Intellektuelle Risikobereitschaft – Multikulturalismusdebatten

pdf der Druckfassung aus Sezession 13/April 2006

sez_nr_13von Michael Paulwitz

„Besondere Achtung bringt der Deutsche dem Fremden entgegen, der fleißig ist und genau arbeitet. Das ist die beste Grundlage, um mit einem Deutschen Freundschaft zu schließen." So heißt es in einem Ratgeber für griechische Arbeitnehmer in der Bundesrepublik aus dem Jahre 1966, also aus der Hochzeit der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte. Der Ratschlag bezeichnet die Denkweise einer Zeit, in der Ausländer als „Gastarbeiter" betrachtet wurden, als arbeitende Gäste auf Zeit also, von denen zwar angepaßtes Verhalten erwartet wurde, aber keine „Integration" oder „Assimilation" auf Dauer. Vierzig Jahre ist dieses Zitat alt, aber es scheint aus einer fernen, vergangenen Epoche zu stammen, einer Epoche, in der die Idee des Multikulturalismus noch nicht einmal erfunden, geschweige denn nach Deutschland importiert worden war.


Als Kon­zept zuerst for­mu­liert in Kana­da, impor­tier­ten die USA und Aus­tra­li­en den Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus und ver­ab­schie­de­ten sich zugleich von ihrem bis­he­ri­gen Grund­satz, als klas­si­sche Ein­wan­de­rungs­län­der jeden Ankömm­ling in die neue gemein­sa­me Kul­tur ein­zu­schmel­zen. Zukünf­tig soll­te es also ein gleich­be­rech­tig­tes Neben­ein­an­der von Kul­tu­ren geben. Auch in Groß­bri­tan­ni­en wur­de der Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus schon früh­zei­tig prak­ti­ziert, früh­zei­tig wur­de hier aller­dings auch der kri­ti­sche Dis­kurs eröff­net. Enoch Powell, rhe­to­ri­scher und intel­lek­tu­el­ler Star der Tory-Par­tei, hielt 1968 in sei­nem Wahl­kreis Bir­ming­ham eine Rede, die unter dem ver­kürz­ten Schlag­wort „rivers of blood speech” („Strö­me von Blut”) in die Aus­ein­an­der­set­zung um den Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus ein­ging. Powell woll­te dem Unbe­ha­gen der Ein­hei­mi­schen, sei­ner Wäh­ler, ange­sichts der zuneh­men­den Über­frem­dung eine Stim­me geben, und warn­te vor der schlei­chen­den Aus­höh­lung der reprä­sen­ta­ti­ven Demo­kra­tie durch die Fixie­rung von Son­der­rech­ten für Ein­wan­de­rer im Rah­men von Antidiskriminierungsgesetzen.
Die Frag­wür­dig­keit der Ideo­lo­gie des Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus liegt schon in ihrer Ent­ste­hung begrün­det. Erdacht in klas­si­schen Ein­wan­de­rungs­län­dern, wur­de sie als resi­gna­ti­ve Ver­le­gen­heits­lö­sung adap­tiert, indem das Schei­tern der ursprüng­li­chen Ziel­set­zung der Ein­wan­de­rungs­po­li­tik, der Assi­mi­la­ti­on näm­lich, zum neu­en und eigent­li­chen Ziel erho­ben wur­de. Und so ist der Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus eine der vie­len ang­lo-ame­ri­ka­ni­schen Mode­tor­hei­ten, die mit zeit­li­cher Ver­zö­ge­rung samt ihren Fol­ge­er­schei­nun­gen wie poli­ti­cal cor­rect­ness nach Euro­pa kam und in Deutsch­land beson­ders gründ­lich und inbrüns­tig auf­ge­grif­fen wur­de – mit fata­len Folgen.
Für die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land der sieb­zi­ger Jah­re war der Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus der ers­te Ver­such, der bis­lang von Impro­vi­sa­ti­on und Abwar­ten gekenn­zeich­ne­ten Aus­län­der­po­li­tik ein fes­tes ideo­lo­gi­sches Kor­sett zu geben. Einer der Chef­ideo­lo­gen der „mul­ti­kul­tu­rel­len Gesell­schaft” war der Kir­chen­rat für Aus­län­der­fra­gen bei der Evan­ge­li­schen Kir­che in Deutsch­land (EKD), Jür­gen Miksch.

Miksch gilt als „Erfin­der” des Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus in Deutsch­land. Ein­ge­führt hat er den Begriff erst­mals im Jahr 1978 als Reden­schrei­ber des dama­li­gen hes­si­schen Minis­ter­prä­si­den­ten Hol­ger Börner.
Einer brei­te­ren Öffent­lich­keit wur­de der Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus am 24. Sep­tem­ber 1980 bekannt­ge­macht. An die­sem Datum ver­öf­fent­lich­te der „Öku­me­ni­sche Vor­be­rei­tungs­aus­schuß für den Tag des aus­län­di­schen Mit­bür­gers” sei­ne The­sen. Die­se began­nen mit dem Satz: „Wir leben in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land in einer mul­ti­kul­tu­rel­len Gesellschaft.”
Um die EKD, die eine Vor­rei­ter­rol­le über­nahm, for­mier­te sich eine Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus-Lob­by, in der Gewerk­schaf­ten, Wirt­schafts­krei­se, „Acht­und­sech­zi­ger”, alte und neue lin­ke und libe­ra­le Grup­pen das Wort führ­ten. Wäh­rend die „Acht­und­sech­zi­ger” auf ihrem begin­nen­den Marsch durch die Insti­tu­tio­nen in den Ein­wan­de­rern ein „neu­es Pro­le­ta­ri­at” ent­deckt haben moch­ten, das ihnen bei ihren Ambi­tio­nen hilf­rei­cher sein konn­te als das radi­ka­len Paro­len wenig zugäng­li­che ein­hei­mi­sche, hat­te man auf Unter­neh­mer­sei­te ein durch­aus fort­be­stehen­des Inter­es­se an einem durch Ein­wan­de­rung ver­brei­ter­ten Ange­bot an bil­li­gen Arbeits­kräf­ten. Bekannt­lich war ja das Rota­ti­ons­prin­zip, das Gast­ar­bei­ter nach Ablauf eini­ger Jah­re zur Rück­kehr ver­pflich­te­te, auf Druck der Wirt­schaft auf­ge­ge­ben wor­den, um län­ger von den impor­tier­ten Arbeits­kräf­ten pro­fi­tie­ren zu kön­nen, in deren Anler­nung man ja zunächst inves­tiert hat­te. Die Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung wur­de aus den­sel­ben Grün­den ein­ge­führt. Die­se Beob­ach­tun­gen bestä­ti­gen Sla­voj Zizeks The­se vom Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus als der „Ideo­lo­gie des glo­ba­li­sier­ten Kapitalismus”.
Bei der EKD selbst spiel­te dage­gen der seit Kriegs­en­de kul­ti­vier­te Schuld­kom­plex wegen des Natio­nal­so­zia­lis­mus und ein dar­aus abge­lei­te­tes nach­träg­li­ches „Wiedergutmachungs”-Bedürfnis eine nicht zu unter­schät­zen­de Rol­le. Die Sehn­sucht nach „Über­win­dung der Nati­on” eint die Mei­nungs­eli­ten im Nach­kriegs-West­deutsch­land in einer eigen­tüm­li­chen Spät­form des „Ger­man Son­der­weg”, die Peter Glotz anschau­lich in die Aus­sa­ge gegos­sen hat, die Deut­schen hät­ten das „natio­na­le Prin­zip stell­ver­tre­tend für ande­re zu Ende gelebt”. Die Über­zeu­gung, in einer „post­na­tio­na­len Ära” (Karl-Diet­rich Bra­cher) zu leben, und das dar­aus abge­lei­te­te Ziel der „Dena­tio­na­li­sie­rung” (Robert Hepp) des eige­nen Lan­des trieb auch die Prot­ago­nis­ten des Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus an und erlaub­te ihnen in der Fixie­rung auf deut­sche Befind­lich­kei­ten zugleich, über die längst abseh­ba­ren und dort auch klar aus­ge­spro­che­nen Fehl­ent­wick­lun­gen des Kon­zepts in ande­ren Län­dern hin­weg­zu­se­hen. Vor allem nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung, die nicht weni­ge Lite­ra­ten und Intel­lek­tu­el­le als Sün­de wider die deut­sche Tei­lung als gerech­te Stra­fe für Ausch­witz ansa­hen, bot das Vor­an­trei­ben des Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus die will­kom­me­ne Gele­gen­heit zur Ver­gel­tung für die­se Niederlage.
Sowohl in sei­ner libe­ra­len als auch in sei­ner radi­ka­len Form zielt der Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus dar­auf ab, einen klas­si­schen demo­kra­ti­schen Natio­nal­staat mit einem ein­deu­tig defi­nier­ten Volks­sou­ve­rän dau­er­haft in eine Ein­wan­de­rungs­ge­sell­schaft zu ver­wan­deln. Die Fehl­ent­wick­lung in den tra­di­tio­nel­len Ein­wan­de­rungs­län­dern wur­de mit Hil­fe des dop­pel­ten Euphe­mis­mus „mul­ti­kul­tu­rell” zu die­sem Zwe­cke zum Ide­al erklärt.

Der ers­te Euphe­mis­mus besteht in der ver­harm­lo­sen­den Ver­wen­dung des
Begrif­fes „Kul­tur” anstel­le von „Völ­kern” oder „Ras­sen”. Hei­ner Geiß­ler mal­te im Wen­de­jahr 1990 die erhoff­te „kul­tu­rel­le Berei­che­rung” in leuch­ten­den Far­ben aus: ein bun­tes, fried­li­ches Neben­ein­an­der der Kul­tu­ren, wo jeder mit jedem oder jeder könne.
Die Vor­sil­be „mul­ti” ist der zwei­te Euphe­mis­mus. Er beruht auf der simp­len Ver­wechs­lung von Qua­li­tät und Quan­ti­tät. Die Addi­ti­on von Kul­tu­ren führt im güns­tigs­ten Fall zur Nivel­lie­rung auf nied­ri­ge­rem Niveau, im ungüns­tigs­ten zu Kon­flikt und Bür­ger­krieg. Ergeb­nis ist also ein „Weni­ger” und nicht ein „Mehr” an Kul­tur, wie Robert Hepp in sei­ner kri­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus dar­ge­legt hat. Das Ergeb­nis ist nicht harm­lo­se „kul­tu­rel­le” Viel­falt, son­dern ein Umsturz der Staats­form. Das erklär­te Ziel der Besei­ti­gung der eth­ni­schen Homo­ge­ni­tät der Bevöl­ke­rung führt in der Kon­se­quenz zum Aus­tausch des Souveräns.
Ein Drei­vier­tel­jahr nach der Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus-Pro­kla­ma­ti­on der EKD unter­nah­men fünf­zehn Hoch­schul­leh­rer den Ver­such einer Gegen­of­fen­si­ve. Das „Hei­del­ber­ger Mani­fest” vom 17. Juni 1981 blick­te „mit gro­ßer Sor­ge” auf die „Unter­wan­de­rung des deut­schen Vol­kes durch Zuzug vie­ler Mil­lio­nen Aus­län­der und ihrer Fami­li­en, die Über­frem­dung unse­rer Spra­che, unse­rer Kul­tur, unse­res Volks­tums […] Die Inte­gra­ti­on gro­ßer Mas­sen nicht­deut­scher Aus­län­der ist daher bei gleich­zei­ti­ger Erhal­tung unse­res Vol­kes nicht mög­lich und führt zu den bekann­ten eth­ni­schen Kata­stro­phen mul­ti­kul­tu­rel­ler Gesell­schaf­ten.” In der Ana­ly­se durch­aus tref­fend, mach­te das Mani­fest wirt­schaft­li­che Inter­es­sen für das Aus­ufern der Ein­wan­de­rung ver­ant­wort­lich, stell­te den Zusam­men­hang zu Gebur­ten­schwund und dro­hen­der demo­gra­phi­scher Kata­stro­phe her und warn­te vor der Aus­höh­lung des Grund­ge­set­zes als Ver­fas­sung des deut­schen Vol­kes. Vie­le Deut­sche fühl­ten sich jetzt schon fremd in der eige­nen Hei­mat; sie sei­en über Bedeu­tung und Fol­gen des Aus­län­der­zu­zugs nicht auf­ge­klärt wor­den. Die Pro­fes­so­ren rie­fen zur Bil­dung eines über­par­tei­li­chen Bun­des auf, um „wei­te­ren Wider­hall in der Öffent­lich­keit” zu finden.
Vom tat­säch­li­chen Wider­hall waren die Unter­zeich­ner selbst am meis­ten über­rascht. Moch­ten sie gehofft haben, eine sach­li­che Debat­te unter Aka­de­mi­kern ansto­ßen zu kön­nen, sahen sie sich mit einer koor­di­nier­ten und gut ver­netz­ten Gegen­kam­pa­gne kon­fron­tiert, die vir­tu­os auf der media­len Emo­ti­ons­kla­via­tur zu spie­len ver­stand. Daß im Janu­ar 1982 eine „ent­schärf­te” Fas­sung publi­ziert wur­de, hat­te kei­nen besänf­ti­gen­den Effekt. Bei­de Kir­chen ver­ur­teil­ten den Text, Bochu­mer Pro­fes­so­ren unter­zeich­ne­ten ein Gegen­ma­ni­fest. Aber damit nicht genug: Theo­dor Schmidt-Kaler, einer der Unter­zeich­ner, berich­tet von Bedro­hun­gen und mas­si­ven phy­si­schen Angrif­fen. Die als kon­ser­va­tiv gel­ten­den Medi­en hät­ten trotz­dem die Aus­ein­an­der­set­zung nicht gesucht. Nur Ein­zel­kämp­fer wie Robert Hepp hät­ten noch gewagt, wei­ter kri­tisch Stel­lung zu beziehen.

Die Medi­en und Ver­la­ge, die ihm und ande­ren Kri­ti­kern zu Gebo­te stan­den, waren frei­lich selbst in der Öffent­lich­keit iso­liert; der „Schutz­bund”, der dem Auf­ruf des Mani­fes­tes fol­gend gegrün­det wor­den war, wur­de geäch­tet. Das The­ma lan­de­te in der Schwei­ge­spi­ra­le. Nur beson­ders Uner­schro­cke­ne oder aber Despe­ra­dos und „Extre­mis­ten” wag­ten sich dar­an, wobei letz­te­re die denun­zia­to­risch aus­ge­streu­ten Dif­fa­mie­run­gen im nach­hin­ein zu bestä­ti­gen schienen.
Die Mul­ti­kul­tu­ra­lis­ten bedien­ten sich auf ihrem Vor­marsch der Tech­nik, das von ihnen erst noch Gewünsch­te als eine bereits bestehen­de, unaus­weich­li­che Rea­li­tät aus­zu­ge­ben. Die par­tei­po­li­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung kreis­te nach dem Regie­rungs­wech­sel nur noch um die Fra­ge, ob Deutsch­land ein „Ein­wan­de­rungs­land” sei oder nicht. Die Prot­ago­nis­ten, die die als demo­kra­ti­scher Natio­nal­staat ver­faß­te Bun­des­re­pu­blik in ein sol­ches trans­for­mie­ren woll­ten, behaup­te­ten, die Trans­for­ma­ti­on sei bereits ein­ge­tre­ten und müs­se nur noch geis­tig nach­voll­zo­gen werden.
Das Aus­blei­ben der von vie­len erhoff­ten „geis­tig-mora­li­schen Wen­de” nach dem Amts­an­tritt des CDU-Kanz­lers Hel­mut Kohl umfaß­te auch das Ver­säum­nis, eine staats­po­li­tisch fun­dier­te Gegen­po­si­ti­on zum Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus zu ent­wi­ckeln. Man beschränk­te sich auf rhe­to­ri­sche Beteue­run­gen, Deutsch­land kön­ne „kein Ein­wan­de­rungs­land” sein, um die Wäh­ler zu beru­hi­gen, wich im übri­gen aber vor der ver­öf­fent­lich­ten Mei­nung zurück. Nur ein­zel­ne CDU-Poli­ti­ker ver­such­ten einen här­te­ren Kurs zu fah­ren, etwa Innen­se­na­tor Hein­rich Lum­mer in Ber­lin. Des­sen ver­schärf­ter Erlaß zur Zuzugs­be­schrän­kung stieß im Novem­ber 1981 auf brei­te Kri­tik von SPD, FDP und DGB; der tür­ki­sche Grü­nen-Poli­ti­ker Özcan Aya­no­g­lu pro­tes­tier­te sogar mit einem ange­hef­te­ten Juden­stern. Obwohl füh­ren­de CDU-Poli­ti­ker eben­so wie der schei­den­de Kanz­ler Schmidt schon 1982 gese­hen hat­ten, daß die Gren­zen der Belast­bar­keit erreicht waren, blieb ein Umsteu­ern aus. Das Rück­kehr­pro­gramm der Anfangs­jah­re schlief rasch ein, die Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung wur­de sogar wei­ter libe­ra­li­siert. Die Zahl der Ein­wan­de­rer hat­te sich nach sech­zehn Jah­ren Hel­mut Kohl nahe­zu verdoppelt.
Als Fol­ge kon­sta­tier­te Robert Hepp eine schlei­chen­de Ent­frem­dung zwi­schen poli­ti­scher Klas­se und mehr­heit­lich den Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus ableh­nen­dem Staats­volk. „Sofern sich noch ein­zel­ne Geg­ner der mul­ti­kul­tu­rel­len Gesell­schaft zu Wort mel­den und aus­zu­spre­chen wagen, was die Bevöl­ke­rungs­mehr­heit denkt, wer­den sie nicht nur von der links­extre­men Rechts­extre­mis­mus­for­schung und den links­li­be­ra­len Medi­en, son­dern auch schon von der Regie­rung, die sich offi­zi­ell noch gar nicht zum Ziel der MKG bekannt hat, sozu­sa­gen stell­ver­tre­tend für das Volk als rechts­extre­me „Ver­fas­sungs­fein­de” an den Pran­ger gestellt.”
Der Streit um den wach­sen­den Miß­brauch des deut­schen Asyl­rechts als Vehi­kel der ille­ga­len Ein­wan­de­rung war ein Sym­ptom die­ser Ent­frem­dung. Unter dem Ein­druck des Auf­stiegs der Repu­bli­ka­ner als Pro­test­par­tei einig­ten sich die eta­blier­ten Par­tei­en schließ­lich auf eine Ver­schär­fung des Asyl­rechts, die am 1. Juli 1993 in Kraft trat. Nach Ein­füh­rung der Dritt­staa­ten­re­ge­lung, die die Zurück­wei­sung von über siche­re Dritt­staa­ten ein­ge­reis­ten Asyl­be­wer­bern erlaubt, sank die Zahl der Anträ­ge von 438.000 (1992) auf 127.000 (1994). Für die Mul­ti­kul­tu­ra­lis­ten war die­ser „Asyl­kom­pro­miß” nach der unvor­her­ge­se­he­nen und unge­lieb­ten Wie­der­ver­ei­ni­gung eine wei­te­re Niederlage.

Der Gegen­schlag war zu die­sem Zeit­punkt aller­dings schon längst ange­setzt. Anlaß boten Angrif­fe auf Asyl­be­wer­ber und Ein­wan­de­rer in Hoyers­wer­da, Ros­tock, Mölln und Solin­gen zwi­schen Sep­tem­ber 1991 und Som­mer 1993. Seit Ende 1992 wur­den in meh­re­ren Groß­städ­ten Hun­dert­tau­sen­de zu „Lich­ter­ket­ten” gegen „Aus­län­der­feind­lich­keit und Ras­sis­mus” mobi­li­siert. Im Zusam­men­spiel von Lob­by­grup­pen und Medi­en wur­de die Emo­tio­na­li­sie­rung des The­mas Ein­wan­de­rung der­art hoch­ge­peitscht, daß den Kri­ti­kern der „mul­ti­kul­tu­rel­len Gesell­schaft” (auch den par­tei­po­li­ti­schen, die damit beson­ders getrof­fen wer­den soll­ten) nur die Defen­si­ve blieb.
Gegen­po­si­tio­nen zum Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus wur­den in den Jah­ren danach auch durch die rasan­te Eta­blie­rung einer regel­rech­ten Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus-Büro­kra­tie erschwert. Man hat­te erkannt, daß noch bes­ser als ein Marsch durch die Insti­tu­tio­nen die Schaf­fung neu­er, nur für Gesin­nungs­ge­nos­sen reser­vier­ter Insti­tu­tio­nen ist. Öffent­li­ches Geld wur­de in den Neun­zi­gern nicht nur in stei­gen­dem Maße direkt und indi­rekt für die Pro­pa­gie­rung ein­wan­de­rungs­freund­li­cher Hal­tun­gen und die Dif­fa­mie­rung kri­ti­scher Stim­men aus­ge­ge­ben, son­dern auch für die Schaf­fung von Stel­len und Appa­ra­ten für Aus­län­der­be­auf­trag­te, Sozi­al­ar­bei­ter und Migra­ti­ons­for­scher, die sich gegen­sei­tig regel­mä­ßig die Not­wen­dig­keit einer Aus­wei­tung ihrer Akti­vi­tä­ten beschei­ni­gen. Par­al­lel zum Auf­stieg der Grü­nen als poli­ti­scher Fak­tor wur­de Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus zum Kar­rie­re­vor­teil. 1989 trat Dani­el Cohn-Ben­dit in Frank­furt Deutsch­lands ers­te Stel­le eines Dezer­nen­ten „für mul­ti­kul­tu­rel­le Ange­le­gen­hei­ten” an.
Die Uni­ons­par­tei­en expe­ri­men­tier­ten nach dem Macht­ver­lust 1998 noch ein­mal mit einem Ein­spruch gegen den Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus. Finanz­ex­per­te Fried­rich Merz griff ein – bezeich­nen­der­wei­se von dem ein­ge­wan­der­ten Pro­fes­sor Bassam Tibi for­mu­lier­tes – Schlag­wort auf und for­der­te die Defi­ni­ti­on und Durch­set­zung einer ver­bind­li­chen deut­schen „Leit­kul­tur”. Da in den Uni­ons­par­tei­en die Mul­ti­kul­tu­ra­lis­ten in den eige­nen Rei­hen seit den Zei­ten von Hei­ner Geiß­ler und Rita Süss­muth wei­ter an Ein­fluß gewon­nen hat­ten, waren sie zu einer ein­heit­li­chen Hal­tung noch weni­ger als wäh­rend der Kohl-Ära fähig. Nach­dem auch der Vor­sit­zen­de des Zen­tral­rats der Juden, Paul Spie­gel, den Begriff scharf kri­ti­siert hat­te, wur­de die Debat­te beer­digt, bevor sie rich­tig begon­nen hatte.
Mit dem rot-grü­nen Wahl­er­folg von 1998 schien der Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus den Durch­bruch zur Staats­rä­son end­gül­tig geschafft zu haben. Das ers­te „Reform­pro­jekt” der neu­en Links­re­gie­rung betraf bereits die Auf­wei­chung des Staats­bür­ger­schafts­rechts durch groß­zü­gi­ge Dop­pelpaß-Gewäh­rung und erleich­ter­te Ein­bür­ge­rung. Der Wider­stand der Oppo­si­ti­on beschränk­te sich auf Wahl­kampf­ma­nö­ver wie die Unter­schrif­ten­ak­ti­on des spä­te­ren hes­si­schen Minis­ter­prä­si­den­ten Roland Koch.
Auch wenn die Debat­te weit­ge­hend ver­stumm­te, blie­ben und blei­ben die akku­mu­lier­ten Pro­ble­me in der Rea­li­tät unüber­seh­bar. Gewalt zwi­schen Ein­wan­de­rer­grup­pen, mus­li­mi­scher Anti­se­mi­tis­mus, die Radi­ka­li­sie­rung jugend­li­cher Ein­wan­de­rer, denen nie­mand je Anpas­sung und Ein­fü­gung in die Gesell­schaft abver­langt hat, schließ­lich die dar­aus erwach­sen­de Kri­se des Bil­dungs- und Sozi­al­sys­tems, all dies dis­kre­di­tiert die mul­ti­kul­tu­rel­le Ideologie.

Kri­tik am Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus wird daher zu Beginn des 21. Jahr­hun­derts zuneh­mend aus den eige­nen Milieus geübt: von Prak­ti­kern wie dem Neu­köll­ner Bezirks­bür­ger­meis­ter Busch­kow­sky, der den Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus für „geschei­tert” erklär­te, oder von auf­ge­klär­ten Ein­wan­de­rern wie der Tür­kin Necla Kelek, die von den spe­zi­fisch deut­schen Denk­ver­bo­ten unbe­ein­druckt blei­ben. Dis­kur­si­ve Auf­fang­po­si­tio­nen wer­den vor­be­rei­tet. So spricht etwa der Grü­nen-Vor­sit­zen­de Fritz Kuhn im Zusam­men­hang mit der mul­ti­kul­tu­rel­len Gesell­schaft nicht län­ger von einer fröh­li­chen Visi­on, son­dern von „Streß, den wir aus­hal­ten müssen”
Die Selbst­ver­ständ­lich­keit, mit der im nach­hin­ein die frü­hen Kri­ti­ker bestä­tigt wer­den, hat etwas nach­ge­ra­de Zyni­sches. 1991 äußer­te Dani­el Cohn-Ben­dit in einem Inter­view: „Die mul­ti­kul­tu­rel­le Gesell­schaft ist hart, schnell, grau­sam und wenig soli­da­risch, sie ist von beträcht­li­chen sozia­len Ungleich­ge­wich­ten geprägt […] Sie hat die Ten­denz, in eine Viel­falt von Grup­pen und Gemein­schaf­ten aus­ein­an­der­zu­stre­ben und ihren Zusam­men­halt sowie die Ver­bind­lich­keit ihrer Wer­te ein­zu­bü­ßen.” Cohn-Ben­dits Risi­ko­be­reit­schaft, den­noch das Kon­zept des Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus wei­ter­zu­trei­ben, ist des­halb ver­ant­wor­tungs­los zu nen­nen, weil er selbst nicht zu denen gehö­ren wird, die die Kon­se­quen­zen des Schei­terns zu tra­gen haben. Nun aber scheint die Zeit reif zu sein für eine fun­da­men­ta­le Aus­ein­an­der­set­zung, in der die in ihren Appa­ra­ten und Struk­tu­ren ver­schanz­ten Ideo­lo­gen des Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus von neu­en Geg­nern mit uner­war­te­tem Hin­ter­grund und in über­ra­schen­den Alli­an­zen her­aus­ge­for­dert wer­den. Zur not­wen­di­gen Aus­rüs­tung die­ser Aus­ein­an­der­set­zung gehö­ren ein gutes Erin­ne­rungs­ver­mö­gen und eine gehö­ri­ge Por­ti­on Unversöhnlichkeit.

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