Rechts ist noch Platz – eine Literaturlücke

pdf der Druckfassung aus Sezession 41 / April 2011

von Thorsten Hinz

Wer die deutsche Nachkriegsliteratur für eine weitgehend mit Schuldideologie kontaminierte Weltanschauungsliteratur hält, muß sich deswegen keine gegenläufige Weltanschauungsliteratur als Alternative wünschen. Das ästhetische Niveau bliebe das gleiche. Ein kurzer historischer Exkurs dazu: Was wir heute idealerweise unter moderner Literatur verstehen, begann Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts mit dem Zerfall des geozentrischen Weltbildes und mit der Reformation, die die römische Weltkirche in eine tiefe Autoritätskrise stürzte. Ihr institutionell abgestütztes, hierarchisch geordnetes Weltbild geriet ins Wanken und mit ihm die didaktische und allegorische Verbindlichkeit des Wortes. Das literarische Wort wurde mehrdeutig, sein Sinn war nicht mehr durch das vorausgesetzte Dogma definiert, sondern das Ergebnis der reflexiven Arbeit des Verfassers, seiner persönlichen Autorität und der kritischen – statt gläubigen – Rezeption durch den Leser.

Um die­sen Pro­zeß zu ver­an­schau­li­chen, kann man an den Über­gang von der Renais­sance- zur Barock­ar­chi­tek­tur den­ken. Die Renais­sance-Kon­struk­tio­nen basier­ten auf ein­fa­chen Bau­tei­len und Maß­ver­hält­nis­sen, die sich logisch glie­dern lie­ßen und deren har­mo­ni­schen Zusam­men­klang der Betrach­ter durch Beob­ach­tung leicht erken­nen konn­te. Im Barock dage­gen wur­de die durch gekrümm­te Wän­de oder Fon­tä­nen erzeug­te Bewe­gung zum bevor­zug­ten Stil­merk­mal. Den Drang ins Unend­li­che demons­trier­ten Decken­ge­mäl­de, die den Blick auf einen schein­bar offe­nen Him­mel frei­ga­ben. Spie­ge­lun­gen und Licht­ef­fek­te ver­wisch­ten die Gren­ze zwi­schen Schein und Sein, das Ver­hält­nis von Zei­chen und Bedeu­tung war nicht mehr selbst­ver­ständ­lich. Die Archi­tek­tur bekam etwas Spie­le­ri­sches und zugleich Hin­ter­grün­di­ges, das den Betrach­ter in neu­er Wei­se for­der­te und von ihm ent­schlüs­selt wer­den muß­te. Für den ita­lie­ni­schen Semio­ti­ker Umber­to Eco mani­fes­tier­te sich dar­in der Wech­sel vom geschlos­sen­ein­deu­ti­gen zum offen-mehr­deu­ti­gen Kunstwerk.
Die Lite­ra­tur trat aus dem »Meta­sys­tem«, der »Meta­spra­che« der katho­li­schen Kir­che her­aus und mach­te, anstatt ihre Glau­bens­sät­ze zu ver­brei­ten, die­se zum The­ma der Erör­te­rung. Eine geis­ti­ge Revo­lu­ti­on fand statt. Am Bei­spiel von James Joy­ce erläu­tert Eco, daß der erfolg­rei­che moder­ne Künst­ler durch­aus kei­ne neue Meta­spra­che an die Stel­le der alten setzt. Spä­tes­tens in dem Moment, wo die­se eben­falls aus der Mode kommt, wäre das lite­ra­ri­sche Werk obso­let und allen­falls noch aus doku­men­ta­ri­schen Grün­den inter­es­sant. Der Schrift­stel­ler muß viel­mehr die Struk­tu­ren der geschil­der­ten Situa­ti­on frei­le­gen, indem er die­se aus sich selbst her­aus zur Anschau­ung bringt, das heißt, indem er die ent­frem­de­te Situa­ti­on – das kann auch die eige­ne Erzähl­si­tua­ti­on sein – durch Ver­frem­dun­gen kennt­lich macht. Man könn­te die­sen Effekt mit den raf­fi­nier­ten Zerr­spie­geln auf Jahr­märk­ten ver­glei­chen, deren Wöl­bun­gen die phy­si­schen Eigen­tüm­lich­kei­ten eines Men­schen dras­tisch her­vor­tre­ten las­sen. Ein sol­ches Werk kann noch künst­le­ri­sches Inter­es­se wecken, wenn sein Sujet längst his­to­risch gewor­den ist, weil sei­ne offe­ne Struk­tur immer neue Anknüp­fungs­punk­te für Asso­zia­tio­nen und Gedan­ken bie­tet und damit zeit­los bleibt.

Das ist eine Ide­al­be­schrei­bung. In der Wirk­lich­keit wer­den Schrift­stel­ler nach wie vor von Meta­sys­te­men oder deren Über­bleib­seln beein­flußt. Es las­sen sich grob drei Stu­fen unterscheiden: 

Ers­tens: In der rigi­den Form betä­tigt der Autor sich als Sprach­rohr einer Ideo­lo­gie, eines strin­gen­ten, künst­lich geschlos­se­nen Welt­bil­des. Das Ergeb­nis ist eine TENDENZLITERATUR. Eine der­ar­ti­ge, von admi­nis­tra­ti­ven Appa­ra­ten unter­stütz­te Strö­mung war der »sozia­lis­ti­sche Rea­lis­mus «, der die »wahr­heits­ge­treue, his­to­risch-kon­kre­te Dar­stel­lung der Wirk­lich­keit in ihrer revo­lu­tio­nä­ren Ent­wick­lung« ver­lang­te und 1934 auf dem Ers­ten Kon­greß des Sowje­ti­schen Schrift­stel­ler­ver­ban­des zur Dok­trin erho­ben wurde.
Vier Jah­re zuvor hat­te es in Deutsch­land eine Rund­funk­de­bat­te zwi­schen Gott­fried Benn und dem Schrift­stel­ler und KPD-Mit­glied Johan­nes R. Becher gege­ben, in der Becher sich zur »Dich­tung als Ten­denz, und zwar als ganz bestimm­te Ten­denz« bekann­te: »Ich die­ne auch als Dich­ter dem Befrei­ungs­kampf des Pro­le­ta­ri­ats«, der auf die »Befrei­ung der gesam­ten Mensch­heit« abzie­le. Weil wir »nicht Men­schen, son­dern Klas­sen­men­schen« sei­en, sei »auch das Wort (…) dem Klas­sen­ge­setz unter­tan « und müs­se die Lite­ra­tur »ein wah­res und geschlos­se­nes Welt­bild« ver­mit­teln. Die­ses war mit dem kom­mu­nis­ti­schen Par­tei­pro­gramm iden­tisch. Was Becher als erhöh­ten his­to­ri­schen und phi­lo­so­phi­schen Stand­punkt her­aus­strich, tat Benn als Sym­ptom schlech­ten Gedächt­nis­ses und intel­lek­tu­el­ler Beschrän­kung ab: »Die Unte­ren woll­ten immer hoch, und die Obe­ren woll­ten nicht her­un­ter.« Das sei »weder gut noch böse, son­dern rein phä­no­me­nal«. Die poli­ti­sche Ten­denz sei »kei­ne Ten­denz der Dich­tung, son­dern eine Ten­denz des Klas­sen­kamp­fes«. Damit war gesagt, daß es sich bei der Ten­denz-Lite­ra­tur mehr um ein poli­ti­sches Trak­tat als um Kunst handelte.
Das Welt­bild der mit­tel­al­ter­li­chen Kir­che hat­te so lan­ge als »wah­res und geschlos­se­nes« Sys­tem funk­tio­niert und über­zeugt, wie es das vor­han­de­ne Wis­sen in sich zu inte­grie­ren ver­moch­te. In die­se siche­re Kom­pakt­heit wur­de der mit­tel­al­ter­li­che Künst­ler hin­ein­ge­bo­ren, wes­halb er sie als natür­li­chen Zustand emp­fand. Bei­des konn­te der Künst­ler des 20. Jahr­hun­derts, der sei­ne Arbeit der kom­mu­nis­ti­schen Par­tei­dog­ma­tik unter­warf, für sich nicht mehr in Anspruch neh­men. Das »Klas­sen­ge­setz« erfaß­te nur einen Bruch­teil der Rea­li­tät und des Wis­sens dar­über, und wer im 20. Jahr­hun­dert den dog­ma­ti­schen Zugang zur Wirk­lich­keit ver­ab­so­lu­tier­te, han­del­te aus kei­ner gat­tungs­mä­ßi­gen Selbst­ver­ständ­lich­keit, son­dern aus intel­lek­tu­el­ler Ver­füh­rung, aus einem Wil­lens- oder Zwangs­akt her­aus: Juli­en Ben­da hat die­se Nei­gung der Intel­lek­tu­el­len, sich poli­ti­sche Lei­den­schaf­ten zu eigen zu machen, als »Ver­rat« qua­li­fi­ziert. Eine Lite­ra­tur, die einer dog­ma­ti­schen Par­tei­ideo­lo­gie gehorch­te, muß­te sel­ber dogmatischwerden.

 

Zwei­tens: In rei­ner Form konn­te die­se dog­ma­ti­sche Schreib­wei­se sich nur sehr kur­ze Zeit behaup­ten. Sogar in den sozia­lis­ti­schen Län­dern setz­te sie sich nie völ­lig durch. Es domi­nier­te hier eine weni­ger rigi­de WELTANSCHAUUNGSLITERATUR, die zwar eben­falls eine poli­ti­sche Bot­schaft ver­mit­telt, sich von der Par­tei- und Ten­denz­li­te­ra­tur aber durch begrenz­te Mehr­deu­tig­keit und die Refle­xi­on der pro­pa­gier­ten Welt­an­schau­ung unter­schei­det. Am Ende steht immer deren Recht­fer­ti­gung und Bestä­ti­gung, was meis­tens nur um den Preis künst­le­ri­scher Brü­che mög­lich ist. Selbst die wider­spens­ti­ge DDR-Autorin Bri­git­te Rei­mann griff, um Kon­flik­te einer staats­kon­for­men Schein­lö­sung zufüh­ren zu kön­nen, im Früh­werk Die Geschwis­ter auf die Figur des omni­po­ten­ten Par­tei­se­kre­tärs als »Deus ex machi­na« zurück, der die aus dem Lot gera­te­ne sozia­lis­ti­sche Ord­nung wie­der gera­de rückt. Die Welt­an­schau­ungs­li­te­ra­tur ist nicht exklu­siv sozia­lis­tisch, sie kann auch katho­lisch, natio­na­lis­tisch oder, wie die bun­des­deut­sche Nach­kriegs­li­te­ra­tur, von der Schuld-und-Holo­caust-Tran­szen­denz durch­drun­gen sein.
Den Über­gang von der Ten­denz- zur Welt­an­schau­ungs­li­te­ra­tur in der DDR hat der Anglist Robert Wei­mann, einer der pro­fi­lier­tes­ten Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler des Lan­des, theo­re­tisch mit­voll­zo­gen und begrün­det. Den star­ren »sozia­lis­ti­schen Rea­lis­mus« über­führ­te er 1966 sach­te in einen »sozia­lis­ti­schen und enga­gier­ten Rea­lis­mus« und kon­sta­tier­te unter Beru­fung auf Marx eine Dif­fe­renz zwi­schen dem »per­sön­li­chen« und dem »Klas­sen­in­di­vi­du­um«, die für die Lite­ra­tur eine »emi­nen­te Bedeu­tung« gewin­nen wür­de. 1971 folg­te sei­ne umfang­rei­che Stu­die über »Lite­ra­tur­ge­schich­te und Mytho­lo­gie«, die den Zweck ver­folg­te, »Gegen­wart und Ver­gan­gen­heit « in ein »dia­lek­ti­sches Ver­hält­nis« zu set­zen, was in der Kon­se­quenz – und die Inten­ti­on des in mar­xis­ti­schen Erklä­rungs­mus­tern ver­har­ren­den Autors über­tref­fend – dar­auf hin­aus­lief, neben der sozia­lis­ti­schen Lite­ra­tur­po­li­tik auch die ihr zugrun­de lie­gen­de »wis­sen­schaft­li­che Welt­an­schau­ung « zu rela­ti­vie­ren, zu his­to­ri­sie­ren und damit – den Dog­men der mit­tel­al­ter­li­chen Kir­che ver­gleich­bar – für den lite­ra­ri­schen Dis­kurs freizugeben.
Die­sen Schritt wag­te der Schrift­stel­ler Franz Füh­mann, der sich unter Qua­len von den poli­ti­schen Illu­sio­nen der Nach­kriegs­jah­re gelöst hat­te. Füh­mann ver­setz­te mit dem Auf­satz »Das mythi­sche Ele­ment in der Lite­ra­tur« dem sozia­lis­ti­schen Rea­lis­mus in der DDR den fina­len Stoß. Er ging davon aus, daß jeder Mensch Mythen und Urfor­men in sich tra­ge, und zwar »in jenem Raum, den der Schwei­zer Psy­cho­lo­ge C. G. Jung das kol­lek­tiv Unbe­wuß­te nennt und das er von einer Art Mythen­kon­zen­trat durch­wo­ben glaubt, ver­erb­ten Urty­pen von Men­schen­hal­tung«. Die­se sei­en als »Arche­ty­pen« in allen Kul­tu­ren prä­sent. Mit dem Rück­griff auf anthro­po­lo­gi­sche Kon­stan­ten und ein Ewig-Mensch­li­ches, das unter ver­än­der­ten his­to­ri­schen Bedin­gun­gen nur jeweils neu kon­kre­ti­siert (und vom Leser iden­ti­fi­ziert) wird, stand er Benn sehr viel näher als Becher.
Über sei­ne eige­ne Gene­ra­ti­on sag­te der 1922 gebo­re­ne Füh­mann, sie sei »über Ausch­witz zum Sozia­lis­mus« gekom­men. In einer ori­gi­nel­len, kei­nes­wegs gewalt­sa­men Deu­tung zwei­er Gedich­te von Mat­thi­as Clau­di­us und Edu­ard Möri­ke, in denen von auf­stei­gen­den »wei­ßen Nebeln« die Rede ist, die die Ster­ne aus­lö­schen und Schwär­ze ver­brei­ten, stellt er einen Bezug zur Men­schen­ver­nich­tung her: »Da haben Sie die hei­le Welt hun­dert Jah­re vor Ausch­witz – durch den Riß zischt das Gas, und die Ster­ne lachen.« Was Füh­mann damit eben­falls aus­drückt: Das natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Ver­bre­chen rea­li­sier­te eine in der Welt von Anfang an vor­han­den gewe­se­ne Mög­lich­keit. Füh­mann distan­ziert sich damit zugleich vom Dezi­sio­nis­mus west­li­cher Ideo­lo­gen, die dar­in die Auf­spren­gung des geschicht­li­chen Kon­ti­nu­ums erken­nen wol­len und einen zwei­ten Grün­dungs­my­thos oder – wie von Ador­no gefor­dert – einen neu­ar­ti­gen, unhin­ter­frag­ba­ren Impe­ra­tiv behaupten.

 

Drit­tens: Ein Schrift­stel­ler, der auf die­ser eigen­stän­di­gen Basis zu arbei­ten ver­mag, pro­du­ziert kei­ne Ten­denz- oder Welt­an­schau­ungs­li­te­ra­tur, son­dern er dringt zur »Offen­heit« vor, zur HOCHLITERATUR. Sei­ne Welt­sicht folgt kei­nem äuße­ren Zwang mehr, sie ist indi­vi­du­ell und ver­bürgt eine ent­spre­chen­de künst­le­ri­sche Hand­schrift. Weder Ten­denz noch Welt­an­schau­ung sind Bewer­tungs­kri­te­ri­en, son­dern zunächst allein die Güte der schrift­stel­le­ri­schen Kunst.
Wo aber liegt die Trenn­li­nie zwi­schen Offen- und Geschlos­sen­heit? Umber­to Eco kann und will kei­ne all­ge­mei­ne Hand­lungs­an­wei­sung zur Bestim­mung des »offe­nen Kunst­werks« anbie­ten, weil die­ser Begriff »kei­ne kri­ti­sche Kate­go­rie ist, son­dern ein hypo­the­ti­sches Modell dar­stellt«(Herv. i. Orig.). Als nütz­lich erwei­sen sich Theo­rien von der Mehr­schich­tig­keit des Kunst­werks. Der Begriff der Mehr­schich­tig­keit bezeich­net das Poten­ti­al eines Werks, in meh­re­ren Ebe­nen erfaßt und rezi­piert wer­den zu kön­nen, wobei jedes ein­zel­ne Sys­tem die Ein­zel­ele­men­te sinn- und bedeu­tungs­voll orga­ni­siert. Das Gesamt­po­ten­ti­al des Werks ergibt sich aus dem Wech­sel­spiel von vier Wirk­lich­keits­ebe­nen, die das Werk ent­hält: der empi­ri­schen Wirk­lich­keit, die den Sin­nes­or­ga­nen unmit­tel­bar zugäng­lich ist; der archäo­lo­gi­schen Wirk­lich­keit, die unge­fähr dem von Füh­mann beschrie­be­nen »mythi­schen Ele­ment« ent­spricht; der nor­ma­ti­ven Wirk­lich­keit, die das Ver­hält­nis des Künst­lers zur ihn umge­ben­den Gesell­schaft, ihren Vor­schrif­ten, Gebo­ten, Nor­men betrifft; sowie der pro­phe­ti­schen oder uto­pi­schen Wirk­lich­keit, die im wei­tes­ten Sin­ne die Zukunfts­er­war­tun­gen und Ide­al­vor­stel­lun­gen des Autors umfaßt.
Im sozia­lis­ti­schen Rea­lis­mus ist die erwar­te­te zukünf­ti­ge Gerech­tig­keit zum Par­tei­dog­ma geschrumpft, aus dem ein nor­ma­ti­ves, ideo­lo­gisch ver­bind­li­ches Sys­tem abge­lei­tet wird. Die­ses bestimmt die ver­fäl­schen­de Sicht auf die empi­ri­sche Wirk­lich­keit – der Wirk­lich­keits­ver­lust der sozia­lis­ti­schen Regime ist legen­där –, wäh­rend die archäo­lo­gi­sche Wirk­lich­keit – das Ewig-Mensch­li­che – zuguns­ten der Uto­pie vom »Neu­en Men­schen« kupiert wird. In der von Schuld­tran­szen­denz gepräg­ten bun­des­deut­schen Nach­kriegs­li­te­ra­tur ste­hen inzwi­schen die nor­ma­ti­ve Holo­caust­fi­xie­rung und die Defi­ni­ti­on von Ausch­witz als »Zivi­li­sa­ti­ons­bruch« (Dan Diner) am Anfang, mit der Fol­ge, daß die deut­sche Wirk­lich­keit unter dem Natio­nal­so­zia­lis­mus in einen blu­ti­gen Mythos ver­wan­delt wird. Das bedeu­tet, daß die NS-Zeit kei­ne geschicht­li­che Kon­kre­ti­sie­rung des in der archäo­lo­gi­schen Tie­fen­schicht ange­leg­ten Poten­ti­als mehr dar­stellt, son­dern einen eige­nen Mythos aus dem Geist der Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung. Der Begriff »Mythos« wird also ver­kürzt und bana­li­siert, wäh­rend die empi­ri­sche Wirk­lich­keits­schicht im Gegen­zug mythi­siert, ent­his­to­ri­siert und ent­wirk­licht wird. Die­ser Teu­fels­kreis läßt auch kei­nen Aus­bruch in eine Zukunfts­uto­pie mehr zu, nur einen Schuld­pro­tes­tan­tis­mus, der sich in End­los­schlei­fen am Nega­tiv­my­thos abar­bei­tet. Die Lite­ra­tur wird zum Medi­um der Zivilreligion.
Eine ästhe­tisch rei­ne, von allen außer­li­te­ra­ri­schen Absich­ten befrei­te Lite­ra­tur, wie der Mer­kur-Her­aus­ge­ber Karl Heinz Boh­rer sie gefor­dert hat, ist frei­lich weder mög­lich noch wün­schens­wert. Die Wer­ke Dos­to­jew­skis, Tol­stois, Tschechows oder Tur­gen­jews sind welt­li­te­ra­ri­sche Ereig­nis­se, aber kei­ne puris­ti­sche Lite­ra­tur, denn sie ent­hal­ten wuch­ti­ge sozia­le und poli­ti­sche Ankla­gen und sind über­dies ein Archiv der rus­si­schen Geschich­te und Men­ta­li­tä­ten. Trotz­dem käme nie­mand auf den Gedan­ken, sie als Ten­denz­li­te­ra­tur zu bezeich­nen oder auf eine Welt­an­schau­ungs­li­te­ra­tur zu redu­zie­ren, denn ihre nor­ma­ti­ven und empi­ri­schen Ebe­nen ste­hen in enger Wech­sel­wir­kung mit der archäo­lo­gi­schen und pro­phe­tisch-idea­len Ebe­ne. Aus die­ser Kom­mu­ni­ka­ti­on erge­ben sich immer neue Kombinationen.
Den bis­her ambi­tio­nier­tes­ten Ver­such, sich von den nor­ma­ti­ven Beschrän­kun­gen des Lite­ra­tur­be­triebs der Bun­des­re­pu­blik frei­zu­ma­chen, hat­te Uwe Tell­kamp in sei­nem Roman Der Eis­vo­gel unter­nom­men. Doch das Vor­ha­ben, die aus der 1968er Kul­tur­re­vo­lu­ti­on fol­gen­den Kon­flik­te prin­zi­pi­ell anzu­ge­hen, ver­san­de­te in der Nor­ma­ti­vi­tät der Holo­caust- Tran­szen­denz, indem ein nega­tiv gezeich­ne­ter Haupt­prot­ago­nist am Ende als Jude sal­viert wird, der »in Ausch­witz« war – der bun­des­deut­schen Vari­an­te des »Deus ex machi­na«. Die­ser ver­söhn­li­che Schluß mach­te den Autor und sein Werk kul­tur­be­triebs­kom­pa­ti­bel, und den­noch kann es als der bis­her bes­te Ver­such gele­sen wer­den, einer »Neu­en Rech­ten« lite­ra­risch gerecht zu werden.
Selbst dort, wo Autoren die Schuld-Norm absichts­voll uner­wähnt las­sen, bil­det sie einen Sper­rie­gel. Dazu ein Blick auf zwei soge­nann­te »Ber­lin-Roma­ne«, die nach 1989 von jün­ge­ren Autoren in gro­ßer Zahl pro­du­ziert wur­den und eine moder­ne, kom­plex­freie, urba­ne Lite­ra­tur­ent­wick­lung anzu­kün­di­gen schie­nen. Lukas Ham­mer­stein stellt in Die 120 Tage von Ber­lin auf den ers­ten drei Sei­ten in bedeu­tungs­schwe­rem Voka­bu­lar dar, daß er die Stadt als Schau­platz und Sym­bol gewal­ti­ger Ver­än­de­rung begreift: Es geht »groß«, »rie­sen­groß, viel­leicht gigan­tisch « dar­in zu, man befin­det sich auf dem »Höhe­punkt der Orgie«, »eine Ära geht zu Ende« und erzeugt »spä­te Reue«. Ein »neu­er Tag« beginnt, eine »neue Zeit­rech­nung«, und bedeu­tungs­voll wölbt sich »der Him­mel über Ber­lin«. Die »Bereit­schaft« ist gefragt, »für eine Ges­te mit dem Leben zu bezahlen«.
Doch die geweck­ten Erwar­tun­gen blei­ben uner­füllt. Die Anspie­lun­gen an de Sade, Paso­li­ni, Poe, Camus sind ledig­lich Acces­soires, um eine Par­ty-Raver-Spaß-Gesell­schaft aus­zu­staf­fie­ren, die in einen Neu­bau am Pots­da­mer Platz zur Pro­be wohnt. Ham­mer­stein (Jahr­gang 1955) ist kein deut­scher Bret Eas­ton Ellis, der in Ame­ri­can Psycho das Tier aus dem Men­schen her­vor­bre­chen ließ. Er kann es – vom Unter­schied der Talen­te abge­se­hen – gar nicht sein, denn die Dar­stel­lung eines meta­phy­si­schen Bösen, das zu groß und zeit­los ist, um im Natio­nal­so­zia­lis­mus auf­zu­ge­hen, wür­de die­sen rela­ti­vie­ren und his­to­ri­sie­ren. Das aber läßt das ver­ding­lich­te Schuld-Bewußt­sein nicht zu. Ham­mer­steins Ver­zicht auf den Schuld-Kotau führt ledig­lich dazu, daß die mythi­sche Tie­fen­di­men­si­on statt ver­kürzt zu wer­den völ­lig ent­fällt. Die empi­ri­sche Ebe­ne, auf der sich die eit­le Lee­re der Prot­ago­nis­ten spie­gelt, schwebt frei und sinn­los im Raum, so daß der Roman die Nich­tig­keit sei­ner Figu­ren teilt.
Eine ande­re, kon­ven­tio­nel­le Fehl­va­ri­an­te fin­det sich in Tim Staf­fels Roman Rauh­fa­ser. Er spielt eben­falls in der Neu­ber­li­ner Medi­en- und Wer­be­sze­ne, die glaubt, »durch die Ost­erwei­te­rung (sei) Ber­lin jetzt Mit­tel­punkt der Welt« gewor­den. Um einer­seits die Ober­fläch­lich­keit und den Pro­vin­zia­lis­mus die­ser Gesell­schaft kennt­lich zu machen, ande­rer­seits ihre Abgrün­de auf­zu­zei­gen, winkt der Autor mit dem Zaun­pfahl des ewig laten­ten und ver­füh­re­ri­schen Nazis­mus: Der Ich-Erzäh­ler, ein Schrift­stel­ler ohne Werk, ver­zwei­felt an sei­ner Lie­be zu einem außer­ge­wöhn­lich schö­nen Jung-Faschis­ten, und aus­ge­rech­net beim Weih­nachts­fon­due – rohes, gewür­fel­tes Fleisch in hei­ßes Öl getunkt – begin­nen Vater und Groß­mutter, Ausch­witz zu leugnen.
Es wäre ein gro­ßes Betä­ti­gungs­feld, die Beschaf­fen­heit und Grün­de sol­cher poli­ti­schen, geis­ti­gen und lite­ra­ri­schen Regres­si­on lite­ra­risch zu erfas­sen und zu über­win­den. Die­se Lite­ra­tur hät­te außer dem ästhe­ti­schen den Neben­ef­fekt, daß sie Wis­sens­de­fi­zi­te behe­ben und Bewußt­seins­pro­zes­se aus­lö­sen wür­de. Ohne Ten­denz­li­te­ra­tur zu sein, wür­de sie poli­ti­sche Ten­den­zen vor­be­rei­ten hel­fen. Die­ser Effekt wäre nicht das schlech­tes­te, was Deutsch­land pas­sie­ren könnte.

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