Gesellschaftsvertrag und Widerstand

47pdf der Druckfassung aus Sezession 47 / April 2012

von Heino Bosselmann

Das staatspolitische Denken des säkularen Europa gründet in der philosophisch geprägten, aber historisch kaum greifbaren Vorstellung des Gesellschaftsvertrages, also in der Annahme, kontraktualistische Handlungen hätten das »zoon politikon« vom »status naturalis« in den »status civilis« geführt. Von Bodin bis Rawls versucht die Philosophie dieses Phänomen zu erklären und präferiert verschiedene Staatsformen – nach eher konservativen Vorstellungen den machtvoll leviathanischen Souverän, der den Fährnissen des Naturzustandes wehrt, nach liberalem Muster einen contrat social, den alle Vollbürger zu aller Gunsten verhandelnd vereinbaren.

Ein­mal dahin­ge­stellt, ob sich hin­ter dem Begriff des »Gesell­schafts­ver­tra­ges« eine der Illu­sio­nen der Auf­klä­rung ver­ber­gen mag und der Staat nicht viel eher als prag­ma­ti­sche Herr­schaft erklär­bar wür­de, die sich aus dem Spek­trum der Ungleich­heit klä­rend erhebt, legi­ti­miert sich Staats­macht, zumal die demo­kra­ti­sche, gern mit dem Ver­weis auf ein Wohlfahrtsversprechen.

Der Staats­bür­ger jeden­falls fin­det »Gesell­schafts­ver­trä­ge« vor, sieht sich in sie hin­ein­ge­stellt und wird mit der Erwar­tung der Auto­ri­tä­ten kon­fron­tiert, in die­sen angeb­lich nicht nur erprob­ten, son­dern bes­ten aller mög­li­chen Staa­ten unbe­dingt iden­ti­fi­ziert hin­ein­zu­wach­sen. Sol­cher­art soll­te der jun­ge Sowjet­bür­ger Kom­mu­nist wer­den, der Bun­des­bür­ger sich als Demo­krat ver­ste­hen, der Abitu­ri­ent des Jahr­gangs 1938 einen Auf­satz im Sin­ne des Natio­nal­so­zia­lis­mus schrei­ben kön­nen. Dis­kre­pan­zen erge­ben sich, sobald der Mensch sich als selb­stän­di­ges Wesen begreift und sich eine indi­vi­du­el­le Posi­ti­on, eine Ortung erar­bei­tet, von der aus er sich zum ver­ord­ne­ten Gemein­we­sen zu ver­hal­ten beginnt.

Was aber, wenn man die­sen »Gesell­schafts­ver­trag«, der immer ohne einen selbst geschlos­sen wur­de, so über­haupt von einem kon­kret faß­ba­ren Akt der Kon­sti­tu­ie­rung je die Rede sein kann, wenn man ihn also als unzu­rei­chend, unge­recht oder gänz­lich inak­zep­ta­bel zu erken­nen meint? Was, wenn ein Sys­tem, das aus der Innen­per­spek­ti­ve sei­ner eige­nen Deu­tungs­be­hör­den als das best­mög­li­che erscheint, einem urteils­kräf­ti­gen Betrach­ter als inak­zep­ta­bel gilt? Wie ver­hält sich der Bür­ger im prin­zi­pi­el­len Kon­flikt, in der Kol­li­si­on mit dem Staats­we­sen, das ein star­ker Beschüt­zer und eben­so star­ker Geg­ner sein kann? Sape­re aude! Sape­re aude?

Zum Über­schrei­ten der roten Linie bedarf es kei­ner »Wut­bür­ger« und nicht der Bar­ri­ka­de, son­dern ein­zig des Revi­si­ons­be­dürf­nis­ses gegen­über soge­nann­ten »Grund­ver­ein­ba­run­gen«, von denen wie­der die Fra­ge blie­be, wer sie ver­ein­bart habe. Man muß nicht das Dik­tum Rosa Luxem­burgs auf­ru­fen, Frei­heit wäre immer die Frei­heit der Anders­den­ken­den; es geht um mehr, näm­lich um die Gret­chen­fra­ge an die Adres­se jedes Staa­tes: Wie hältst du’s mit dem Wider­stand? Denn Wider­stand ist zwar nicht die Revo­lu­ti­on, aber doch etwas ande­res als die jovia­le Kul­ti­viert­heit der Oppo­si­ti­on im geschütz­ten Raum. Wider­stand ist die prin­zi­pi­el­le Infra­ge­stel­lung eines Kon­sen­ses, der als ver­ord­net erscheint, als ver­nünf­tig dar­ge­stellt und wie alles ver­meint­lich Ver­nünf­ti­ge und Geord­ne­te mit einer mora­li­schen Schutz­mau­er umge­ben wird: Es sei das Gute dar­in verkörpert.

Indes: Demo­kra­tie ist Herr­schaft. Es gibt einen legis­la­ti­ven »Gesetz­ge­ber«, der – von immer weni­ger Akti­ven legi­ti­miert – Ent­schei­dun­gen exe­ku­tiv umsetzt, durch­aus in der vom geschmäh­ten Carl Schmitt beschrie­be­nen Wei­se. Wer sich dage­gen­stellt, ist ein Feind des Sys­tems, also ein Ver­trags­brü­chi­ger im Sin­ne des cont­rat social, mit­hin destruk­tiv, was die Demo­kra­tie betrifft, und böse, was die mit Ver­nunft begrün­de­te Mora­li­tät die­ser bes­ten aller mög­li­chen Ord­nun­gen anbe­langt. Schon dem ideel­len Ver­wei­ge­rer wer­fen die Macht­ha­ber vor, er wür­de mit sei­nem Den­ken die Höl­le öff­nen, indem er offi­zi­ell zu beschwei­gen­de Fra­gen cou­ra­giert stellt oder nur nach kla­rer Spra­che sucht.

Demo­kra­tie­vor­stel­lun­gen fol­gen zum einen dem uti­li­ta­ris­ti­schen Ver­ständ­nis, Mehr­heits­ent­schei­dun­gen wären gute Ent­schei­dun­gen, min­des­tens aber gerech­te­re als Min­der­heits­vo­ten oder gar die Dekre­te eines sich mit dem Got­tes­gna­den­tum oder gar via Ideo­lo­gie legi­ti­mie­ren­den Auto­kra­ten. Anthro­po­lo­gi­sche Grund­la­ge der Demo­kra­tie ist fer­ner die mit Ver­weis auf die hoch­ge­hal­te­ne Auf­klä­rung gera­de­zu axio­ma­ti­sche Behaup­tung, der Mensch wäre ver­nünf­tig. Poli­tik folgt dabei ver­kürzt Beweis­füh­run­gen, die ins­be­son­de­re Imma­nu­el Kant zur Bestim­mung des Men­schen und sei­ner Ethik hin­ter­ließ, Her­lei­tun­gen, die phi­lo­so­phie­ge­schicht­lich so berü­ckend sind wie frag­wür­dig, nichts­des­to­trotz aber zum pro­pa­gan­dis­ti­schen Leit­fa­den erho­ben wer­den, ins­be­son­de­re im Bil­dungs­be­trieb des Staa­tes, der nur the­ma­ti­siert, was ihm in die Legi­ti­ma­ti­ons­le­gen­de paßt. Neben­bei: Die klas­si­schen staats­bür­ger­li­chen Leh­ren wer­den ent­schei­dend dadurch kon­ter­ka­riert, daß mehr denn je das Geld und die Buch­hal­tungs­po­li­tik zum Sou­ve­rän und die Wirt­schaft zur Ideo­lo­gie avan­cie­ren. Was etwa gilt ein Par­la­ment noch gegen eine Ratingagentur?

Man muß kein Ken­ner staats­phi­lo­so­phi­scher Grund­la­gen­li­te­ra­tur sein; es reicht für den pro­duk­ti­ven Ver­dacht bereits aus, sich die Ereig­nis­se der letz­ten bei­den Jahr­hun­der­te aus der Per­spek­ti­ve des gesun­den Men­schen­ver­stan­des anzu­schau­en, um neben Kants Wür­di­gung des ver­nunft­ge­lei­te­ten Men­schen die Vor­stel­lung Scho­pen­hau­ers gel­ten zu las­sen, die­ser Mensch wäre eben­so fähig, einen ande­ren zu töten, um sich mit des­sen Fett die Stie­fel zu schmie­ren. Solch frei­lich nega­ti­ve Sicht, oft als Krän­kung emp­fun­den, aber eine Schu­le des illu­si­ons­lo­sen Blicks, fin­det sich nicht nur in der Hand­lung von Ein­zel­we­sen gespie­gelt, son­dern dras­ti­scher in denen von Staa­ten, auch sol­cher demo­kra­ti­scher Ver­faßt­heit. Allein die Geschich­te der USA, des oft gehul­dig­ten »Mus­ter­lan­des der Demo­kra­tie«, lie­fert ein­drucks­vol­les Mate­ri­al, das an der Ethik und Anthro­po­lo­gie der Auf­klä­rung im all­ge­mei­nen und an der Gerech­tig­keit und Güte der Demo­kra­tie im beson­de­ren auf ganz empi­ri­sche Wei­se zwei­feln läßt.

Selbst wenn sie dies bedau­ernd ein­ge­ste­hen müß­ten, argu­men­tie­ren die Demo­kra­ten, läge den­noch der ent­schei­den­de Vor­zug im Wesen des Demo­kra­ti­schen dar­in, sich qua per­ma­nen­tem Dis­kurs, Gewal­ten­tei­lung und Wahl­recht immer neu regu­lie­ren zu kön­nen, Miß­stän­de im Pro­zeß gesell­schaft­li­cher Rei­fung pro­gres­siv aus­zu­schlie­ßen und evo­lu­tio­när dem Ide­al mensch­li­chen Zusam­men­le­bens näher zu kom­men. Das har­mo­niert mit Hegels Geschichts­phi­lo­so­phie eben­so wie mit Haber­mas’ euro­päi­schen Hoffnungen.

Was aber, wenn die Demo­kra­tie an ihrer gefähr­lichs­ten Kri­se lit­te, wenn ihr also die Demo­kra­ten abhan­den kämen, ent­we­der weil es sie so reif und ver­nünf­tig nie gab oder weil vom aler­ten Citoy­en nach Jahr­zehn­ten des rei­nen Öko­no­mis­mus nur der tum­be Bour­geois übrig­blieb, des­sen Urteils­kraft über Preis­ver­glei­che hin­aus – Ich bin doch nicht blöd! – völ­lig dege­ne­rier­te, so sie je tat­säch­lich bestand? Was, wenn die Demo­kra­tie trotz aller Regu­la­ri­en zur Olig­ar­chie, Klep­to­kra­tie, Plu­to­kra­tie ver­kam, die wohl noch de jure demo­kra­tisch ver­faßt sein mag, de fac­to aber zum Kli­en­te­lis­mus oder Lob­by­is­mus schrumpf­te? Kurz: Was geschieht, wenn sich eine kri­ti­sche Mehr­heit vom Sys­tem abwen­det, weil sie es nur noch als Far­ce erlebt?

Im Fal­le der Bun­des­re­pu­blik, einer Wohl­stands­de­mo­kra­tie, die nie gefähr­det war, blieb mit der Kri­se rein rhe­to­risch vor allem ein Ide­al übrig, das in etwa der Mitotes-Theo­rie des Aris­to­te­les ent­spricht, der zufol­ge die Tugend in der »Mit­te« läge, unge­fähr in der Wei­se, wie Odo Mar­quard die Stär­ken des Bür­ger­li­chen beschreibt. Alle Par­tei­en der gegen­wär­ti­gen Poli­tik sehen sich als sol­che Kräf­te der Mit­te – ein Begriff, der, je mehr er sich sozi­al und poli­tisch ver­engt, immer ein­dring­li­cher beschwo­ren wird. Alle Wohl­mei­nen­den wol­len Mit­te sein. Wer erklär­ter­ma­ßen nicht zu die­ser Mit­te gehö­ren will, wer die »Kon­sens­de­mo­kra­tie« in Fra­ge stellt, gilt aus deren Zen­tral­per­spek­ti­ve je nach Wider­stän­dig­keit als ver­däch­tig, gefähr­lich, feind­lich, ja schließ­lich als patho­lo­gisch. Die Mit­te, nach ihrem Selbst­ver­ständ­nis ansons­ten plu­ra­lis­tisch, tole­rant und huma­nis­tisch, kann, fest­ge­legt aufs auf­klä­re­ri­sche Erbe, mit ihren radi­ka­len Geg­nern nicht anders umge­hen, als die­se letzt­end­lich als defekt hin­zu­stel­len, da für ihre Exege­ten als ver­ein­bart gilt, wie ein ver­nünf­ti­ger Mensch beschaf­fen sein soll. Noch in dem Tot­schlag­ar­gu­ment, aus der Geschich­te nicht das gelernt zu haben, was man ler­nen soll­te, erregt sich der gan­ze päd­ago­gi­sche Impe­tus der Aufklärung.

Im Wunsch der Kon­sens-Demo­kra­ten, die Kon­fron­ta­ti­ons­den­ker und poli­ti­schen Wider­ständ­ler gehör­ten ver­bo­ten, lebt die nai­ve Hoff­nung, nicht nur deren Par­tei­en wür­den ver­schwin­den, son­dern eben­so deren Den­ken. Die Mit­te wäre wie­der unter sich. Weil er aus der Welt­ord­nung des Demo­kra­tis­mus her­aus­fällt, darf der intel­lek­tu­el­le Geg­ner kei­nen Platz bean­spru­chen, denn ein Außer­halb der »demo­kra­ti­schen Grund­ord­nung« gibt es per defi­ni­tio­nem nicht. Wider­stand undenk­bar, wo doch nur demo­kra­ti­scher Wider­stand in Dik­ta­tu­ren legi­tim erscheint. Inso­fern ist der »Radi­ka­le« für die Mit­te nicht ein­fach nur der Anders­den­ken­de, son­dern der poli­tisch abar­tig Kran­ke, der sich ent­we­der über Hilfs­an­ge­bo­te zu kurie­ren hat oder als Paria iso­liert gehört, in Qua­ran­tä­ne, damit sich bloß nicht die gesam­te Gesell­schaft an ihm infiziere.

Weil die Radi­ka­len als hoch­in­fek­ti­ös gel­ten, darf ihnen »kein Podi­um gebo­ten wer­den«, soll sich nie­mand mit ihnen ein­las­sen, dür­fen sie nicht ein­ge­schlos­sen wer­den in das, was sonst demo­kra­ti­sches Grund­prin­zip ist, die Aus­ein­an­der­set­zung mit­tels Argu­men­ten näm­lich. Weil die­se Kräf­te patho­lo­gisch sei­en, hät­te die Dis­kus­si­on gar kei­nen Sinn. Lei­der! Einen »Nazi« zu einer Dis­kus­si­on gar in eine Schul­stun­de ein­zu­la­den, um kri­tisch mit ihm zu spre­chen – undenk­bar! Offen­bar fürch­tet die Mit­te vor­be­wußt selbst, ihr Immun­sys­tem wäre nicht mehr intakt.

Bleibt die Fra­ge: Woher kom­men die Radi­ka­len, was sind ihre Wur­zeln, woher rüh­ren ihre Moti­ve? Die Ant­wort der Demo­kra­ten fällt sim­pel aus: All das sei ursäch­lich uner­klär­lich, eigent­lich non­kau­sal. Denn der Mensch ist wesent­lich »ver­nünf­tig«. Der Radi­ka­le erscheint so in gnos­ti­scher Wei­se als Ver­kör­pe­rung der Unver­nunft, des Dunk­len und Mephis­to­phe­li­schen, dem der gute Mensch nicht das Feld über­las­sen dürf­te. Was aber ist so schwie­rig dar­an zu ver­ste­hen, daß, wenn Ver­nunft und Funk­tio­na­li­tät die Kon­sens­de­mo­kra­tie begrün­den, Wider­stand dage­gen in dem Moment ver­nünf­tig sein könn­te, in dem das Sys­tem nicht mehr funk­tio­niert und sich irra­tio­nal verhält?

Ein Staats­bür­ger oder Poli­ti­ker, der sich auf Kos­ten der Gemein­schaft per­fi­de berei­chert oder Vor­tei­le ver­schafft, ist immer noch Teil der Ord­nung, indem er sie ver­bal akzep­tiert und beei­det. Er hat gefehlt und kann bestraft wer­den; er ist reha­bi­li­tier­bar. Wer jedoch wirk­lich auf­be­gehrt (und nicht nur schein­bar oder weil es der PR-Bera­ter vor­schlug), fällt aus der Gemein­schaft her­aus wie ein Kri­mi­nel­ler. Bevor er nicht wider­ruft und vor den eige­nen Anschau­un­gen kapi­tu­liert, gilt er als nicht the­ra­pier­bar und muß sepa­riert werden.

Bleibt der Hin­weis, daß der ech­te Wider­ständ­ler, der Ego-non-Typ, dar­auf nicht war­ten soll­te: Er könn­te der Aus­gren­zung durch selbst­be­wuß­te Sezes­si­on zuvorkommen.

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