Sellering III: Relativismus reloaded

Ein relativ großer Pilz.Muß ich, um den Geschmack einer Marmelade zu kritisieren, eine Marmelade, die mir besser schmeckt, für die ideale Marmelade halten? Nein. Wenn das so wäre, müßten wir nämlich alle unsere Klappe halten. Um vergleichen zu können und uns ein Urteil zu bilden, sind wir nicht auf Dichotomien angewiesen. Also relativieren wir:

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Ver­gli­chen mit der BRD war man in der DDR rela­tiv unfrei. Ver­gli­chen mit der DDR ist man in der BRD noch immer rela­tiv frei. Alle davon abwei­chen­den Ergeb­nis­se die­ses Ver­gleichs dürf­ten sich indi­vi­du­al­psy­cho­lo­gisch oder bio­gra­phisch erklä­ren lassen.

Da gibt es den Wes­si, der vom Libe­ra­lis­mus ange­ödet ist und sich die har­te Hand des Staa­tes wünscht, weil er hofft, daß dann end­lich mal was pas­siert. Es gibt den Roman­ti­ker, dem das gegen­wär­ti­ge Leben immer zu pro­sa­isch ist. Und es gibt den Ossi, der ent­täuscht ist, daß die BRD auch ihre Feh­ler hat. Dabei hat­te man ihm doch ver­spro­chen, daß die BRD der Ide­al­staat sei.

Um mal etwas kon­kre­ter zu wer­den: Könn­ten wir in der DDR öffent­lich dar­über dis­ku­tie­ren, ob die DDR eine Miß­ge­burt der Sie­ger­mäch­te ist, die BRD ihre Vor­zü­ge oder wel­che Nach­tei­le die DDR hat? Nein, könn­ten wir nicht. Kön­nen wir in der BRD dar­über dis­ku­tie­ren, ob die BRD eine Miß­ge­burt der Sie­ger­mäch­te ist, die DDR ihre Vor­zü­ge hat­te oder wel­che Nach­tei­le die BRD hat? Ja, kön­nen wir.

Wir kön­nen sogar dar­über strei­ten, ob die DDR deut­scher als die BRD war. (Obwohl das für die Beur­tei­lung der DDR als Unrechts­staat völ­lig gleich­gül­tig ist.) Die DDR war das ein­zi­ge Land im Ost­block, das sozia­lis­tisch war, wäh­rend die Bul­ga­ren wei­ter bul­ga­risch und die Polen wei­ter pol­nisch dach­ten. Denn auch die DDR hat­te den Krieg ver­lo­ren, auch wenn das kei­ner so recht wahr­ha­ben woll­te. Daß Sta­lin 1941 das Vater­land wie­der­ent­deck­te, zeigt nur, daß nicht alle Kom­mu­nis­ten dumm waren.

Die DDR-Kom­mu­nis­ten hat­ten aus ihrer Nie­der­la­ge 1933 gelernt, daß die Men­schen allein mit der Inter­na­tio­na­le nicht zu mobi­li­sie­ren sind. Der Mensch ist ein­fach gestrickt. Geht’s ihm gut, stellt er kei­ne Fra­gen. Lei­det er Man­gel, muß man ihn ein­sper­ren, damt er nicht weg­läuft, was zum Sau­fen geben, damit er nicht irre wird und ein biß­chen Hei­mat las­sen, damit er mor­gens über­haupt noch aufsteht.

In einer Dik­ta­tur sind Anpas­sungs­leis­tun­gen zu erbrin­gen, die das Maß, das uns heu­te abge­for­dert wird, weit über­stei­gen. Wer das leug­net, soll­te sich viel­leicht mal die Lebens­ge­schich­ten der weni­gen DDR-Dis­si­den­ten anschau­en. Die „Errun­gen­schaf­ten” der DDR sind nicht ohne ihre dunk­len Sei­ten zu haben, damals nicht und heu­te wohl erst recht nicht. Daß das heu­te so fröh­lich aus­ge­blen­det wird, zeugt von einer man­geln­den Ernst­haf­tig­keit im Umgang mit der eige­nen Geschichte.

Viel­leicht kön­nen eini­ge Leu­te aber auch nicht ermes­sen, was es bei­spiels­wei­se bedeu­te­te in der DDR kein Abitur machen zu dür­fen, weil man das fal­sche Eltern­haus hat­te. (An mir ist die­ser Kelch nur aus Alters­grün­den vor­bei­ge­gan­gen.) Man kann auch ohne Abitur ein glück­li­cher Mensch sein. Zur Cau­sa Sel­le­ring: Von Leu­ten aber, die das im Wes­ten alles selbst­ver­ständ­lich in Anspruch neh­men konn­ten, will ich nichts über die Vor­zü­ge der DDR hören.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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Kommentare (4)

juliusevola

1. April 2009 20:33

Können wir in der BRD angesichts von im Jahre 2008 mehr als 12000 Ermittlungen und Verurteilungen wegen Meinungsdelikten wirklich frei diskutieren ?

eleonoraduse

1. April 2009 21:55

...so wie Ellen Thiemann,die nach einem gescheiterten Fluchtversuch in den gelobten Westen,nur um ihren elfjährigen Sohn zu schützen, jede Schuld auf sich nahm und 1973 in das Frauenzuchthaus Hohneck kam.Drei Jahre und fünf Monate der Martern,Quälereien z.b.Schlafentzug(sicher noch das harmloseste),zermürbener Einzelhaft,Drogen oder absoluter Zuckerentzug ...die Hölle auf Erden zu erleben...dann doch lieber BRD!

Torsten

2. April 2009 09:29

Die DDR war weit weniger frei als die BRD - das steht wohl außer Frage. Und ein Staat, der seine Bürger einzäunen muß, damit sie ihm nicht in Scharen davonlaufen, hat keine Existenzberechtigung und ist deshalb folgerichtig untergegangen. Ich vermute, daß kaum jemand, selbst in der Linkspartei, sich die DDR so, wie sie wirklich war, zurückwünscht.
Wenn sie konservativer und deutscher war als die BRD, so ist das ein Nebeneffekt - ähnlich dem, daß such im Grenzstreifen seltene Tier- und Pflanzenarten erhalten haben. Das kann nicht dazu dienen, die Ungerechtigkeit und Schäbigkeit, die es in der DDR gab, irgendwie aufzuwiegen - es macht das Schlechte nicht gut.
Trotzdem ist es interessant, solche Nebeneffekte wahrzunehmen - und die seltsame Vermischung von "iinks" und "rechts", "revolutionär" und "konservativ" (so war das Dritte Reich bei allem Blut-und-Boden- und Germanengetue in vielem hochmodern).
Es ist nur schwierig, in der Öffentlichkeit darüber sachlich zu sprechen, weil sich die Opfer verständlicherweise verletzt fühlen, wenn man die Täter für etwas Gutes lobt, das sie, außer Verbrechen zu begehen, auch getan oder ungewollt bewirkt haben.

Toni Roidl

2. April 2009 10:56

Klasse Beitrag. Und Respekt vor allen Dissidenten. Aber ich frage, ob die »Anpassungsleistungen«, die dem rechtskonservativen Bürger in der freiheitl.-demokr. BRD abgefordert werden, nicht auch schon ein Maß erreicht haben, dass der dunklen Seite der »kommoden Diktatur« entspricht. Und ob die Soft-Diktatur nicht perfider ist, als die klassische. Denn deren primitive Hölzernheit ist klar konturiert, was die Anpassung erleichtert. Wissen Sie denn, ob Ihre Mitarbeit an diesem Netzbuch Ihnen tatsächlich keine Nachteile bringt? Welche Stelle, welches Stipendium, welche Empfehlung Sie deswegen nicht bekommen? Oder pfeifen Sie darauf? In dem Fall - Respekt (s.o.)!

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