ne, eis­kal­ten Tech­no­kra­ten und tages­po­li­ti­schen »Prag­ma­ti­ker« sei es gesagt: Die soge­nann­ten wei­chen Fak­to­ren erschei­nen spä­tes­tens in der Kri­se nicht mehr ganz so weich. Ein CDU­ler beklag­te sich mir gegen­über ein­mal dar­über, daß ein »rech­ter« Skan­dal die Öffent­lich­keit stets drei­mal so lang beschäf­tigt wie ein lin­ker«. War­um wun­dert er sich, wo sei­nes­glei­chen die poten­ti­el­len Send­bo­ten eige­ner Ideen prak­tisch ver­hun­gern läßt?
Doch es geht über Ali­men­tie­rung hin­aus gewiß auch um Geis­ti­ges. Kul­tur­schaf­fen­de spü­ren, wo man sie zynisch auf die Funk­ti­on blo­ßer Deko­ra­teu­re redu­zie­ren will, statt als Gesprächs­part­ner ernst­zu­neh­men. Schließ­lich haben sie Bedeut­sa­mes zu bie­ten, gemäß Höl­der­lins Dik­tum: »Was blei­bet aber, stif­ten die Dichter.«
Dar­un­ter so man­ches, was uns als Kul­tur­ge­mein­schaft über­le­ben läßt. Bei­spie­le gefäl­lig? Die Sume­rer und ihre Nach­fol­ger sind dem Welt­ge­dächt­nis jen­seits von Öl und Nah­ost­kon­flikt ziem­lich gleich­gül­tig gewor­den; aber ihr Gil­ga­mesch-Epos sichert ihnen ein Stück Unsterb­lich­keit. Grie­chen­land, heu­te Spiel­ball der Welt­mäch­te und ‑märk­te, blieb durch Homer, Aischy­los, Sopho­kles, Euri­pi­des oder Aris­to­pha­nes eine geis­ti­ge Groß­macht. NS-Deutsch­land ver­fiel glo­ba­ler Äch­tung; sei­ne Klas­si­ker zeug­ten wei­ter für ihr Land.

Lite­ra­tur reprä­sen­tiert oder bün­delt die Tra­di­ti­on einer Schick­sals­ge­mein­schaft, vom Nibe­lun­gen­lied über Faust bis zu Ben­ns Sta­ti­schen Gedich­ten. Goe­thes Wan­de­rers Nacht­lied und Eichen­dorffs Mond­nacht ver­mit­teln Stim­mun­gen unse­rer End­lich­keit. Das Hil­de­brands­lied defi­niert unse­re Tragik‑, Der Haupt­mann von Köpe­nick unse­re Komik­vor­stel­lung. Fon­ta­ne lehrt mensch­li­che Güte und exem­pla­risch das Ethos eines Herrn von Rib­beck. Gro­ße Wer­ke dis­ku­tie­ren also modell­haft Sinn- und Wert­fra­gen ihrer Zeit.
Ich kann mir daher schlecht vor­stel­len, daß man im tiefs­ten Sinn Kon­ser­va­ti­ver ist ohne eine gewis­se Emp­fäng­lich­keit für Lite­ra­tur. Dies ist kei­ne Fra­ge aus­gie­bi­ger Ken­ner­schaft, aus­wen­dig gelern­ter Kul­tur­da­ten und Werk­lis­ten. Man muß auch nicht jede Zuckung des lite­ra­ri­schen Zeit­geists gou­tie­ren, noch geht es um Quan­ti­tä­ten. Man mag sich in der Woche viel­leicht nur ein Vier­tel­stünd­chen einer For­mu­lie­rung, einem Klang oder einem Gedan­ken auf­schlie­ßen. Aber die­se geis­ti­ge Ent­schei­dung will getrof­fen sein, wonach der Mensch »nicht vom Brot allein« lebt. »Sehen Sie«, schrieb Antoine de Saint-Exupé­ry, gewiß kein ver­träum­ter, blut­lee­rer Stu­ben­ho­cker, einem Gene­ral: »Man kann nicht mehr leben von Eis­schrän­ken, von Poli­tik, von Bilan­zen und Kreuz­wort­rät­seln. Man kann es nicht mehr. Man kann nicht mehr leben ohne Far­be, ohne Lie­be, ohne Poesie.«
Und noch eins ver­bin­det uns mit wah­rer Autor­schaft als zutiefst kon­ser­va­ti­vem Wert: jener Wil­le zur Form, zur über­zeit­li­chen Gül­tig­keit von Tex­ten. Stil ist ja nicht ein­fach Orna­ment, schö­ne Ein­klei­dung, blu­mi­ge Ara­bes­ke, son­dern hart umkämpf­te Poin­tie­rung und Ver-dich­tung, die den Gemein­platz erst zum Sinn­spruch tran­szen­diert, Wider­stand gegen das nur Halbrich­ti­ge, nur so Dahin­ge­sag­te, aus lang­jäh­ri­ger Erfah­rung geron­ne­ne Ver­bind­lich­keit. Stän­di­ges Fei­len und Über­den­ken bewahrt Spra­che vor dem Sumpf all­täg­li­chen Plap­per- und Twit­ter­tums, das (im Gegen­satz etwa zu Bis­marcks Reden) auch die gän­gi­gen Äuße­run­gen unse­rer Funk­ti­ons­eli­te charakterisiert.
Daß also nicht weni­ge »kon­ser­va­ti­ve« Besitz­bür­ger oder »Staats­len­ker « sich von die­sem geis­ti­gen Blut­strang selbst iso­lier­ten, macht den Bann­spruch ver­ständ­lich, der bereits vor fünf Jahr­zehn­ten durch Hans Magnus Enzens­ber­ger in sei­nem gedicht für die gedich­te nicht lesen erfolg­te.

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