Immer wieder Polen

pdf der Druckfassung aus Sezession 19/August 2007

sez_nr_199von Karlheinz Weißmann

Die Auseinandersetzung mit Polen um die Reform des europäischen Grundlagenvertrags hat dem Beobachter nicht nur neue Einblicke in das Kollektivseelenleben unseres östlichen Nachbarn erlaubt, sondern auch gezeigt, daß manche Argumentationsmuster allmählich an Überzeugungskraft verlieren, die in Deutschland seit langem üblich waren, um Verständnis für absurde Forderungen oder unbegründete Empfindlichkeiten Polens zu verlangen.

Selbst Mar­tin Schulz, Vor­sit­zen­der der sozia­lis­ti­schen Frak­ti­on im Euro­päi­schen Par­la­ment, kam zu der Fest­stel­lung, es habe „kein Land (…) sich mehr für Polen enga­giert als Deutsch­land”. Sei­ne EU-Mit­glied­schaft ver­dan­ke es vor allem der Initia­ti­ve Hel­mut Kohls und Ger­hard Schrö­ders. In der Finan­cial Times wur­de dar­auf hin­ge­wie­sen, daß es deut­sche Regie­run­gen waren, die dafür ein­tra­ten, Polen in den nächs­ten sie­ben Jah­ren sech­zig Mil­li­ar­den Euro net­to aus der Gemein­schafts­kas­se zuzu­wei­sen, weit mehr als jedem ande­ren Land der Uni­on. Und schließ­lich sei noch Bert­hold Koh­ler zitiert, einer der Her­aus­ge­ber der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung, der in einem Leit­ar­ti­kel sein Befrem­den dar­über zum Aus­druck brach­te, daß aus­ge­rech­net die „pro­pol­ni­sche Poli­tik deut­scher Regie­run­gen seit Brandt nicht ver­hin­dern” konn­te, „daß die Kac­zynskis und ihre Anhän­ger Deutsch­land immer noch mit den Begrif­fen der Nazi­zeit zu erfas­sen versuchen”.

Ob die­ses Befrem­den echt oder nur behaup­tet war, kann dahin­ge­stellt blei­ben. Denn Koh­ler ist sicher bewußt, daß der Infa­mie der Kac­zynskis ein Kal­kül zugrun­de liegt, das der pol­ni­sche Staats­prä­si­dent auf die eben­so knap­pe wie bru­ta­le For­mel brach­te, Deutsch­land habe in den ver­gan­ge­nen vier­zig Jah­ren auf den Knien gele­gen und das sei sehr nütz­lich gewe­sen, wes­halb man dar­an nichts ändern soll­te. Das Auf­den-Knien-Lie­gen von irgend jeman­dem scheint eine Art pol­ni­sche Obses­si­on zu sein. Dar­auf läßt die Häu­fig­keit der ent­spre­chen­den Meta­pher in Poli­ti­ker­äu­ße­run­gen schlie­ßen, aber auch die Men­ge von Zeit­schrif­ten­ti­teln, die im Zusam­men­hang mit den deutsch-pol­ni­schen Kon­flik­ten der letz­ten Jah­re deut­sche Poli­ti­ker auf den Knien bezie­hungs­wei­se auf allen Vie­ren abbil­de­ten. Viel­leicht ist das eine Tra­ves­tie von Brandts berühm­tem Knie­fall vor dem Denk­mal für die Toten des War­schau­er Auf­stan­des (kein spon­ta­ner, son­dern ein sorg­fäl­tig insze­nier­ter Akt, wie wir heu­te wis­sen), aber es steht wohl eher etwas Grund­sätz­li­ches dahin­ter, eine Sym­bo­lik, die in einem katho­lisch gepräg­ten Land wie Polen nahe­liegt: das Knien bringt Demut und Buß­be­reit­schaft zum Ausdruck.
Weder das eine noch das ande­re hat unmit­tel­bar mit Poli­tik zu tun, aber die Ent­wick­lung der deutsch-pol­ni­schen Bezie­hun­gen war seit den sech­zi­ger Jah­ren sehr viel weni­ger von Staats­rä­son als von poli­ti­scher Theo­lo­gie bestimmt, der zufol­ge das Gesche­hen im Zusam­men­hang des Zwei­ten Welt­kriegs – der Angriff auf Polen, das bru­ta­le Besat­zungs­re­gime, die Nie­der­la­ge der Wehr­macht, die Bedrü­ckung und Ver­trei­bung der Ost­deut­schen, die Anne­xi­on der Gebie­te jen­seits von Oder und Nei­ße – nicht des his­to­ri­schen Ver­ste­hens oder einer diplo­ma­ti­schen Kor­rek­tur bedurf­te, son­dern einer Auf­ar­bei­tung aus Glau­bens­per­spek­ti­ve. Das gilt jeden­falls für die deut­sche Sei­te. Ursa­che dafür war der gro­ße Ein­fluß, den der lin­ke Pro­tes­tan­tis­mus auf die west­deut­sche Poli­tik bezie­hungs­wei­se den vor­po­li­ti­schen Bereich gewin­nen konnte.
Eine Schlüs­sel­be­deu­tung kommt in die­sem Zusam­men­hang der Ost­denk­schrift der EKD zu, in der sich der pro­tes­tan­ti­sche Dach­ver­band 1965 nicht nur für die fak­ti­sche Aner­ken­nung des Ver­lusts der ost­deut­schen Pro­vin­zen aus­sprach, son dern die­sen Schritt auch noch mit dem Aus­gang des Krie­ges als „Got­tes­ge­richt” und der „deut­schen Schuld” begrün­de­te, die zwar Teil einer all­ge­mei­nen „Schuld­ver­flech­tung” der „Völ­ker” sei, aber eben doch so viel schwe­rer wie­ge als die Schuld aller anderen.

Obwohl die Denk­vor­aus­set­zun­gen die­ser Argu­men­ta­ti­on – Völ­ker als hand­lungs­fä­hi­ge Sub­jek­te, Gott als Herr der Geschich­te, die Äuße­rung sei­nes Wil­lens im his­to­ri­schen Ver­lauf – den meis­ten heu­te kaum noch nach­voll­zieh­bar sind, hat sich deren Sub­strat in den Köp­fen fest­ge­setzt und ist Teil der deut­schen Zivil­re­li­gi­on gewor­den, die mit ihrer Lit­ur­gie, ihren Dog­men und Tabus außer­or­dent­li­chen Ein­fluß auf die öffent­li­che Mei­nung hat. Und das, obwohl die Erwar­tun­gen, die ursprüng­lich mit dem Vor­stoß, den die Ost­denk­schrift bedeu­te­te, ver­bun­den waren, gar nicht erfüllt wur­den. Die Hoff­nung trog, daß nach dem ers­ten Schritt der Deut­schen die Polen ihre „Selbst­ge­rech­tig­keit” auf­ge­ben und ihrer­seits „Schuld” aner­ken­nen würden.
Zwar gab der pol­ni­sche Epi­sko­pat in sei­nem Hir­ten­brief vom Novem­ber 1965 die berühm­te Erklä­rung ab „Wir gewäh­ren Ver­ge­bung und erbit­ten Ver­ge­bung”, aber das erst nach einer aus­führ­li­chen Dar­le­gung des deut­schen Sün­den­re­gis­ters, einer sehr knap­pen Erwäh­nung der Ver­trei­bung und ver­bun­den mit der sibyl­li­ni­schen For­mel, man „müs­se die Geschich­te als gesche­hen betrach­ten”, was unter den kon­kre­ten Umstän­den nur hei­ßen konn­te, daß sich die Deut­schen gefäl­ligst mit dem Sta­tus quo abfin­den soll­ten. Ver­schwie­gen wird in die­sem Zusam­men­hang immer, daß der Inhalt des Schrei­bens außer­dem durch einen Hir­ten­brief der pol­ni­schen Bischö­fe vom 10. Febru­ar 1966 fak­tisch wider­ru­fen wur­de. Dar­in hieß es aus­drück­lich: Man stel­le die Fra­ge, hat das „pol­ni­sche Volk einen Anlaß dazu (…), sei­ne Nach­barn um Ver­ge­bung zu bit­ten? Ganz bestimmt – nein.”
Es wäre ein gro­ßer Irr­tum, in all­dem nur eine inner­kirch­li­che Ange­le­gen­heit zu sehen. Bezeich­nen­der­wei­se erklär­te Kurt Scharf, sei­ner­zeit Rats­vor­sit­zen­der der EKD, man habe mit der Ost­denk­schrift „für Poli­ti­ker einen Raum frei­kämp­fen” wol­len. Und einen ent­spre­chen­den Cha­rak­ter hat­te auch sonst der Ein­satz des lin­ken Pro­tes­tan­tis­mus, ange­fan­gen bei der pro­gram­ma­ti­schen Rede, die Egon Bahr 1963 zuguns­ten einer diplo­ma­ti­schen Annä­he­rung an den Ost­block in der Evan­ge­li­schen Aka­de­mie Tutz­ing hal­ten durf­te, über die deut­li­che Stel­lung­nah­me füh­ren­der Theo­lo­gen gegen die Not­stands­ge­set­ze und die Regie­rung Erhard bis hin zur Orga­ni­sa­ti­on eines par­la­men­ta­ri­schen Arms in der Sozi­al­de­mo­kra­tie durch so nam­haf­te Ver­tre­ter wie Gus­tav Hei­ne­mann, Adolf Arndt und Johan­nes Rau.
Sie alle nah­men erheb­li­chen Ein­fluß auf die Begrün­dung und Recht­fer­ti­gung der „Ent­span­nungs-” wie der „Neu­en Ost­po­li­tik” der Ära Brandt und sorg­ten dafür, daß prak­ti­sche Erwä­gun­gen mit einem ideo­lo­gi­schen Über­bau ver­se­hen wur­den, der durch und durch theo­lo­gisch imprä­gniert war. Das wur­de von pol­ni­scher Sei­te mit gro­ßem Wohl­wol­len auf­ge­nom­men, denn die deut­sche Bereit­schaft zur Annah­me einer Kol­lek­tiv­schuld kam dem offi­zi­el­len Geschichts­bild ent­ge­gen, das in den Deut­schen immer­wäh­ren­de Faschis­ten oder gleich den Erb­feind, in der Ver­trei­bung eine gerech­te Stra­fe und in der Aner­ken­nung der Oder-Nei­ße-Linie die selbst­ver­ständ­li­che Fol­ge des Pots­da­mer „Ver­tra­ges” sah. Die deut­sche Poli­tik trös­te­te sich dar­über mit Beschwich­ti­gung, der Behaup­tung, die eige­ne Linie sei alter­na­tiv­los und dem Ver­trau­en auf „Wan­del durch Annä­he­rung”. Wir­kungs­vol­len Wider­stand gab es nicht, ganz im Gegen­teil. In den sieb­zi­ger und acht­zi­ger Jah­ren wur­de in der Bun­des­re­pu­blik eine rea­li­täts­fer­ne Dar­stel­lung der pol­ni­schen Geschich­te durch­ge­setzt und auf allen Ebe­nen – vom Schul­buch bis zur offi­zi­el­len Ver­laut­ba­rung – eine ein­sei­ti­ge, immer zu Las­ten Deutsch­lands gehen­de Prä­sen­ta­ti­on der Ver­gan­gen­heit hingenommen.
Das führ­te dazu, daß auch nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung – die gegen den deut­li­chen Wider­stand Polens erfolg­te – und dem Zusam­men­bruch des Sowjet­sys­tems kei­ne Kor­rek­tur her­bei­zu­füh­ren war. Inso­fern erscheint es weni­ger ver­wun­der­lich, eher kon­se­quent, daß auch im nach­kom­mu­nis­ti­schen Polen die Vor­stel­lung attrak­tiv erscheint, den deut­schen Natio­nal­ma­so­chis­mus aus­zu­nut­zen. Ste­fan Scheil hat unlängst dar­auf hin­ge­wie­sen, daß hier eine Kor­rek­tur nur mög­lich sei, wenn man dar­an­gin­ge, die „geschichts­po­li­tisch ent­wor­fe­nen Selbst­bil­der” hier wie dort dem anzu­pas­sen, was eigent­lich „selbst­ver­ständ­li­cher Stan­dard” sei.

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