Die andere Moderne: Grundriß einer politischen Alternative

pdf der Druckfassung aus Sezession 44 / Oktober 2011

von Michael Stahl

Eine andere Moderne.

Die geistigen Quellen für eine politische Alternative finden sich nicht nur in einem spezifisch konservativen Erbe. Denn dieses ist Teil,...

wenn auch ein heu­te viel­fach apo­kry­pher, der gegen­wär­ti­gen Moder­ne, da es einst in Geg­ner­schaft zur Fort­schritts­pro­gram­ma­tik der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on aus dem Inter­es­se an der Erhal­tung tra­di­tio­nel­ler Bestän­de erwach­sen ist. Gegen­über die­ser heu­te nicht mehr wei­ter­füh­ren­den Ver­en­gung der Per­spek­ti­ve muß die gesam­te geis­ti­ge Tra­di­ti­on Euro­pas wie­der in den Blick genom­men und damit der für kate­go­ri­al gehal­te­ne Bruch der Moder­ne mit der Vor­mo­der­ne über­wun­den werden.

Wir kön­nen die tie­fer lie­gen­den Pro­ble­me der Moder­ne im Spie­gel der Vor­mo­der­ne, also der euro­päi­schen Hoch­kul­tur bis zum 17./18. Jahr­hun­dert, genau­er iden­ti­fi­zie­ren. Im Brü­cken­schlag zur Vor­mo­der­ne ist eine »drit­te Ebe­ne« des Den­kens zu gewin­nen, die den Hori­zont zur Zukunft als einer ande­ren Moder­ne öff­net. Damit wird das Selbst­ver­ständ­nis der Moder­ne als qua­li­ta­tiv ein­zig­ar­ti­ger, unver­gleich­li­cher und nicht mehr hin­ter­geh­ba­rer his­to­ri­sche For­ma­ti­on grund­sätz­lich in Fra­ge gestellt.

 

Die Kri­se des Öko­no­mis­mus der Moderne.

Ent­schei­dend für die Kri­tik an den Fehl­ent­wick­lun­gen der Moder­ne ist die Ableh­nung des Pri­mats der Öko­no­mie. In ihm ste­cken vor allem die Prin­zi­pi­en von Öko­no­mi­sie­rung und Wachs­tum. Unter dem ten­den­zi­ell alle Lebens­be­rei­che unter­wer­fen­den Dik­tat des Öko­no­mi­schen – also des Effi­zi­en­ten, Rechen­haf­ten, Meß­ba­ren, mate­ri­el­len Gewinn Brin­gen­den – gel­ten alle Wer­te nur noch als Markt­wer­te und wer­den als sol­che nur noch wahr­ge­nom­men. Das in die Waren­pro­duk­ti­on inves­tier­te Kapi­tal muß maxi­ma­len Pro­fit abwer­fen. Dies bedingt das zwei­te Prin­zip, ein per­ma­nen­tes Wachs­tum der Pro­duk­tiv­kräf­te und eine quan­ti­ta­ti­ve Stei­ge­rung der wirt­schaft­li­chen Pro­duk­ti­vi­tät. In die­sem Wachs­tum sehen die libe­ral­ka­pi­ta­lis­ti­schen wie die sozia­lis­ti­schen Wirt­schafts­ord­nun­gen der Moder­ne glei­cher­ma­ßen den Motor für einen schein­bar gren­zen­lo­sen Fortschritt.

Zugleich aber führt die allein durch Gewinn­ma­xi­mie­rung bestimm­te, äußer­lich schein­bar so erfolg­rei­che Öko­no­mie zu teils inten­dier­ten, teils sehen­den Auges unter dem Zwang des Gewinn­ma­chens in Kauf genom­me­nen Fol­gen. Sie las­sen den mitt­ler­wei­le erziel­ten Wohl­stands­ge­winn zuneh­mend frag­wür­dig erschei­nen oder stel­len ihn bereits hand­fest in Fra­ge: sinn­ent­leer­ter, künst­lich erzeug­ter Mas­sen­kon­sum; ver­schmutz­te oder ver­gif­te­te natür­li­che Umwelt; häß­lich ver­un­stal­te­te Lebens­räu­me; Ver­brauch, Ver­schwen­dung und Erschöp­fung der natür­li­chen Res­sour­cen; poli­ti­sche Ent­mün­di­gung durch die Sach­zwän­ge tech­no­lo­gi­scher Groß­pro­jek­te; Zer­trüm­me­rung der gesell­schaft­li­chen Grund­la­gen, indem alle ihre Bau­stei­ne – Fami­lie, Bil­dung, Gesund­heit, Kul­tur – dem Prin­zip der Öko­no­mie unter­wor­fen werden.

Die Not­wen­dig­keit des Bewußtseinswandels.

Auf der poli­ti­schen Agen­da steht bereits die For­de­rung nach einem nach­hal­ti­gen Wirt­schaf­ten. Sie greift aller­dings zu kurz, denn sie gleicht eher einem Repa­ra­tur- und Opti­mie­rungs­vor­ha­ben, das das Grund­prin­zip des Wirt­schaf­tens, ent­grenz­tes Pro­fit­stre­ben wie schran­ken­lo­sen Kon­su­mis­mus, und damit die Hege­mo­nie des Pro­duk­ti­vis­mus­wahns unan­ge­tas­tet läßt. Wei­ter­zu­kom­men ist also nur durch eine Um- und Neu­ori­en­tie­rung der gesam­ten Ver­hal­tens- und Lebensweise.

Wie bei der Ent­ste­hung der moder­nen Epo­che bedarf es dazu einer ein­schnei­den­den geis­ti­gen Wen­de. Ihre Maxi­me ist ein­fach: dem Glau­ben abzu­schwö­ren, daß mehr zu pro­du­zie­ren und mehr zu haben, das Bes­se­re sei. Wie bei allen tief­grei­fen­den Zäsu­ren der Welt­ge­schich­te ist auch hier ent­schei­dend die Kraft, die von der Ent­ste­hung einer neu­en Idee des Lebens aus­geht. Blickt man über den Tel­ler­rand der Moder­ne, so ver­nimmt man die ent­schei­den­de Bot­schaft: Das mensch­li­che Wirt­schaf­ten ist aus sei­ner ver­häng­nis­vol­len hege­mo­nia­len Posi­ti­on zu befrei­en und wie­der – so wie es mit Aus­nah­me der letz­ten 200 Jah­re immer gewe­sen ist – in den Kreis der huma­nen Sphä­ren zurück­zu­füh­ren, damit es, ein­ge­bet­tet in die Gesell­schaft und in stän­di­ger Rück­kopp­lung mit ihr, sei­ne Funk­ti­on sinn­voll und befrie­di­gend erfül­len kann.

Bei der Über­win­dung der allein auf Gewinn zie­len­den Waren­pro­duk­ti­on kann etwa das auf ganz ande­res aus­ge­rich­te­te Lebens- und Nach­hal­tig­keits­ide­al der Vor­mo­der­ne wich­ti­ge Hin­wei­se geben – bei­spiels­wei­se den Blick öff­nen für eine neue, in ihrem So-Sein lie­gen­de Digni­tät der Ding­welt und den sorg­fäl­ti­gen Umgang mit ihr; oder daß sich dies nie­der­schlug und bis heu­te offen­bart in einem Wil­len und einer Fähig­keit zu mate­ri­el­ler Groß­zü­gig­keit und der Bil­dung von Form und Schön­heit, die auch für den moder­nen Men­schen nichts von ihrer Anzie­hungs­kraft und Gül­tig­keit ver­lo­ren haben.

 

Der Raum der Gemeinschaft.

Die ande­re Moder­ne beginnt, wenn wir uns nicht mehr in Geg­ner­schaf­ten bege­ben, die his­to­risch obso­let gewor­den sind, weil sie nicht in der Lage sind, die anste­hen­den Pro­ble­me ding­fest zu machen und neue, adäqua­te Lösun­gen her­vor­zu­brin­gen. Wo sich »Kon­ser­va­tis­mus« prin­zi­pi­ell und a prio­ri als Gegen­po­si­ti­on zum »lin­ken« Lager ver­steht, über­nimmt er eine Denk­wei­se der Gegen­sei­te und schreibt sie fest. Wer auf den Aus­trag von Lager­ge­gen­sät­zen und poli­ti­sche Kon­fron­ta­ti­on setzt, bewegt sich auf dem glei­chen Boden der gegen­wär­ti­gen Moder­ne wie die, für die Rela­ti­vi­tät, Kon­flikt und nor­ma­ti­ve Des­in­te­gra­ti­on nicht mehr hin­ter­geh­ba­re Wesens­zü­ge der Moder­ne sind.

Dem liegt jedoch ein his­to­risch ver­eng­tes theo­re­ti­sches Ver­ständ­nis von Gesell­schaft und Gemein­schaft zugrun­de. Eine sich des­in­te­grie­ren­de Gesell­schaft ist nur denk­bar als Durch­gangs­sta­di­um zu einer neu­en und sta­bi­len, also kräf­ti­gen gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Inte­gra­ti­on und Iden­ti­tät. Die Per­p­etu­ie­rung von Front­stel­lun­gen, Lagern und Geg­ner­schaf­ten ver­hin­dert, daß der für eine Gemein­schaft uner­läß­li­che inte­grie­ren­de sym­bo­li­sche Raum wach­sen kann. Die stän­dig wie­der­hol­te Fest­stel­lung, daß man sich unei­nig ist und dies auch blei­ben will, führt zu dem inhalts­lee­ren und frus­trie­ren­den poli­ti­schen Dis­kurs, den wir seit Jahr­zehn­ten erle­ben und von dem sich die Bür­ger ange­wi­dert abwenden.

Jede poli­ti­sche Bear­bei­tung von Kon­flikt und Geg­ner­schaft muß auf deren Bei­le­gung und Über­win­dung zie­len. Kon­flikt ist ein uni­ver­sa­les Pro­blem, eine Her­aus­for­de­rung, die jede Gemein­schafts­ord­nung zu bewäl­ti­gen hat, und frucht­bar nur dann, wenn er bewäl­tigt wird. Die Auf­ga­be, Streit und Kon­flikt bei­zu­le­gen und zu über­win­den, resul­tiert daher nicht aus einem über­mä­ßig ire­ni­schen Bedürf­nis und ist auch nicht gleich­zu­set­zen mit dem Stre­ben der Mäch­ti­gen nach tota­li­tä­rer Fried­hofs­ru­he und Erstar­rung. Kon­flikt­bei­le­gung ist viel­mehr ele­men­tar not­wen­dig, um den Raum der kon­flikt­frei­en Gemein­sam­keit immer wie­der her­zu­stel­len, den jede Gesell­schaft und Gemein­schaft für ihre Repro­duk­ti­on in his­to­ri­scher Tra­di­ti­on und Rezep­ti­on benötigt.

Schöp­fe­ri­sche Erneuerung.

Die Umkehr zur Alter­na­ti­ve einer ande­ren Moder­ne wur­zelt tief in einer für das euro­päi­sche Den­ken wesent­li­chen Hal­tung, die über 2 500 Jah­re hin immer wie­der die für Euro­pa typi­schen Inno­va­ti­ons­schü­be bewirkt hat.

Anzu­knüp­fen wäre etwa an die Über­le­gun­gen der deut­schen Intel­lek­tu­el­len um 1800. Sie waren alle­samt und ver­ständ­li­cher­wei­se von den Ereig­nis­sen in Frank­reich zuerst posi­tiv elek­tri­siert und mach­ten dann in Reak­ti­on auf die wei­te­re Ent­wick­lung der »Revo­lu­ti­on« einen Lern­pro­zeß durch: Ihnen ging es nicht um Gegen­re­vo­lu­ti­on, son­dern um einen alter­na­ti­ven drit­ten Weg. Denn auch jede Gegen­re­vo­lu­ti­on wür­de nur ein »unemp­fäng­li­ches Geschlecht« vor­fin­den, wie Schil­ler die Situa­ti­on des 14. Juli 1789 charakterisierte.

Schil­lers Kon­se­quenz war der neue poli­ti­sche Ent­wurf der indi­vi­du­el­len und eli­tä­ren Bil­dung im Sin­ne einer Besten­aus­le­se, der Bil­dung des kleins­ten Punk­tes, aus dem nach Goe­the die größ­te Kraft ent­fal­tet wer­den kann. Die­ses Kon­zept der schöp­fe­ri­schen Restau­ra­ti­on unter­schei­det sich von der soge­nann­ten »Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on« durch den Grund­an­satz: Aus­ge­hend von einer grund­sätz­li­chen »Ver­wer­fung unse­rer Zeit« (Bor­chardt), also dem Bewußt­sein, den epo­cha­len Brü­chen eben­so ele­men­ta­re Ent­wür­fe ent­ge­gen­zu­stel­len, bedeu­tet schöp­fe­ri­sche Restau­ra­ti­on die Bil­dung des Indi­vi­du­ums durch eigen­schöp­fe­ri­sche Rezep­ti­on, »erstürm­ter Rück­zug berg­an in unaus­ge­leb­te Geschich­te« (Bor­chardt) – nicht zu prag­ma­ti­schen Zwe­cken, son­dern als geis­ti­ge Auf­ga­be zur Bewußt­wer­dung, Gestal­tung und Form­ge­bung. Also ver­bie­ten sich Vol­un­t­a­ris­mus und Popu­lis­mus, müs­sen Weg und Mit­tel kon­gru­ent sein mit dem Ziel einer von indi­vi­du­el­ler Frei­heit und Ver­ant­wor­tung getra­ge­nen Ordnung.

 

Visio­nä­rer Realitätssinn.

Der soge­nann­te Rea­lis­mus und die berühm­ten Tugen­den der Kon­ser­va­ti­ven: ste­te Skep­sis und grund­sätz­li­ches Miß­trau­en (gegen­über der ver­meint­li­chen mensch­li­chen Natur) sind für das poli­ti­sche Ide­al einer ande­ren Moder­ne nicht hin­rei­chend. Deren Men­schen­bild grün­det sich pri­mär auf das Gegen­teil: den Glau­ben an das Ide­al und die Zuver­sicht in sei­ne Macht. Uto­pie und Ide­al (ori­en­tiert am pla­to­ni­schen Leit­stern der Idee) oder, nach Bor­chardt: »das in sich herr­lich Nicht­ge­wor­de­ne, durch alle Jahr­tau­sen­de zusam­men­hän­gend« gegen­über dem »Stück­werk des Gewor­de­nen«, die nicht ver­wirk­lich­te Zukunft der Ver­gan­gen­heit also, vom früh­grie­chi­schen Solon bis Geor­ge, Bor­chardt oder Hes­se, das ist die Nah­rung die­ses Lebens im Geis­te. Sei­ne Visio­nen sind nicht mit ideo­lo­gi­schen Wunsch­bil­dern und Träu­me­rei­en zu ver­wech­seln. Der soge­nann­te »gestan­de­ne Kon­ser­va­ti­ve« wird mit sei­ner meist aufs real Mög­li­che und Mach­ba­re abzie­len­den Hal­tung und Pra­xis das Feu­er nicht ent­zün­den kön­nen, das es braucht, um wirk­lich qua­li­ta­tiv »fort­zu­schrei­ten«.

Hal­tung.

Daß wir in »lau­ten Zei­ten« leben, gehört nicht zuletzt zu jenen Erschei­nun­gen, die die gegen­wär­ti­ge Moder­ne so uner­träg­lich machen. Wer sich zu einer alter­na­ti­ven Moder­ne bekennt, soll­te also vor­le­ben, daß das Gegen­teil, »lei­se« sein, etwas Erstre­bens­wer­tes und Schö­nes ist und dadurch eben­so wirk­lich wie wirk­sam sein kann. Das häß­li­che Instru­men­ta­ri­um des Ver­laut­ba­rens, des Demons­trie­rens, des Ein­häm­merns, des Aus­po­sau­nens, des Sich-an-die-Brust-Schla­gens, des Über­flu­tens gehört dage­gen zu jener ver­öf­fent­lich­ten Schein­wirk­lich­keit, die von den Pro­pa­gan­dis­ten des »Fort­schritts« täg­lich neu repro­du­ziert wird. Also kei­ne »Grob­heit«, »Ins-Wort-Fal­len«, »Zwi­schen­ru­fe«, »Pro­test­pla­ka­te«.

Den in der »schö­nen neu­en Welt« der gegen­wär­ti­gen Moder­ne vor­herr­schen­den Gemüts­zu­stand beschreibt kaum ein Begriff so tref­fend wie die all­ge­gen­wär­ti­ge Zen­tral­vo­ka­bel »Spaß«. Ihr ist nur mit einem neu­en Modus des Han­delns und Auf­tre­tens, einem reflek­tier­ten Habi­tus zu begeg­nen. Die neu­en Vor­bil­der sind dar­an zu erken­nen, daß sie authen­tisch und sich selbst treu sind, ein­deu­tig und ver­läß­lich, zurück­ge­nom­men und ent­schie­den, unei­gen­nüt­zig und unbe­stech­lich, daß sie zugleich prin­zi­pi­en­fest, demü­tig und opfer­be­reit sind, freud­voll und beschei­den, ernst­haft und hei­ter-gelas­sen. Sie ver­trau­en, nicht skep­tisch und miß­trau­isch, son­dern zuver­sicht­lich und idea­lis­tisch, dar­auf, daß eine vor­bild­li­che Hal­tung, in der Per­son und Sache eins sind, auf die Dau­er eine grö­ße­re und nach­hal­ti­ge­re revo­lu­tio­nä­re Durch­set­zungs­kraft ent­fal­tet als jeder offe­ne Macht­kampf, in dem die Gefahr mora­li­scher Kor­rup­ti­on über­mäch­tig zu wer­den droht.

Frei­heit und Verantwortung.

Gewiß muß die ande­re Moder­ne erkämpft wer­den, aller­dings geht es dabei nicht um einen Par­tei­sieg in der Aus­ein­an­der­set­zung mit den »Lin­ken«, nicht um die Erobe­rung von Macht oder Deu­tungs­ho­hei­ten. Das Ziel reicht viel­mehr wei­ter, indem es das vor­han­de­ne Bezugs­feld des Den­kens und Han­delns auf­sprengt: die Über­win­dung von Par­tei­un­gen und Lager­den­ken über­haupt durch eine weit­rei­chen­de Revi­si­on der gegen­wär­ti­gen poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Ver­faßt­heit. Das ist nur dann »unpo­li­tisch« gedacht, wenn man sich noch im gewohn­ten Para­dig­ma bewegt, Poli­tik als die »Kunst des Mög­li­chen« zu betrach­ten. Tat­säch­lich kommt es aber dar­auf an, das Poli­ti­sche neu und damit das schein­bar Unmög­li­che zu denken.

Die not­wen­di­ge geis­ti­ge Wen­de ori­en­tiert sich an den bei­den Grund­prin­zi­pi­en von per­sön­li­cher Frei­heit und per­sön­li­cher Ver­ant­wor­tung. Bei­des ist nicht von­ein­an­der zu tren­nen: Der Grad mög­li­cher Frei­heit bemißt sich am Maß des Ver­ant­wor­tungs­be­wußt­seins. Zum Kon­zept der ande­ren Moder­ne gehört, daß ein Staat der Bür­ger bei die­sen sehr anspruchs­vol­le per­sön­li­che Bil­dun­gen und Dis­po­si­tio­nen – eine »poli­ti­sche Iden­ti­tät« (Chr. Mei­er) – for­dert, wie an der ers­ten Demo­kra­tie der Welt­ge­schich­te im alten Athen zu sehen ist.

Sind die­se Grund­la­gen nicht gege­ben oder (noch) nicht mehr­heit­lich als not­wen­dig aner­kannt, dann ist es not­wen­dig, über eine Wei­ter­ent­wick­lung und Anpas­sung der poli­ti­schen Ver­faßt­heit nach­zu­den­ken, die den über­wie­gend noch man­geln­den Vor­aus­set­zun­gen gerecht wird, ohne das Bür­ge­ride­al aufzugeben.

Die Bür­ger müs­sen die Mög­lich­keit erhal­ten, von unten her, in ihren unmit­tel­ba­ren Lebens­wel­ten ihr Bür­ger­sein wahr­zu­neh­men und ein­zu­üben. Man traut ihnen auf die­se Wei­se zu, in die Bür­ger­ge­mein­schaft im gro­ßen hin­ein­zu­wach­sen, und gibt der Bür­ger­tu­gend damit eine fes­te Ver­wur­ze­lung. Poli­ti­sche Teil­ha­be ist dann nicht mehr nur als for­ma­le Berech­ti­gung des ein­zel­nen auf­ge­faßt, son­dern als dyna­mi­scher Pro­zeß, in dem für den ein­zel­nen das Leben in Frei­heit und die Über­nah­me von Ver­ant­wor­tung in immer inten­si­ve­rer, d. h. in der Fol­ge auch dif­fe­ren­zie­ren­der Wei­se mög­lich wird.

Die sich dabei not­wen­dig her­aus­bil­den­de poli­ti­sche Eli­te zeich­net sich allein durch indi­vi­du­el­le Bil­dung und prak­ti­sche Leis­tung aus, und der Gefahr ihrer Ver­selb­stän­di­gung und Ego­zen­trie­rung steht ihre Ein­bin­dung in die bür­ger­schaft­li­che Infra­struk­tur gegen­über. In die­sem Rah­men muß sie in ange­mes­se­ner Wei­se, offen und legi­tim so pri­vi­le­giert wer­den, daß sie für ihren Dienst am Gemein­we­sen »den Rücken frei hat«.

Ästhe­tik und Form.

Zum per­sön­li­chen Auf­tre­ten, das einer ande­ren Moder­ne ange­mes­sen ist, gehört eine selbst­ver­ständ­lich geleb­te Sinn­lich­keit und damit ein Bewußt­sein von Form und Stil. Der fal­schen Äußer­lich­keit des »Spa­ßes« setzt der ver­än­der­te Habi­tus ein neu­es Äuße­res ent­ge­gen, das schon im Vor­schein die Bot­schaft gestal­tet: »Eti­am si omnes, ego non.« Mit die­ser Maxi­me setzt sich vom ver­meint­lich Popu­lä­ren ab, wer für sich den uner­schöpf­li­chen ästhe­ti­schen Vor­rat der euro­päi­schen Tra­di­ti­on erschließt. Ohne einen merk­li­chen Wan­del im äuße­ren Erschei­nungs­bild des pri­va­ten und öffent­li­chen Lebens ist eine ande­re Moder­ne noch nicht erreicht.

Der Bezugs­punkt dafür ist das Schö­ne. Vom Schö­nen, das nicht im Auge des Betrach­ters liegt oder kul­tu­rell belie­big defi­nier­bar wäre, geht eine natür­li­che Auto­ri­tät aus. Sie ver­führt nicht zu kom­mer­zi­ell moti­vier­ten Schein­be­frie­di­gun­gen wie die öffent­lich vor­herr­schen­de Illu­si­on des Schö­nen, viel­mehr führt sie her­aus aus Kon­ven­ti­on und Gewohn­heit, löst Erstar­run­gen, macht frei für neu­es Sehen und Den­ken und öff­net für die Wirk­lich­keit der huma­nen Werte.

Auf wel­che Wei­se eine voll­ende­te und schö­ne Form ihre über­wäl­ti­gen­de Attrak­ti­vi­tät aus­strahlt, ist letzt­lich nicht zu erklä­ren. Das »Ereig­nis des Schö­nen« (G. Nebel) bedeu­tet immer, daß Tran­szen­denz in unser irdi­sches Dasein ein­bricht und uns ergreift. Es gilt, sich dafür auf­nah­me­be­reit zu machen, indem man selbst sei­ne Sin­ne schult, sein Gefühl für das Schö­ne bil­det und in allen Berei­chen unse­rer selbst­ge­form­ten Lebens­welt der Häß­lich­keit der Moder­ne den Kampf ansagt.

 

Bil­dung.

Der ein­zi­ge erfolg­ver­spre­chen­de Weg zu einer ande­ren Moder­ne führt über die beharr­li­che Bil­dung des Indi­vi­du­ums. Zum Lebens­ent­wurf einer ande­ren Moder­ne gehört zen­tral das Stre­ben nach einem Leben des Geis­tes, einem Leben im Geist, durch den Geist und für den Geist. »… sein Ziel ist die Ade­lung Aller durch Befrei­ung des Ein­zel­nen.« (Rudolf Bor¬chardt) Bil­dung bedeu­tet, sich selbst und sei­nem Leben in der Aus­ein­an­der­set­zung mit der Tra­di­ti­on und dem Den­ken der Zeit­ge­nos­sen eine erkenn­ba­re und sinn­erfüll­te Form zu ver­lei­hen. Bil­dung im rich­tig ver­stan­de­nen Sin­ne stellt das Indi­vi­du­um in den Mit­tel­punkt, ver­langt die Anstren­gung des ein­zel­nen, aber unbe­dingt auch die per­sön­li­che Begeg­nung und gemein­schaft­li­che Bemü­hung. Bil­dung ist Selbst­er­zie­hung in Frei­heit und zur Frei­heit, sie ver­folgt kei­nen prag­ma­ti­schen, außer­halb ihrer selbst lie­gen­den Zweck, sie ist mög­lichst umfas­send und aufs All­ge­mei­ne gerich­tet, nie­mals berufs­be­zo­gen. Bil­dung erfaßt den Men­schen mit allen sei­nen Sin­nen als Ein­heit und Gesamt­heit von Kör­per und Geist.

Buch und Mut­ter­spra­che sind für den Bil­dungs­pro­zeß des neu­en Bewußt­seins eben­so unab­ding­bar wie Umgang und Aus­ein­an­der­set­zung mit dem euro­päi­schen Erbe von Bild­kunst und Musik. Nur wer sich in der Kul­tur Euro­pas hei­misch fühlt, ist in der Lage, über die Kul­tur­gren­zen hin­aus sinn­vol­le Ver­bin­dun­gen aufzunehmen.

Bil­dung ist ein nicht abschließ­ba­rer Pro­zeß, des­sen Wir­kung, gesamt­ge­sell­schaft­lich betrach­tet, Dif­fe­ren­zie­rung und Man­nig­fal­tig­keit ist. Dies wirkt für die Gesell­schaft als gan­ze pro­duk­tiv. Nur als offe­ner Pro­zeß kann Bil­dung die mensch­li­chen Poten­tia­le ent­wi­ckeln und aus­schöp­fen. Sie kann des­halb nicht exklu­siv sein, wirkt aber eben­so­we­nig ega­li­tär, son­dern zielt mit der Aus­bil­dung von Unter­schie­den auf die Her­an­zie­hung einer Eli­te des Geis­tes. Die­se ist für eine intak­te Sozi­al­ord­nung in der ande­ren Moder­ne unerläßlich.

Schö­nes Leben.

Ein­zig die see­li­sche Kraft ästhe­tisch gebil­de­ter Indi­vi­du­en macht den Schritt zu einer ande­ren Moder­ne mög­lich. Mit die­ser Hal­tung ist nicht ein ein­sei­tig aske­ti­sches Pflicht­ethos ver­bun­den, son­dern eine Lebens­kunst, die in der Selbst­sor­ge des ein­zel­nen besteht. Sie erwächst aus einem neu­en Ver­hält­nis zu sich selbst. Es äußert sich in einem sor­gen­den und sorg­sa­men Umgang mit dem eige­nen Leben wie mit des­sen Bezü­gen zu den ande­ren und zur Um- und Lebens­welt. Aber fern von jedem Hedo­nis­mus ist ent­schei­den­der Bezugs­punkt der Dienst an der Gemeinschaft.

Nur die­ses Ziel eines in Frei­heit und Ver­ant­wor­tung geleb­ten schö­nen Lebens ver­mag das bis­he­ri­ge, dem ver­meint­lich immer­wäh­ren­den mate­ri­el­len Wachs­tum gel­ten­de Lebens­ziel als Sinn­erfül­lung des indi­vi­du­el­len Lebens abzu­lö­sen. Wer eine ande­re Moder­ne anstrebt, muß dar­auf bestehen, daß dies kei­ne unzu­läs­si­ge, unrei­fe oder unpo­li­ti­sche Idea­li­sie­rung ist, viel­mehr das unver­zicht­ba­re, die Gegen­wart über­win­den­de und Zuver­sicht auf die Zukunft eröff­nen­de Ideal.

 

Gott.

Idea­le kann nur der haben und danach stre­ben, der glaubt. »An das Gött­li­che glau­ben / Die allein, die es sel­ber sind.« (Fried­rich Höl­der­lin) Allein durch die tran­szen­den­ta­le Ver­an­ke­rung der ein­zel­nen kann Han­deln in Frei­heit und Ver­ant­wor­tung letzt­lich gelin­gen. Muß der Staat als Insti­tu­ti­on reli­gi­ös neu­tral sein und kann daher sei­ne nor­ma­ti­ve Grund­la­ge nicht selbst schaf­fen, dann müs­sen die für das Gan­ze han­deln­den Indi­vi­du­en die­se Basis mit­brin­gen. Nur der Glau­be an das Gött­li­che bewahrt eine an Idea­len ori­en­tier­te Hal­tung vor Hybris. Das wuß­ten schon die Grie­chen, und wie­sen dem Men­schen eine unver­füg­ba­re und furcht­ein­flö­ßen­de Gren­ze an, die er nicht über­schrei­ten darf.

Wer zu einer ande­ren Moder­ne will, bohrt zwar dicke Bret­ter, weiß aber, daß der Sinn sei­nes Tuns sich letzt­lich einer gött­li­chen Wei­sung und der Erfolg sei­ner Anstren­gung gött­li­cher Gna­de ver­dankt. Nicht zuletzt dadurch hebt sich der neue Habi­tus von der gegen­wär­ti­gen Moder­ne ab mit ihrem Macht- und Mach­bar­keits­wahn und dem blin­den Ver­trau­en in jede Form von Sozialtechnologie.

 

 

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