Schreibtisch, Garten, Alltag (VIII): Seitensteher

Gestern war der erste Herbsttag, kein Zweifel: Es war kühl und regnerisch, und die Sonne hatte da, wo sie durchblitzte,....

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

kei­ne som­mer­li­che Kraft mehr. Man ver­läßt kurz den Schreib­tisch, steckt sich ein Ziga­ril­lo an, dreht im Gar­ten eine Run­de und weiß: Es ist Zeit. Man streut Kör­ner und beob­ach­tet die Hüh­ner: Wer abseits ste­hen bleibt und zunächst die ande­ren picken läßt, ist klü­ger, weni­ger leicht in der Schar zu bän­di­gen. Pulk oder Ein­zel­gän­ger: Wen soll man schlachten?

Las vor eini­gen Tagen im Fluß ohne Ufer von Hans Hen­ny Jahnn – im ers­ten Teil, dem Holz­schiff – eini­ge Sät­ze, die mir nicht mehr aus dem Sinn gehen. Sie ste­hen am Anfang des III. Kapi­tels und lösen die ers­ten, beklem­men­den Gesprä­che der vor­her­ge­gan­ge­nen Sei­ten auf, die sich um die Bau­wei­se, die selt­sa­men Mecha­nis­men und die blin­den Pas­sa­gie­re des Schif­fes dre­hen. Die Sät­ze lauten:

Die Wahr­neh­mun­gen der Sin­ne waren in Ein­klang gebracht mit den Über­ein­künf­ten. Die all­ge­mei­nen und augen­fäl­li­gen Geset­ze waren an kei­nem Punkt umge­bo­gen wor­den. Und das Prin­zip der Nütz­lich­keit war inmit­ten eines bedeu­ten­den Auf­wands zur Herr­lich­keit geführt. Der Spleen eines ein­zel­nen war widerlegt.

Vier Sät­ze, vier ver­schie­de­ne Stu­fen der War­nung vor einer abwei­chen­den Per­spek­ti­ve und der Bän­di­gung eines Abweichlers:
1. Satz: Im Goe­the-Gedächt­nis­ton wird die hei­te­re Wie­der­her­stel­lung des rech­ten Maßes beschrieben;
2. Satz: Im Ange­la-Mer­kel-Gedächt­nis­ton steigt das Wahr­nehm­ba­re in den Bereich des Alter­na­tiv­lo­sen auf;
3. Satz: Im Adal­bert-Stif­ter-Gedächt­nis­ton wird das Gedeih­li­che gera­de­zu par­odis­tisch überbetont;
4. Satz: Ohne Anlei­he rückt das Wort “Spleen” den Abweich­ler in die Nähe des Knalls.

Ins­ge­samt klingt das nach brü­chi­gem Eis, wack­li­ger Kon­struk­ti­on, fra­gi­ler Sta­tik. Mir begeg­ne­te im Vor­trag Erik Leh­nerts auf der vor weni­gen Tagen in Schnell­ro­da absol­vier­ten Som­mer­aka­de­mie die Gestalt, auf die sol­che Sät­ze aus der Mit­te her­aus gemünzt sind: der “Sei­ten­ste­her”. Leh­nert beschrieb damit den Typ Den­ker, der sich nicht mit dem herr­schen­den Deu­tungs­pa­ra­dig­ma abfin­den oder des­sen Ton auf­grei­fen und bedie­nen möch­te. Er kratzt viel­mehr am Para­dig­ma, berei­tet einen Deu­tungs­wech­sel vor, wider­spricht im Kern und var­ri­iert sei­nen Ton, um Gehör zu fin­den. Oder, um Jahnns 1., ent­schei­den­den Satz auf­zu­grei­fen: Der Sei­ten­ste­her bekommt die Wahr­neh­mung sei­ner Sin­ne nicht mehr in Ein­klang mit den Übereinkünften.

Die Fra­ge ist: Wel­cher Sei­ten­ste­her ist der “Typ von mor­gen”, wel­cher ein Spin­ner? Wann berei­tet der Sei­ten­ste­her einen Para­dig­men­wech­sel vor, wann treibt er eine Sack­gas­se ins Nie­mands­land? Und: Setzt er sich zwangs­läu­fig durch, weil er recht hat, oder gibt die Geschich­te nur im Nach­hin­ein denen recht, die beharr­lich und hart genug waren, sich durchzusetzen?

Noch ist nicht Zeit für das Beil­chen. Noch legen Schar-Huhn und Sei­ten­ste­her zu. Noch picken sie beide.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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Kommentare (6)

Saxnot

6. September 2012 08:52

Und das Schweigen im Volk, ist es die Feier schon
Vor dem Feste? die Furcht, welche den Gott ansagt?

Inselbauer

6. September 2012 09:06

Jahnn verfolgt hier sein Grundmuster, nämlich die Beschreibung des freiwilligen Zurechtgestutztwerdens. Goethe tritt als Zuchtmeister auf (...) Stifter dagegen hat in dem Text gar nichts zu suchen, er widerlegt alle Diskurstheorien und auch Kubitscheks Vorstellung von einem waldgängerischen Sprechakt. Er ist nicht schwul und schert sich einen Dreck um den Deutungsrahmen seiner Texte: Heil Stifter!

Nils Wegner

6. September 2012 12:04

So oder so gibt die Geschichte eben erst im Nachhinein recht; so bleibt sie wohl der falsche Bezugspunkt für denjenigen, der sich im Hier und Jetzt vor die Wahl zwischen "buten un binnen" gestellt sieht.

Ein Fremder aus Elea

6. September 2012 15:37

Setzt er sich zwangsläufig durch, weil er recht hat, oder gibt die Geschichte nur im Nachhinein denen recht, die beharrlich und hart genug waren, sich durchzusetzen?

Im weltanschaulichen Bereich?

Nun, zunächst mal ist die Weltanschauung eines Seitenstehers auf etwas anderes ausgerichtet als die Weltanschauung eines Scharmitglieds. Präskriptive Aspekte spielen in der ersteren keine Rolle, weil nichts da ist, was eine Präskription annehmen könnte. Es ist deshalb gänzlich unmöglich, daß sich die Weltanschauung eines Seitenstehers jemals unverfälscht in der Masse der Bevölkerung durchsetzt, da diese sich stets als Akteur sieht, welcher sein Handeln frei wählen kann, und niemals akzeptieren wird, durch systemische Zwänge bestimmt zu sein, wie es noch jeder Seitensteher sehen wird, da für ihn nur diese systemischen Zwänge von praktischem Nutzen sind.

Es findet stets ein Prozeß der Verfälschung statt, wenn ein Seitensteher Einfluß gewinnt. Nehmen wir einmal Schopenhauer, ein Paradebeispiel.

Wagner hat seine Grundaussage übernommen, daß der Schlüssel zu einem besseren Leben darin besteht, Wünsche abzustreifen. Dann hat er das im Ring des Nibelungen konkretisiert, indem er Siegfried und Brünnhilde ins Unglück gehen läßt, weil sie eben auch "vom Golde gegirrt, nach Gold nur noch streben", sozusagen, bei Siegfried ist es das Ansehen am Hof, bei Brünnhilde Standesdünkel.

Aber diese Forderung ist schwer, und eine Schar zieht es vor, ihr nicht nachzukommen. Entsprechend schwenkte der Fokus der Wagnergemeinde dann auch recht schnell weg von der Gesamtaussage und hin zu folgender Passage, an welche ich jetzt vor dem Hintergrund des Einflusses des Großkapitals denken mußte, denn es paßt ja alles zu schön:

Schätze zu schaffen und Schätze zu bergen,
nützt mir Nibelheims Nacht;
doch mit dem Hort, in der Höhle gehäuft,
denk' ich dann Wunder zu wirken:
die ganze Welt gewinn' ich mit ihm mir zu eigen.

Die in linder Lüfte Wehn da oben ihr lebt,
lacht und liebt: mit goldner Faust
euch Göttliche fang' ich mir alle!
Wie ich der Liebe abgesagt,
alles, was lebt, soll ihr entsagen!
Mit Golde gekirrt,
nach Gold nur sollt ihr noch gieren.
Auf wonnigen Höhn
in seligem Weben wiegt ihr euch;
den Schwarz-Alben
verachtet ihr ewigen Schwelger!
Habt acht! Habt acht!
Denn dient ihr Männer erst meiner Macht,
eure schmucken Frau'n, die mein Frein verschmäht,
sie zwingt zur Lust sich der Zwerg,
lacht Liebe ihm nicht.
Hahahaha! Habt ihr's gehört?
Habt acht vor dem nächtlichen Heer,
entsteigt des Niblungen Hort
aus stummer Tiefe zu Tag!

Den hehlenden Helm ersann ich mir selbst;
der sorglichste Schmied,
Mime, musst' ihn mir schmieden:
schnell mich zu wandeln nach meinem Wunsch,
die Gestalt mir zu tauschen, taugt der Helm.
Niemand sieht mich, wenn er mich sucht;
doch überall bin ich, geborgen dem Blick.

So, und jetzt langsam kommen wir zu einer Weltanschauung, welche die Masse anzunehmen bereit ist, nämlich die Macht des Ringes zu etwas besserem einzusetzen, als die Minderwertigkeitskomplexe zu kurz Gekommener zu befriedigen.

Was hat das jetzt noch mit Schopenhauer zu tun? Herzlich wenig. Und auch Wagner gerät auf diese Weise zur Karikatur. Man bläst eine durchaus bewußte Boshaftigkeit zur zentralen Aussage auf. Aber Wagner hat sehr deutlich gesagt, daß sowohl das reine Streben nach Macht, als auch das unreflektierte Streben nach Ansehen abgestreift werden muß, wenn wir in eine bessere Welt hinübergehen wollen. In dem Sinne schreibe ich ja auch, ich reflektiere das Wesen derjenigen, welche nach Macht streben und auch jener, welche nach Anerkennung streben, deshalb verstehe ich mich in einer Traditionslinie mit Schopenhauer und Wagner.

Eine Traditionslinie, welche indes allenfalls von einer Schule unverfälscht weitergeführt werden kann, und nicht von der Masse des Volkes.

Macht kann derjenige, welcher eine bessere Welt verspricht, nur über jene haben, welche sich eine bessere Welt wünschen. Und so viele sind das gar nicht. Aber es gibt sie schon, und sie sind als kostbarer Besitz zu betrachten, wie die Zweige eines veredelten Obstbaums, sozusagen. Einstweilen wird noch einige Zeit des Hegens ins Land gehen müssen, bevor man sie einer weiterführenden Verwendung zuführen kann.

Ja, ich sehe das quasi aus kirchlicher Perspektive.

Oswaldo

6. September 2012 17:29

Der Seitensteher ist

- asiatisch-ganzheitlich
- spirituell
- kommunitaristisch
- weiß die internetbasiert-akklamatorische Legitimation für Führungsfiguren (e.g. Viktor Orban) als Basisdemokratie zu verkaufen.

Ach ja, und der Seitensteher von Morgen kann auch im eigenen Lager die Guten von den Schlechten unterscheiden und die einen (Edgar Jung, Spengler, Berdjajew etc.) in Töpfchen und die Anderen (Jünger, Schmitt, Evola) ins Kröpfchen tun. Er sieht die Albernheit des linken Marxgebets der Linken und vermeidet dergleichen. Auch findet er neue Worte für verbal Verbranntes.

Ein Fremder aus Elea

6. September 2012 23:08

Oswaldo,

nichts gegen Jünger als Literaten. Neben Goethe der einzige, welchen ich ohne Scham im Ausland anpreisen würde. Jeder kann sich mal verheben, den Satz "Verantwortung ist Freiheit." 500 Mal in einem Buch zu wiederholen ist allerdings schon eine besondere Leistung.

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