Literatur: Mehr Ausdruck.

von Heino Bosselmann

Literatur ist gegenwärtig vor allem betriebsamer Betrieb. Die Verlage produzieren Ware, was sonst, und verhalten sich...

öko­no­misch, ethisch und ästhe­tisch wie alle ande­ren Unter­neh­men. Feuil­le­ton und Kri­tik sowie der gesam­te Rum­mel um Prei­se und Sti­pen­di­en schei­nen den Gewinn­li­ni­en weit­ge­hend gleich­ge­schal­tet. Betriebs­wirt­schaft­li­chen Moti­ven fol­gend, wer­den bestehen­de Bedürf­nis­se bedient und neue suggeriert.

Müßig dar­über zu kla­gen, daß eine Neu­erschei­nung mit einem Vam­pir oder einem porn­ö­sen Motiv auf dem Ein­band – idea­ler­wei­se bei­des in einem – bes­se­re Erfolgs­chan­cen hat als anspruchs­vol­le Stof­fe. Die es frei­lich immer noch gibt und mit deren „Back­lists“ die gro­ßen Häu­ser gut leben – so gut, daß sie neu­en Ange­bo­ten, ins­be­son­de­re des soge­nann­ten erns­ten Faches, sehr skep­tisch gegen­über­ste­hen. Umfang­reich sein darf, was tren­dig ist. Wäh­rend der Selbst­läu­fer Fan­ta­sy-Lite­ra­tur groß­for­ma­tig erscheint und gar nicht genug Papier auf­bie­ten kann, bit­tet man die anstren­gend anspruchs­vol­len Schrei­ber drin­gend um Prä­gnanz und Kür­zun­gen. Der Leser ver­tra­ge kei­ne lan­gen gedank­li­chen Läu­fe mehr; gewöhnt an die Schnitt­se­quen­zen von RTL, zap­pe er sich schnell raus.

Wich­ti­ger aber: Lite­ra­tur mischt sich mitt­ler­wei­le kaum mehr ins Poli­ti­sche ein. Sie steht außer­halb des intel­lek­tu­el­len Stoff­wech­sels der Nati­on, so man davon aus­ge­hen mag, daß es bei­des im her­kömm­li­chen Sin­ne über­haupt noch mit nen­nens­wer­tem Gewicht und ein­an­der bedin­gend geben mag – Intel­lek­tua­li­tät und Nati­on. Außer­dem gehört es zur gegen­wär­ti­gen Grund­an­nah­me, den Rück­zug des Poli­ti­schen für ent­span­nend zu hal­ten, inso­fern der Kampf der Ideo­lo­gien vor­bei und der Krieg zwi­schen strei­ten­den Rei­chen befrie­det wäre. Frei­lich, Kunst ist nicht Waf­fe. Wo sie es sein woll­te oder muß­te, ent­stan­den pla­ka­ti­ver Kitsch oder Wer­bung. Aber bleibt sie poli­tisch abs­ti­nent, fehlt der Gesell­schaft die not­wen­di­ge ande­re Les­art zur Ver­laut­ba­rungs­rhe­to­rik der “markt­kon­for­men Demo­kra­tie” und deren ver­meint­li­cher “Alter­na­tiv­lo­sig­keit”.

Ohne Zwei­fel erschei­nen sehr gute Bücher, ins­be­son­de­re jen­seits der Spie­gel-Best­sel­ler­lis­te, die­ses Indi­ka­tors gän­gi­gen Geschmacks. Was man aber kaum auf­spürt, sind Wer­ke, die sich offen­siv ein­mi­schen, die pro­vo­zie­ren und inspi­rie­ren. Ganz so, wie der soge­nann­ten poli­ti­schen Klas­se neben ihrer Haus­halts­rech­ne­rei die exis­ten­ti­el­len The­men abhan­den kamen, feh­len sie anschei­nend der Literatur.

Zwei­er­lei fin­det sich statt des­sen in auf­fal­len­der Brei­te – in der Pro­sa zum einen auf­ge­wit­zel­te Life­style-The­men, eher psy­cho­lo­gisch als dra­ma­tisch, zum ande­ren das gute alte Mora­li­sie­ren. Über ers­te­res merkt der Lite­ra­tur­ko­lum­nist des „Mer­kur“ David Weg­ner in dem ihm eige­nen Plau­der­ton etwa an:

„Wie­der in Ber­lin über­fällt mich der gro­ße Roman­hun­ger. Ich lie­ge im Bett und lese mich zurück. Inner­halb weni­ger Tage ver­schlin­ge ich André Kubic­zeks ‚Der Genos­se, die Prin­zes­sin und ihr lie­ber Herr Sohn’, Han­na Lem­kes ‚Geschwis­ter­kin­der’ und Bernd Caill­oux’ ‚Gut­ge­schrie­be­ne Ver­lus­te’. Ber­lin­bü­cher auf ihre Art und Wei­se alle drei. Im Nach­hin­ein plagt mich aller­dings mein Gewis­sen, habe ich die­se Bücher nicht zu schnell und hin­ter­ein­an­der gele­sen? Wo doch auf jeder Sei­te, in fast jedem Satz zu spü­ren war, wie lan­ge da gear­bei­tet wurde?“

In die zwei­te Grup­pe gehört Ursu­la Kre­chels 2012 mit dem Deut­schen Buch­preis aus­ge­zeich­ne­ter Roman „Land­ge­richt“ – kon­ven­tio­nell und gut erzählt, vor allem aber staats­tra­gend in der The­ma­tik: Nach dem Zusam­men­bruch des Drit­ten Rei­ches kehrt ein jüdi­scher Rich­ter nach Deutsch­land zurück, wird dort nicht gera­de will­kom­men gehei­ßen und erlebt skep­tisch die Ade­nau­er­jah­re. Die Jury:

“Bald poe­tisch, bald lako­nisch, zeich­net Kre­chel prä­zi­se ihr Bild der frü­hen Bun­des­re­pu­blik – von der Archi­tek­tur über die Lebens­for­men bis hin­ein in die Wider­sprü­che der Fami­li­en­psy­cho­lo­gie.” Dies sei “ein bewe­gen­der, poli­tisch aku­ter, in sei­ner Anmu­tung bewun­derns­wert küh­ler und moder­ner Roman”. Ursu­la Kre­chel ist ohne Zwei­fel eine inter­es­san­te Autorin. Aber „poli­tisch akut“ und „modern“ ist sie gera­de nicht. Bei­de Attri­bu­te wer­den von der Jury projiziert.

Über­haupt dreht sich die lite­ra­ri­sche Welt vor allem um den Roman, ganz in Nach­ah­mung der ame­ri­ka­ni­schen Erfolgs­au­toren. Bei aller Wert­schät­zung: Das ist eigent­lich neun­zehn­tes Jahr­hun­dert, bes­ter, aber epi­go­na­ler Rea­lis­mus, Natu­ra­lis­mus, Impres­sio­nis­mus, so als hät­te es Tho­mas Mann, Robert Musil, über­haupt die gro­ße Moder­ne und die frag­wür­di­ge Post­mo­der­ne nie gege­ben. Indi­vi­dua­lis­ten wie Hans Hen­ny Jahnn, Arno Schmidt, Tho­mas Bern­hard sucht man ver­ge­bens. Durch­weg Kon­ven­tio­na­lis­mus. Ja, es gibt bei­spiels­wei­se beschrei­bungs­kräf­ti­ge jun­ge Frau­en: Julie Zeh, Judith Zan­der, Judith Schal­an­sky. Ech­te Lite­ra­tur! Sel­ten! Poli­tisch aller­dings oppor­tun, ange­paßt. – Die letz­te ein­fluß­rei­che lite­ra­ri­sche Avant­gar­de – ob man es will oder nicht – kam von links. Wech­selt die Richtung? –

Das Thea­ter spielt in den weni­gen Häu­sern, die es sich leis­ten kön­nen, vor eli­tä­rem Publi­kum und Schul­klas­sen wei­ter sei­ne gro­ßen Stof­fe von der Anti­ke über Shake­speare, die Wei­ma­rer Klas­sik und Georg Büch­ner bis zu Tschechow, Beckett, und Mül­ler durch. Ansons­ten expe­ri­men­tiert es wild mit viel nack­tem Fleisch und SS-Schirm­müt­zen. Über die gro­ßen Städ­te kommt es in sei­nen poli­ti­schen Mobi­li­sie­rungs­ver­su­chen nicht hin­aus. Von muti­gen Aus­nah­men abge­se­hen. Das Thea­ter Anklam etwa war in der DDR und noch nach der Wen­de ein sub­ver­siv-pro­duk­ti­ver Ort am nord­öst­li­chen Rand. Bei allem Enga­ge­ment des wacke­ren Wolf­gang Bor­del bleibt nach der har­ten Revi­si­on der Käm­me­rer spiel­plan­tech­nisch  nicht viel davon.

Und die Lyrik – in Zei­ten poli­ti­scher Bewe­gung das ope­ra­ti­ve und gedan­ken­ver­dich­ten­de Gen­re schlecht­hin – zog sich zurück. Ihre Form­spe­zi­fik scheint das The­ma­ti­sie­ren des Indi­vi­du­ells­ten, Neben­säch­lichs­ten, Klein­tei­ligs­ten nicht nur zu legi­ti­mie­ren, son­dern zu ver­lan­gen. Viel zuviel ers­te Per­son im engen Umkrei­sen des eige­nen Ichs, das sich sei­ne Belang­lo­sig­keit sprach­lich illus­triert. Als Dich­tung gel­ten heu­te schon Gedan­ken­se­kre­ti­on und Poet­ry-Slam, also Sprech­ge­sang daher­ge­re­de­ter Pro­sa, und die pro­to­kol­lier­te Wei­ner­lich­keit all der emp­find­sa­men Betrof­fen­hei­ten in geschlos­se­nen Räu­men. Wer sich nur intro­ver­tiert genug wähnt, der ist schon Dich­ter, ja Poet und nimmt an der Selbst­ver­wer­tung in Zir­keln Gleich­ge­sinn­ter teil. Man publi­ziert sich selbst, liest sich selbst und bespricht sich selbst. Kaum jeman­den außer­halb der Her­me­tik die­ser Sze­ne inter­es­siert es.

Der Ver­such der „Zeit“, poli­ti­sche Lyrik wie­der­zu­be­le­ben, geriet größ­ten­teils zur Far­ce. Mit Brecht: Schlech­te Zei­ten für Lyrik. – Bis die ideel­le Sta­gna­ti­on auf­bricht. Mag jedoch sein, wir ste­hen kurz davor. Kri­se als Chan­ce! Expres­si­vi­tät statt Impressionen!

Durs Grün­bein, der tat­säch­lich Dich­ter ist, wirkt in sei­nem neus­ten Suhr­kamp-Band eben­falls rat­los. Er bemüht – mal wie­der – die Eule der Minerva:

Inte­ri­eur mit Eule I: Mond scheint ins Zim­mer. Nichts ist real./Jeder Augen­blick uner­gründ­lich, die Welt/Kolossales Echo im Laby­rinth der Sinne./In der Hand eine Mün­ze – mein Talisman/Siebzehn Gramm Sil­ber, rei­nes Symbol./Eule, erleuch­te mich, öff­ne die Augen/Tier auf der Tetradrach­me aus Atti­ka, hilf.

Was sind das für Zei­ten, in denen der knick­ri­ge Streit um den gro­ßen Suhr­kamp-Ver­lag schon wich­ti­ger ist als das, was er gera­de publi­ziert? Was bleibt einem als Schrei­ber? Tat­säch­lich nur die Sezes­si­on, die muti­ge Abkehr vom Gewöhn­li­chen, der Abstand zum Gän­gi­gen, also die Suche nach Aus­drucks­kraft und Sprach­po­tenz, mög­lichst aus dem Abseits her­aus, nicht aus der City, in der sich Möch­te­gern­mo­der­nis­ten an „urba­ner Lite­ra­tur“ ver­su­chen. Der geschmäh­te Richard Mil­let nennt dies die „frei­wil­li­ge Apart­heit“ sei­nes inne­ren Exils: „Absa­ge ist mei­ne Wei­ge­rung, das lite­ra­ri­sche, poli­ti­sche, ästhe­ti­sche Spiel mit­zu­spie­len.“ Lite­ra­tur und Kunst von Wert ent­stan­den nie anders. Sie setz­ten sich von der Selbst­ver­wal­tung des Betrie­bes ab.

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Kommentare (25)

Rumpelstilzchen

18. Januar 2013 10:00

Die Verflachung des Literaturbetriebes wird jeder tiefgängige Mensch wie einen stechenden Zahnschmerz wahrnehmen.
Während man früher noch zwischen Trivialliteratur und "gehobener" Literatur unterschied und unterscheiden konnte, gelingt das heute nicht mehr.
In den trvialen Buchhandelsketten wie Thalia oder Weltbild gibt es nicht mehr die Abteilungen Philosophie oder Theologie, dafür Esoterik und Lebenshilfe. Anselm Grün gibt den Theologen, der Glücksguru David Precht den Philosophen. Dazwischen "Wohlfühlartikel" wie Kettchen und Seifen.
Grauslig. Man muß da nicht reingehen.
Über Vampirromane und pornöse, feuchte Bücher sollte man nicht jammern. Diese heutigen trivialen Bücher sind Nachfolger von Konsalik, Simmel, Angelique und Co.. Und seien dem hart arbeiteten Volk zur Entspannung gegönnt.
Schlimmer finde ich, daß das Banale Anspruch auf was Höheres erhebt (kann das momentan nicht besser ausdrücken) und die Seelen fangen will.
Dagegen ist m.e. die beste Medizin der Griff zum Klassiker, der Austausch in anspruchsvollen Foren wie diesen, der Gang in kleine feine Buchhandlungen, die es noch gibt.
Also nicht jammern, Alternativen suchen und bilden.

Inselbauer

18. Januar 2013 10:18

Lieber Herr Bosselmann, ich meine, Sie sind in Ihrer Wertung auch hier einfach zu gutherzig. Wo und wann ist in den letzten Jahren ein wirklich guter Text erschienen, der es mit den alten Russen, mit Céline oder Bernhard aufnehmen kann? Tatsächlich findet eine radikale negative Auslese statt, die weniger mit ökonomischen Faktoren als mit dem Vormarsch ungebildeter, routinierter Funktionäre zu tun hat. Ein verbiesterter Versager wie Jo Lendle gilt da ja schon als wild und genialisch. Lektorinnen und Verlagschefinnen schließen die Müslifront mittlerweile so fest, dass eigene externe Lektoren aus Manuskripten Witze herausfiltern und sie dem korrekten Empfinden anpassen müssen.
Ich lebe mit der Formel, dass es keine deutsche Literatur mehr gibt. Juli Zeh, Teresa Präauer, Christoph Peters --- was soll das? Wer soll so etwas lesen außer ältlicher LehrerInnen, ohne dass er dafür bezahlt wird?!

Heino Bosselmann

18. Januar 2013 17:26

Lieber "Inselbauer", ich versuche nur, zwar polemisch, aber nicht allzu pauschal zu verfahren. Sicher wird noch gute, sehr deutsche Literatur geschrieben, obwohl ich selbst nicht sagen kann: Seht, das hier ist grandios! Am meisten interessiert mich, ob es zwischen der relativen politischen Sprachlosigkeit bzw. einer empfundenen ideellen Stagnation und der relativ ausdrucksarmen Literatur – mindestens in bezug darauf, daß sie politisch kaum eingreift – eine Korrelation gibt. Und: Sollte Literatur politisch eingreifen – provozierend, anregend, erfrischend? Oder liegt ein Gewinn darin, daß sie sich auf eine moderene Biedermeierlichkeit in den Sujets und Ausdrücken beschränkt? Zwanzig Jahre als vielleicht nicht immer geschickter, aber bewegter Deutschlehrer, der Abiturienten mit den besten Stücken Literatur kam, die es seines Erachtens gibt, ließen mich zudem skeptisch gegenüber der jüngeren Leserschaft werden. Den jungen Erwachsenen bspw. das aussagekräftige Feuilleton der deutschen Qualitätspresse anzubieten – sehr schwierig, weil es im Inhalt, in der Pointe, in den Bezügen kaum ohne Hilfe verstanden wurde …

J. Schlüer

18. Januar 2013 19:19

Zum Glück wurde nicht pauschalisiert und dennoch wider den Stachel geleckt. Die Probleme sind groß, ein Volk wird mehr und mehr umspült von einem feinen Gesinnungsstrom. Und das nicht von außen, sondern von den Elfenbeintürmen einiger Politiker, Meinungsmacher und eben auch des Literaturbetriebs aus. Also dort, wo sich eigentlich eine Pluralität von Fähigen, Ausgewiesenen und Kenner zeigen sollte. Dort gurrt es scheinbar am meisten. Und. Eben weil die Konformisten in den Elfenbeintürmen sitzen, kommt auch keiner rauf, der nicht konform ist.

Wenn das so ist, wer ist zuständig für eine Veränderung? Sie kann klarerweise nicht von den gurrenden Turmbewohnern ausgehen. Die Veränderung kann nur von denjenigen Wachen ausgehen, die dieses Spiel nicht mitspielen wollen. Sie müssen Eigeninitiative zeigen. Das bedarf keines Sendungseifers im Sinne eines Kreuzzugs für das Wahre, Schöne, Gute. Man markiert einfach ein Grenzgebiet, man hisst die Flagge, schmeißt den Speer in die Erde und sagt, "hier stehe ich! Wer kommen mag, komme!".

Inselbauer

18. Januar 2013 20:04

Es ist ganz im Sinne der deutschen Literatur, dass sie tot ist, dass es keine "literarische Kultur" und nur ganz blamable literarische Debatten hierzulande gibt. Wenn die deutsche Literatur gut war, ist sie doch immer aus der Nichtliteratur, aus der Unbildung, der Realität und der Improvisation erwachsen. Thomas Mann hat einfach die Alltagskultur abgekupfert, Benn hat die Sektionen genommen, weil er sonst nichts hatte und Bernhard musste sich noch Ende der 50er Jahre vom späteren Kulturminister Moritz die Rechtschreibfehler korrigieren lassen. Es ist einfach peinlich, wenn die deutsche Literatur kultiviert sein will, noch schlimmer, wenn sie zivilisiert sein will (wie im Moment). Der Knittelvers wird auferstehn/ und durch den blutgen Sommer gehn/ er kann nicht singen, kann nicht denken/ Maul auf, sagt er, Reim verschränken// Nürnberger Fasnacht 1683

Johann t’Serclaes Graf von Tilly

19. Januar 2013 00:20

Schöngeistige Literatur wird mehr und mehr in der Bedeutungslosigkeit versinken, weil das Medium Buch als solches, mit all seinen Einschränkungen und Normen, obsolet ist. Die Zeit, dass politische Anstöße aus dem Literaturbetrieb kommen, ist einfach vorbei. Oder erwartet noch jemand politische Impulse aus mündlich tradierten Überlieferungen a la Hartmann von der Aue?
Dennoch, Kunst als avantgardistisches Produkt, das der Autor mit dem Rücken zum Publikum, also in Ablehnung des Mainstreams, fabriziert, ist eine allzu moderne Auffassung. Ich halte es dann eher mit der Wortherkunft: Kunst kommt von Können.
Aber wann werden die selbst ernannten Intellektuellen verstehen, dass im Jahre 2013 die Verbundenheit zum Vaterland sich mehr in der Ausbildung eines deutschen Hacker-Kodex manifestiert, als in der x-ten Lektüre des Grimmelshausen? Man schreibt keine Bücher mehr, sondern Programme, welche dann auch die entsprechende (politische) Sprengkraft entfalten. Es sind kurze Nachrichten, wie Tweets, Facebook- oder Blogeinträge, also kurze pointierte Texte, welche in der Aufmerksamkeitsökonomie überhaupt zum Rezipienten durchdringen. Es scheint fast, als wolle man mit Pfeil und Bogen gegen Maschinengewehre kämpfen. Was haben die, ihrer Meinung nach, besten Stücke des Literaturbetriebes noch für einen Sinn? Sie sind schlichtweg nicht mehr konstitutiv für das Deutsch-sein und bieten keine Orientierungsfunktion im Leben. Der subjektive Sinn vieler Klassiker ist einfach verloren gegangen, vor lauter Amerikaniserung und Globalisierung.

S. Pella

19. Januar 2013 08:27

Zwanzig Jahre als vielleicht nicht immer geschickter, aber bewegter Deutschlehrer, der Abiturienten mit den besten Stücken Literatur kam, die es seines Erachtens gibt.

Mit Spannung erwartet die Leserschaft nunmehr einen von Ihnen zusammengestellten "Kanon" empfehlenswerter Klassiker!

Kim Lauren

19. Januar 2013 12:27

Lieber Herr Bosselmann,

gewiss habe Sie mit allem recht was Sie schreiben. Nur: Sind wir uns sicher, dass die Situation nicht nur gefühlt schlimmer geworden ist? Wer erinnert sich noch an "Rinaldo Rinaldini"? Sicher nicht einmal die älteren unter uns. Es handelt sich dabei um einen Roman des goetheschen Schwagers Vulpius - eine vermutlich unsägliche Räuberpistole. Nun - Vulpius war ein viel gelesener und geschätzter Autor seiner Zeit, den damals viele und gewiss sehr viel mehr Menschen kannten als Goethe. Heute freilich sieht die Situation anders aus. Folgt man Frau Dr. h.c Löffler sind von den 100 000 Neuerscheinungen in deutscher Sprache allenfalls 5% etwas für Literaturkritiker, der Rest sind Fach- und Sachbücher und Unterhaltung etc. Gehen wir vorsichtiger ran, so mögen jedes Jahr vielleicht 200 Bücher erscheinen, die sich dem Literaturkenner empfehlen. Gehen wir davon aus, dass vielleicht davon zehn Prozent von annehmbarer Qualität sind, gäb es jedes Jahr 20 neue, lesenswerte Bücher.
Manche Jammerei unter den Kommentaren à la, "Wer kommt noch an die alten Russen heran ..." scheint mir eine utopische Rückwertsgewandtheit zu dokumentieren, die eine ernstzunehmende ästhetische Diskussion über unsere gegenwärtigen Probleme nicht eben fördert. Weder sind wir Russen, noch sind wir alt. Viel mehr sind wir gegenwärtig. Zum einen braucht es tatsächlich einen Wandel hin zu einer konservativen Avantgarde, allein: "Neue Rechte" ist kein Synonym für "Konservativ", auch wenn von hier gerne auf die "blos Wertekonservativen" herabgeschaut wird. Zum anderen stellt sich für den literarisch Begabten die Frage: Wie kommen die Brötchen in meine Küche? Gottfried Benn beispielsweise hat zeitlebens umgerechnet monatlich etwa 5 Mark an seinem literarischen Werk verdient. Es ist aber nicht jedermanns Sache neben der durchaus ehrbaren, zeitaufwändigen und beanspruchenden Arbeit als Schriftsteller Haut- und Geschlechtskrankheiten zu kurrieren. Ein Handwerk sollte seinen Mann ernähren. Ich glaube es sind zwei Antworten, die dringend zu beantworten sind: Wie entfesselt man eine hinreichend starke, ästhetische Strömung, die unserer Zeit Sinn und Form zu geben in der Lage ist? Wie kann sich die ökonomische Basis für deren Exponenten gestalten?

Kim Lauren

19. Januar 2013 12:40

weil das Medium Buch als solches, mit all seinen Einschränkungen und Normen, obsolet ist.

Wie man vermutlich an ... äh ... an Sarrazin gut zeigen kann.

Sie sind schlichtweg nicht mehr konstitutiv für das Deutsch-sein und bieten keine Orientierungsfunktion im Leben.

so wie Tellkamp oder Müller.

Vielleicht sollten die "selbsternannten" Intellektuellen von den bekennden Nichtlesern in ihren Diskussionen einfach sich selbst überlassen werden. Schließlich erwartete im 18. und 19. Jahrhundert auch niemand vom Bauersmann, dass er Anteil am Tell, Faust oder Hyperion nehme ...

Gottfried

19. Januar 2013 13:10

@ Graf von Tilly

"Man schreibt keine Bücher mehr, sondern Programme, welche dann auch die entsprechende (politische) Sprengkraft entfalten."

Sich also - gerüstet mit einer ordentlichen Portion Medienkompetenz - in eine der German Defense Leagues oder Identity Movements einreihen, um dort kräftig mitzuraven?

Rumpelstilzchen

19. Januar 2013 13:54

@Bosselmann. "Die Lyrik zog sich zurück"
@Inselbauer "es gibt keine deutsche Literatur mehr, außer für ältliche Lehrerinnen"
@Bosselmann "seht, das ist grandios" kann man nicht sagen.
@J. Schlüer, Frage: heißt es nicht, wider den Stachel gelöckt ? Und was heißt das? kein Sendungseifer, sondern, "hier stehe ich!"
@Inselbauer:"Es ist im Sinne der deutschen Literatur, dass sie tot ist"
@Graf von Tilly "die Zeit, dass politische Anstöße aus der Literatur kommen, ist vorbei

Ich versuche die Synthese:
Es gibt Lyrik, die deutsch ist, die grandios ist, ohne Sendungseifer, die nicht tot ist, einen politischen Anstoß gibt:

DER ZWEIFEL

Der Glaube ist zum Ruhen gut,
Doch bringt er nicht von der Stelle,
Der Zweifel in ehrlicher Männerfaust,
Der sprengt die Pforten der Hölle.

(mal wieder Theodor Storm 1864).

Quizfrage: was meint "wider den Stachel löcken?"

Ein Fremder aus Elea

19. Januar 2013 14:14

Einen allgemeinen Trend gegen den Roman kann ich nicht erkennen. Für mich steht "Das Handbuch der Inquisitoren" von Antonio Lobo Antunes auf einer Stufe mit Dostojewskis "Idiot".

Und das ist auch ein sehr politisches Werk. Und einfach großartig, eine Freude zu lesen.

Ich würde auch sagen, daß der Deutsche für gewöhnlich zu spröde ist, um gute Literatur zu schaffen, aber Spanien und Portugal, beispielsweise, einschließlich Lateinamerikas, da wird auch heute noch viel und gut geschrieben.

Unsere Ausdrucksform ist eher die Musik. Und... nun ja, es ist wohl größtenteils institutionalisierter Selbsthaß, welcher sie niederhält. Subjektiv ist es so, daß man nur Kunst schaffen kann, wenn man etwas ausdrücken will, das ist trivial. Und es ist wohl auch so, daß unterschiedliche Zeiten zu unterschiedlichen Ausdruckswünschen führen, aber nur quantitativ, irgendjemand wird zu jeder Zeit noch irgendetwas vorgegebenes auszudrücken wünschen, es kommt also auf den Selektionsmechanismus an.

Geht eigentlich nur zweierlei, einmal die Popularität und zum anderen die Überzeugung, sich mit etwas zu schmücken, oder auch seine eigenen Bemühungen durch Beimengung zu veredeln, wie bei der Kirchenmusik: entweder der Künstler verkauft direkt an's Volk oder über den Umweg von jemandem, welcher seine Kunst gebraucht.

Tja... wer gebraucht die heutige Kunst zu was... ist halt Pech, keine hohen Absichten. Besser direkt an's Volk verkaufen.

Ein Fremder aus Elea

19. Januar 2013 14:25

P.S. Deutsche Autoren, so weit es mich betrifft:

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832, Frankfurt-Weimar)
Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (1776-1822, Königsberg-Berlin)
Ernst Jünger (1895-1998, Heidelberg-Riedlingen)

Asenkrieger

19. Januar 2013 15:13

Es gibt erstklassige Romane mit politischem Inhalt. Zwei Beispiele aus Europa: "Mister" von Alex Kurtagic und "Sea Changes" von Derek Turner (Autor der JF). Ich könnte hier eine längere Liste US-amerikanischer Autoren anfügen, die ebenfalls darüber schreiben, was wirklich wichtig ist und zugleich literarisch gut sind.

Waldgänger

19. Januar 2013 17:35

Die geistige Auseinandersetzung findet heute - wenn überhaupt - dann woanders statt - v.a. im Internet.

Das hat auch damit zu tun, dass der Lebensrhythmus allgemein schneller geworden ist. Längst nicht jeder noch hat die Zeit, einen ganzen Roman zu lesen.

Und jene, die Gedanken haben und früher Bücher geschrieben hätten - die schreiben oft nicht mehr, weil sie
a. im Internet schreiben oder
b. nicht die Hoffnung haben, mit Büchern viele Leute zu erreichen oder c. eben deshalb auch keinen Verlag finden.

Es hat außerdem damit zu tun, dass die Hoffnung schwach geworden ist, dass Gedanken und Geist in der heutigen Welt überhaupt noch etwas bewegen können.
Traurig, aber wahr.

Hinzu kommt, dass Bücher eben in einem früher nicht gekannten Ausmaß nur noch Ware sind. Man erwartet ja gar nicht mehr, in einem Buch echte Gedanken zu finden ...
Ein Gang durch die Warenwelt von Dussmann ermüdet so rasch,
ein Gang durch Thalia ödet nur noch an.

Umso mehr zehrt man dann von alten Perlen, etwa Werken von Ernst Jünger.

Für Empfehlungen wäre ich dankbar!

Heino Bosselmann

19. Januar 2013 17:43

Ich stimme Ihnen zu. Und alles, was ich jetzt an Beispielen anführte, bliebe pauschal – auch der mich lockende Versuch nachzuweisen, daß die (gehobene) Trivialliteratur, die ihren Platz hat und die ich schätze, einst ausdrucksvoller war. Andererseits entdecke ich in diesem Bereich, etwa im Krimi, anderswo sehr interessante neue Formen des Literarischen: David Peace als ein Beispiel. Ansonsten frage ich mich vor allem, ob mein Eindruck, es fehle an eindrucksvoller Literatur, die an der Zeit und in der Zeit wirkt, richtig ist. Gäbe es sie, löste sie m. E. produktive Skandale aus. Ich sehe aber nur Skandälchen. Obwohl sich doch mehr aussprechen müßte. Ihr Verweis auf Benn: Immer wieder geht mir der Expressionismus durch den Kopf. Ich könnte, meine ich, allerlei aufrufen, worin sich die Zeiten glichen – nur fehlt jetzt die Expressivität des Ausdrucks, obwohl gerade von Weltendestimmung – unvertrauert und mit Hoffnung – doch die Rede sein könnte. Mindestens von einer Stagnation und dem Sauerstoffmangel in den geschlossenen Räumen der als Ganztagsschule angelegten Gesellschaft.

Rumpelstilzchen

19. Januar 2013 19:37

Für alle, die alte Perlen suchen und wenig Zeit haben, und einen Überblick
über Literatur, Geistesgeschichte, Philosophie in konservativer Betrachtung suchen ist meines Erachtens geeignet:

Gerd-Klaus Kalterbrunner
"Europa seine geistigen Quellen in Porträts aus zwei Jahrtausenden" in drei Bänden, darin u.a. Ernst Jünger, Wittgenstein,Arnold Gehlen, Goethe u.v.a.
Weiß nicht, ob es die drei Bände noch gibt. Daraus kann sich jeder seine eigene Bibliothek zusammenstellen.

Ein Fremder aus Elea

19. Januar 2013 20:27

Bosselmann vom Samstag, 19. Januar 2013, 17:43.

Ich halte das für einen problematischen Stoff, es stellte sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit. Sie brauchen ja einen Autor, der die Innenansicht genau kennt, und dann davon schreibt, wie schlimm das alles ist.

Auch gab es schon die Matrix Filme... die Wachowskis haben ja auch einen marxistischen Hintergrund elterlicherseits...

Hmm, wenn überhaupt müßte man es distanziert angehen, eben wie Antonio Lobo Antunes im genannten Buch, welches sich indes mit dem Übergang der Salazar Zeit in die Moderne beschäftigt, also einen Querschnitt durch die Gesellschaft machen, keine Partei ergreifen, prägnant zeigen, welche Fäden sich gegenwärtig fortspinnen, und zwar mit dem Anspruch auf Vollständigkeit. Das könnte jedenfalls gelingen, kein totgeborenes Konzept.

Aber das dürfte nicht ganz leicht werden. Antunes war praktizierender Psychiater bevor er zu schreiben anfing, aus der Ecke muß man wohl auch kommen, wenn man sich an einen solchen Querschnitt wagt.

Es muß schon so gemacht werden, nicht beweisen, wie toll die Alternative ist, sondern wie trostlos die Situation, in welcher man sich befindet, wie Dostojewski in "Verbrechen und Strafe" oder auch Tišma in seinen Romanen.

Nur wenn es nicht das Einzelschicksal ist, für welches man sich interessiert, sondern die gesamte Gesellschaft, dann muß man einen Grad von Vollständigkeit erreichen, welcher den Leser glauben läßt, daß es wirklich überall in der Gesellschaft trostlos ist. Und das ist nicht ganz leicht.

Aber sicher, wenn man dort zur Sache ginge, wäre das Resultat skandalös.

Nur was für ein Skandal wäre das?

Ich fürchte fast, der Skandal bestünde einzig darin, daß man so unhöflich war auszusprechen, was eh jeder weiß und womit sich eh jeder abgefunden hat, was aber niemand auch noch auf der Straße hören möchte.

Indes, eine Liste von Aspekten, welche enthalten sein müßten.

1. Der Promi-Zirkus für die Promis, Merkel trifft Messner, Messner trifft Merkel.

2. Der gegenseitige Würdebeweis der niederen Beamten, Klavierkonzerte von Lehrern für Lehrer. (Ja, ähnlich zu 1.)

3. Parallelwelt der Wissenschaft, Panzerglas um die Außenwelt auszusperren, Potentierung der persönlichen Abhängigkeiten durch kleineren Personenkreis.

4. Menschen welche bei allen Freiheiten, welche sie genießen, doch nicht glücklich sein können, weil sie anders konditioniert wurden.

5. Industrielle Nachführung von Ahnungslosen (aus dem Ausland) in dieses Arbeitsumfeld. Da bietet sich eine parallele, zeitversetzte Geschichte zu dem vorigen Punkt an, dort der Mensch, welcher seine Lektion gelernt hat, aber nicht mehr die Kraft besitzt, sie umzusetzen, hier der Ahnungslose.

6. Das Schweigen in allen Fragen welche gefährlich werden könnten. Das zunehmende Klima der Angst, in einer Welt voller Ungewißheiten, angefangen beim Geld und dem Recht, Kriege zu führen.

7. Der Qualitätsverfall der Glücklichen: einerseits der nützliche Idiot, andererseits der von Minderwertigkeitskomplexen zerfressene Gehässige. Das ließe sich breit und lebensnah auswalzen, beispielsweise durch eine Nachfolge im Betrieb oder Amt.

8. Die schleichende Akzeptanz von Gang-Strukturen.

9. Die Orientierungslosigkeit gegenüber Gehalts- und Preisgefällen. Wahnvorstellungen über selbstverständliche Standards, welche keineswegs selbstverständlich sind. Wieder die unterschwellige Angst und ihr Weglachen.

10. Zunehmendes Bedürfnis nach blindem Gehorsam in Anbetracht der Angst, aber uneingestanden, dennoch sich bereits in gänzlich unangemessenem sozialem Verhalten äußernd, zum Beispiel im Umgang mit Abhängigen.

Naja, ich höre hier auf. Man braucht natürlich auch Gegengewichte, das ganze muß insgesamt nüchtern erscheinen und nicht einseitig.

Wahrscheinlich aber in Anbetracht des gerade Aufgezählten ein gänzlich sinnloses Unterfangen, so einen Roman zu schreiben. Ist schon zu spät.

Rumpelstilzchen

20. Januar 2013 09:17

Versuch einer zweiten Synthese

1. es bedarf eher "ehrlicher Männerfäuste"(Sarrazin) oder Frauenwut und Frauenstolz (Oriana Fallaci) ,damit "produktive Skandale"(Bosselmann) ausgelöst werden und politische Anstöße gegeben werden.
Lyrik und gehobene Literatur tun das gegenwärtig nicht.

2. Die Trivialisierung der Literatur ist der Gegenwart geschuldet und nicht zu bejammern, da es jährlich immerhin ca.20 gute Bücher gibt.

3. Niemand erwartet ..."vom Bauersmann, dass er Anteil an Tell, Faust...nehme " (Kim Lauren)
Rumpelstilzchen: warum jammern wir dann? Vielleicht gibt es zu viele Bauern? Oder: die Bauern erwarten, dass der Adel Anteil an deren geistigen Ergüssen nimmt ? Andererseits, russische Bauern liebten oft ihre Russen.

4. Die "Neue Rechte ist kein Synonym für konservativ"(Kim Lauren), eine sehr wichtige Aussage in diesem Forum, die weiterer Betrachtung bedarf!!

5. "wie entfesselt man eine hinreichend starke, ästhetische Strömung, die unserer Zeit Sinn und Form zu geben in der Lage ist"(K.L.)
Nein, nicht durch Karl Lagerfeld, aber Mode, Malerei, Theater usw.sind neben Literatur Ausdrucksformen, die Sinn und Form verleihen können.
Kreative vor!!!!
5.

Waldgänger

20. Januar 2013 09:43

@ Rumpelstilzchen

Danke für die Empfehlung. An den Namen Kaltenbrunner erinnere ich mich noch. Von Jünger kenne ich vieles.

Gruß

Hesperiolus

20. Januar 2013 10:28

Was soll einer - aus vivisektorischer Neugierde? - die literarischen Widerspiegelungen unsäglicher Gegenwart lesen. Alle Verfallsdiagnosen sind gestellt, tausendfältig ausgeschrieben. Finis. Lieber die Klassiker ein weiteres und weiteres Mal. Entheutigung (Entgiftung) mit Goethe und Stifter. Und bevor man zu irgendeinem Zeitgenossen greife, nachdem "alles" gelesen ist, eher noch Mignes Patrologie oder Westermanns Monatshefte rauf und runter! Mit Gegenwartschriftstellerei begeht der Leser peccatum mortale an unwiederbringlicher Lebenszeit. Statt Kehlmann oder Lewitscharoff dann doch wohl gleich Blumenberg und Humboldt. Hätte Herr Bosselmann seinen Beitrag fünf Dekaden früher geschrieben. Wer hat denn Musil, Joyce, Jahn und Proust ausgelesen, was soll einer da zu Juli Zeh und Kohorten greifen? Und egal aus welcher Schublade, das Heute lässt sich berülpsen und bekotzen, aber nicht aussagen und beschreiben. In diesem Sinne, Literaturnobelpreis für die kreuz.net Autoren.

Sara Tempel

20. Januar 2013 13:32

Lieber Herr Bosselmann,
wir geben Ihnen absolut recht, d.h. mein Mann, der viel mehr ältere Literatur liest, als moderne und ich schließe mich an:
"Gute Literatur wird umso rarer, je mehr der Markt mit Büchern überschwemmt wird!
Unsere jüngeren Favouriten sind z.B.: Christian Kracht, Adolf Muschg, Gertrud von le Fort, Rouel Schrott, Robert Schneider, Christoph Ransmayr, Cees Nooteboom (niederländisch), Stephan Grundy usw.!
Im Gegensatz zu Heinrich, war ich immer mehr an "Trivialliteratur" interessiert, an einer spannenden Handlung und einem/r Helden/Heldin mit dem/der ich mich identifizieren konnte.
Die Klassiker von Karl May, James Fenimore Cooper, Jack London, Mark Twain, Edgar Allan Poe, Marie von Ebner-Eschenbach haben mich als Jugendliche bis tief in der Nacht wach gehalten. Meine Muse, mein literarisch interessierter Mann, hat mich z.B. auf Arno Schmidt aufmerksam gemacht. Dennoch las ich zur Entspannung lieber Tolkiens „Der Herr der Ringe“, Mitchells "Vom Winde verweht" und ähnliche Geschichten von internationalen AutorInnen, zuletzt z.B. Tanja Kinkel. Besonders liebte ich historische Romane, die meine Phantasie anregten.
Dann wurde "Die Nebel von Avalon" von Marion Zimmer Bradley zum Bestseller „gehyped“ und die angloamerikanische Belletristik auf diesem Level überschwemmte Europa. Obwohl ich den Reiz dieser phantastischen Geschichte nachvollziehen konnte, enttäuschten mich die flachen Charaktere, beinahe mit Comicfiguren vergleichbar.
Im letzten Jahr noch enttäuschten mich die Krimis der hochgelobten und gar mit dem Edgar-Allan-Poe-Preis ausgezeichneten Tana French, deren Stil zwar recht originell, deren Stories aber langweilig waren, mit enttäuschenden Lösungen der Fälle. Da lobe ich mir noch Jörg Fauser!

Vor ein paar Jahren fand ich die Zeit, selbst einen Roman zu schreiben. Der sollte so werden, wie ich mir immer einen zu Lesen gewünscht und selten gefunden hatte:
- eine exotische Umgebung für die spannende Geschichte vor einer historischen Kulisse;
- unmoderner Stil als Hinweis auf die Zeit (zeitliche Distanz);
- viele Dialoge, um sich in Szenen hinein zu versetzen;
- einfach verständliche Handlung;
- logisch plausible Handlung, ohne Handlungsstränge, die ins Leere laufen;
- stimmige Charaktere, keine Dummheiten der Heldin, nur um Spannung zu erzeugen;
Aus Ungeduld habe ich zuletzt auf seine Endkorrektur verzichtet, man möge es mir nachsehen, denn das Werk erschien eigenverantwortlich im Print-on-Demand-Verfahren! Von den Verlagen, denen ich mein Skript "Die Kinder der Kalliste" zuvor einreichte, haben einige dieses im Lektorat diskutiert (so S. Fischer, dtv; Rowohlt, HANSER, Knecht usw.; nicht dagegen Random House), und ihre Ablehnung mit geringer Kapazität für historische Romane begründet.
Als unprätentiöse literarische Debütantin, ohne geniales Sprachtalent, eher naiv aus der Sicht eines 11-jährigen Mädchens erzählt, werde ich sicher nicht in den erlauchten Kreis der begnadeten Dichter aufgenommen. Bei vorerst geringer Verbreitung und einem "Frauenthema", haben sich allerdings neben Frauen, bereits einige Männer für den Roman interessiert.
Eine Leseprobe finden Sie unter: Sara Tempel >Autorin< und "Romanauszug"!
Wenn Sie nun fragen, warum ich meine Geschichte nicht in unserer Zeit ansiedle, dann kann ich nur subjektiv antworten: Ich wollte z.B. nie vordergründig eine politische Botschaft vermitteln, wenn eine solche mitschwingt, dann floss sie von alleine ein, wie Frauenwut und Frauenstolz bezogen auf die Fremden (hier Achaier, keine Islamisten).

Asenkrieger

20. Januar 2013 13:34

Hier noch ein paar deutsche Romane mit politischem Inhalt:

- Edgar von Glinka: Geisteskrank
- Viktor Streck: Heimat ist nur ein Paradies Band 1 und 2
- Karl-Heinz Hoffmann: Verrat und Treue
- Alexander Merow: Beutewelt Band 1- 4 bisher erschienen

Löffelstiel

21. Januar 2013 16:25

Politische bzw. politisierte Literatur vermisse ich nicht. In der Zeit der Politisierung im Zuge der 68er war es das einzige Merkmal, das für gute Literatur galt. Im Nachhinein stellt sich heraus, daß sie nicht zeitlos war, sondern von den politischen Linken nach oben gespült worden war. Es liegt in der Natur des Politischen, daß sie um jeden Preis die Oberhoheit haben möchte. Und ist es bei dieser Literatur nicht so, wie Goethe sagt: 'Man merkt die Absicht und ist verstimmt'? (Ausgenommen der Essayistik).

Nur einzelne Große haben es verstanden, Zeitgeschichte/Politik als Gleichnis darzustellen. Wie wurden doch die politischen Autoren auf den Sockel gehoben: Böll, Grass, Christa Wolf...

Herr Bosselmann, Sie nennen Thomas Bernhardt, Arno Schmidt und bin verblüfft! Es fehlt nur noch, daß Heiner Müller und Elfriede Jellinek vorgeführt werden. Gibt es ein einziges Stück von Thomas Bernhardt, das nicht tendenziös gegen Nazis, gegen Österreich, gegen das Spießige, gegen das Bürgertum zu Felde gezogen wäre, gegen, gegen Zugegeben er hatte als Erscheinung Charisma. Aber Arno Schmidt - den hat man doch irgendwann hinter sich gelassen. Dieses schulmeisterhafte Herumgestochere, Durchlöchern von Wörtern und Sätzen bis nur noch ein großes Loch übrigbleibt (Essays ausgenommen)...

Nur wenige Meister der 'Weltliteratur' haben es gekonnt, Mensch, Gesellschaft, Zeitgeschichte als Gesamtkunstwerk zu gestalten. Fontanes 'Effi Briest' hat mir über den tragischen Konflikt zwischen Pflicht und Neigung, Gewissenskonflikt und Güte, Schuld und Sühne zu einem Verständnis von Liebe und Verzeihen, aber auch von Ehre, Preußen, Staatsraison, verholfen.

Ich gehe immer wieder auf Entdeckungsreise in meiner eigenen Bibliothek und begegne dabei gerne guten alten Freunden. Ab und an, aber nicht zwangsläufig eröffnen sich neue Bekanntschaften durch die Empfehlung Gleichgesinnter wie letzthin geschehen mit Martin Mosbach; er wird dann zu einem freundlichen Begleiter. Auch deshalb finde ich diese Seite schön, weil sie Empfehlungen gibt. (Früher hatte Kubitschek ja mal jeden Monat ein Gedicht vorgestellt. Das fand ich schön. Vielleicht kann man das ja hier für Lektüretips, die über das Konservative hinausgehen, reanimieren.

Noch etwas zum Beruf und zur Berufung als Autor. Viele große Autoren waren keine reinen Schriftsteller. Das ist eine relativ junges Phänomen. Beispiele gefällig? Goethes Berufe schier unübersehbar u. a. Bergbau-, Straßen-, Theaterdirektor. Schiller Historiker. Kafka Jurist/Angestellter, Tschechow Arzt, Fontane Apotheker, Kriegsberichterstatter, Hamsun, H.H. Jahnn, Tolstoi Bauern, Joseph Conrad Kapitän, Rilke Sekretär, Keller Staatsschreiber, Herder u. a. Küster, Glöckner, Mädchenschullehrer, Kantor, Prediger..., Hölderlin, Lenz, Wieland Hofmeister/Prinzenerzieher, Hans Sachs Schumacher, Meistersinger, Lessing Bibliothekar, Hermann Broch Industrieller, Novalis Salinienassesor, E.T.A. Hoffmann Musiker, Seneca Staatsmann... Und zwar nicht erst Beruf und dann Berufung, sondern beides gleichzeitig, ja wechselseitig befruchtend.

Heino Bosselmann

22. Januar 2013 08:55

Tatsächlich, politische Literatur darf nicht zur Propagandaform degenerieren. Kunst ist nicht Waffe. Zu einzelnen Namen, wenngleich allzu kurz: Bernhard: Leider, meine ich, gibt es den Spießer widerlichen Naturells und Charakters in Ost- und Westvarianz. Ich bin aber vor allem Freund der Bernhardschen Prosa, die ich in ihrer Gesamtheit las, und halte sie für literarische Hochkultur. Arno Schmidt erscheint mir als der interessanteste Solitär der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur, zudem als literaturgeschichtlich überbildeter Essayist, vor allem was angloamerikanische Literatur und die deutsche des 18. und 19. Jahrhundert betrifft. Er hatte dort literarischen Witz, wo es schon gar keinen anderen mehr gab! Die von ihm eingenommenen Standpunkte erschienen mir nachvollziehbar. Vor allem aber bewegte er die konventionelle Prosa eruptiv! Heiner Müller öffnete mir, der ich in eine marxistische deutsch-polnische Familie hineingeboren wurde, als erstes die schwarzblutige Seite der Revolution, als noch jeder Geschichtsunterricht, ja die gesamte DDR-Universität sich über die Vergangenheit der Sowjetunion und des Systems belog. Seitdem wußte ich um die Leichen im Keller und daß der Ausgang dieses Menschheitsdramas mehr als nur in Frage steht. Und was schließlich Elfriede Jelinek so erlebt und aufgeschrieben hat – es erscheint mir glaubwürdig. Allgemein: Will die intellektuelle Rechte im Feuilleton etwas Gegengewichtiges bestellen – sie bestellt m. E. gegenwärtig eher wenig darin – , sollte sie solche und andere Autoren befreit von eigener und nachvollziehbarer Voreingenommenheit neu lesen. Nicht alles, was man weder "gut" noch "schön" findet, ist literarisch und politisch irrelevant.

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