Sieben Stunden, vierzehn Minuten – Manfred Spitzer zur digitalen Demenz

Das ist schon was: Mit Manfred Spitzers Warnung vor der »digitalen Demenz« hat ein Buch die obersten Ränge der Verkaufslisten gestürmt,...

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

das kei­nes­falls einen mode­ra­ten Ton anstimmt. Der bedeu­ten­de Hirn­for­scher lädt nicht zur Mäßi­gung vor der Glot­ze und an den Schalt­knöpf­chen der Spiel­au­to­ma­ten ein. Er nennt kei­ne emp­feh­lens­wer­ten Com­pu­ter­spie­le, er bezif­fert kei­ne Zeit­zo­nen, inner­halb derer die Beschäf­ti­gung mit der vir­tu­el­len Welt tole­ra­bel (oder gar güns­tig) wäre.

Nein, Spit­zer, sechs­fa­cher Vater, sagt ganz radi­kal: Jede vor dem Bild­schirm der digi­ta­len Medi­en ver­brach­te Stun­de ist für Kin­der ver­geu­de­te Lebens­zeit. Der Psych­ia­trie­pro­fes­sor argu­men­tiert sprach­lich bis­wei­len reich­lich hemds­är­me­lig (was das Buch publi­kums­freund­lich macht), aber er hat die Wis­sen­schaft auf sei­ner Seite.

Man will es kaum glau­ben: Sie­ben Stun­den und vier­zehn Minu­ten täg­lich ver­brin­gen deut­sche Neunt­kläß­ler im Durch­schnitt vor dem Fern­se­hen, dem Video, dem Inter­net und vor Com­pu­ter­spie­len. Die Matt­schei­be des Smart­phones ist dabei nicht mal ein­be­zo­gen. Ungläu­big rech­net man nach, zählt Wochen­end- und Feri­en­zei­ten hin­zu und glaubt am Ende der Bilanz. Wohl kei­ner kann bes­ser und glaub­wür­di­ger erklä­ren als Spit­zer, was sol­che 50-Stun­den-Wochen mit dem jugend­li­chen Gehirn machen. In vier­zehn Kapi­teln legt der Hirn­for­scher dar, inwie­fern vor­geb­lich päd­ago­gisch wert­vol­les Baby-TV, der Com­pu­ter im Klas­sen­zim­mer, das Frei­zeit­ver­gnü­gen in »sozia­len Netz­wer­ken« und auf wel­che Wei­se das soge­nann­te Mul­ti­tas­king, die Mög­lich­keit des »Abspei­cherns« (also Aus­la­gerns aus der akti­ven Tätig­keit) und Bal­ler­spie­le die neu­ro­na­len Netz­wer­ke beein­flus­sen. Das Gehirn ist ein plas­ti­sches, fle­xi­bles Organ, es ver­än­dert sich gemäß sei­ner Bean­spru­chung. Unter dem Dau­er­feu­er der Impul­se bah­nen sich »Tram­pel­pfa­de« durch das Hirn, die rela­tiv unver­än­der­bar sind. Ein Jugend­li­cher, der sei­ne Akti­vi­tä­ten größ­ten­teils ins »Netz« ver­la­gert, anstatt durch Sport, Thea­ter, papier­ne Lek­tü­re oder Hand­werk sei­nen Wil­len, sei­ne Krea­ti­vi­tät und Mei­nungs­bil­dung zu schu­len, wird ziem­lich sicher sei­ne affek­ti­ve Selbst­kon­trol­le ein­bü­ßen. Streß­sym­pto­me (wie Depres­sio­nen und Schlaf­lo­sig­keit), sozia­le Auf­fäl­lig­keit und Schul­pro­ble­me ste­hen als siche­re Fol­gen bevor. Spit­zer malt kei­nes­wegs frei­hän­dig den Teu­fel an die Wand, er ope­riert mit einer Viel­zahl wis­sen­schaft­li­cher Stu­di­en und unter­malt die Fol­gen der digi­ta­len (Hyper-)Aktivität mit eige­nen Gra­phi­ken, die den ange­schla­ge­nen Alarm­ton untermauern.

Bis­wei­len unter­gräbt Spit­zers pol­tern­de, wenn auch meist sym­pa­thi­sche Radi­ka­li­tät die Nach­voll­zieh­bar­keit: Daß die Goog­le-Suche einen Nut­zer, der auf dem gesuch­ten Gebiet bis­lang ahnungs­los ist, rat­los zurück­las­se, stimmt defi­ni­tiv nicht. Susan­ne Gasch­ke hat­te sich – ohne in ihren Schluß­fol­ge­run­gen mode­ra­ter zu sein – 2009 bereits gründ­lich und womög­lich elo­quen­ter mit digi­ta­len Ver­dum­mungs­ten­den­zen aus­ein­an­der­ge­setzt (Sezes­si­on 30/2009). Gasch­kes vor­treff­li­ches Buch fehlt in Spit­zers Lite­ra­tur­lis­te, dafür fin­den sich dort Ver­wei­se auf 28 Spit­zer­sche Publi­ka­tio­nen. Klar, der Mann ist vom Fach! Für Eltern, die ihre Kin­der ohne­hin ver­nünf­tig erzie­hen – also unter wei­test­ge­hen­der Umschif­fung digi­ta­ler Ablenk­me­di­en –, bie­tet das Buch vor allem eine Bestä­ti­gung und eine fun­dier­te Argu­men­ta­ti­ons­grund­la­ge. Die kon­kre­ten Tips zum adäqua­ten Hirn­trai­ning, die Spit­zer bie­tet, mögen banal erschei­nen, sind aber gold­rich­tig: Klei­ne Kin­der pro­fi­tie­ren von simp­len Fin­ger­spie­len mehr als von Lap­tops im Kin­der­gar­ten! Ste­te Übun­gen der Selbst­kon­trol­le (erst ein Lied, auch wenn der Kuchen auf dem Tisch noch so lockt) die­nen der Immu­ni­sie­rung gegen Streß! Sin­gen Sie viel und laut!

Man­fred Spit­zer: Digi­ta­le Demenz. Wie wir uns und unse­re Kin­der um den Ver­stand brin­gen, Mün­chen: Droe­mer 2012. 368 S., 19.99 €

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Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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