Schreibtisch oder Gefecht? – Manöverernst

47pdf der Druckfassung aus Sezession 47 / April 2012

von Martin Böcker

Es geht um den Manöverernst in der Bundeswehr. Wer darüber schreibt, schreibt vor allem über sein Fehlen. Wer »vom Einsatz her« denkt, kommt nicht umhin, den mangelnden Ernst in den Manövern festzustellen und anzuprangern. »Vom Einsatz her«: Das ist die neue Denke, die natürlich nicht nur die Neustrukturierung der deutschen Streitkräfte betrifft, sondern auch die Ausrichtung des gesamten Ausbildungsbetriebs auf den tatsächlich eingetretenen Ernstfall hin – den Auslandseinsatz, in dessen Verlauf gekämpft werden muß.

Wer wahr­nimmt, daß die Ein­sät­ze zu mehr Ernst in Aus­bil­dung und Ein­satz füh­ren, hat damit auch fest­ge­stellt, daß es bis­her nicht so dar­auf ankam. Aber kann der Bun­des­wehr über­haupt ein bis­lang feh­len­der Ernst vor­ge­wor­fen wer­den? Und wenn ja: Was müß­te man for­dern von der deut­schen Armee und der deut­schen Poli­tik, jetzt, wo es plötz­lich wie­der »dar­auf ankommt«?

Zunächst: Die Bun­des­wehr ist nicht weni­ger leis­tungs­fä­hig als ande­re Streit­kräf­te ver­gleich­ba­rer Grö­ße. Sie weist aller­dings eini­ge Bruch­li­ni­en auf, die quer durch die Ein­hei­ten ver­lau­fen. Sie tre­ten zum Bei­spiel und beson­ders im Aus­lands­ein­satz zuta­ge, und zwar als Kon­flikt zwi­schen soge­nann­ten »Drin­nis« und »Drau­ßis«, also zwi­schen denen, die im Lager blei­ben, und denen, die Patrouil­le fahren.

Zwei Haupt­leu­te der Kampf­trup­pe haben in der Uni­vok, der Stu­den­ten­zeit­schrift der Ham­bur­ger Bun­des­wehr-Uni­ver­si­tät, über die­ses The­ma berich­tet: zum Bei­spiel über eine dienst­ha­ben­de Vete­ri­nä­rin, die in Afgha­ni­stan in einem Außen­pos­ten deut­sche Hygie­ne­stan­dards anle­gen woll­te. Ein Kom­pa­nie­chef muß­te mit »Engels­zun­gen« auf sie ein­re­den, damit sie, ver­ein­facht gesagt, auf ihre Mel­dung ver­zich­tet, wel­che die Schlie­ßung des Pos­tens zur Fol­ge gehabt hät­te. Ein ande­res Bei­spiel ist die alar­mier­te Reser­ve­ein­heit, die mit hohem Tem­po aus­rü­cken woll­te: Ein »Drin­nie« stell­te sich den Fahr­zeu­gen in den Weg, um die »Drau­ßis« über die vor­ge­schrie­be­ne Schritt­ge­schwin­dig­keit im Lager zu beleh­ren. Zwei Anek­doten nur, aber das reicht aus, damit man ein Gefühl bekommt für die Unter­schie­de zwi­schen den ver­schie­de­nen Lebens­wel­ten in ein und der­sel­ben Streit­kraft: hier Frie­dens­bü­ro­kra­tie, dort Einsatzpragmatik.

Die­se Unter­schie­de wir­ken bis in die Hei­mat zurück. Und das ist im Hin­blick auf den neu­en Ernst im Manö­ver gar nicht schlecht – etwa, wenn die Patrouil­len­sol­da­ten den erleb­ten Ernst­fall auf den Aus­bil­dungs­be­trieb über­tra­gen kön­nen. Doch die kampf­erfah­re­nen Män­ner sind nicht nur in der Unter­zahl, sie sind auch ver­hält­nis­mä­ßig jung. Die wenigs­ten Gene­rä­le dürf­ten die Din­ge erlebt haben, die ein Haupt­mann oder Major der Kampf­trup­pe in Afgha­ni­stan mit­mach­te. So gibt es nicht nur ekla­tant unter­schied­li­che Erfah­run­gen zwi­schen »Etap­pe« und »Front«, son­dern auch zwi­schen den Gene­ra­tio­nen. In die Bun­des­wehr sickert der neue Ernst der Jun­gen eher schlep­pend ein. Natür­lich kann man nicht pau­schal behaup­ten, daß jedem »Drin­ni« oder Alten die rich­ti­ge Ein­stel­lung feh­le. Aber daß dem Bun­des­wehr-Jar­gon eine gän­gi­ge Wen­dung im Sin­ne von train as you fight (bil­de gefechts­nah aus) fehlt, mag eines von meh­re­ren Indi­zi­en dafür sein, daß die hier gezeich­ne­te Ten­denz zutref­fend ist.

Die oben ange­deu­te­ten Unter­schie­de in den mili­tä­ri­schen Lebens­wel­ten haben sich aus den Nach­wir­kun­gen des Kal­ten Krie­ges erge­ben, aus dem die Bun­des­wehr als ein durch und durch büro­kratisiertes Unter­neh­men her­vor­ge­gan­gen ist. Eine hoch­tech­no­lo­gi­sche, moder­ne Wehr­pflicht-Armee muß eine büro­kra­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on sein, anders ist das »Orga­ni­sa­ti­ons­ziel« nicht zu errei­chen: näm­lich eine gro­ße Anzahl von Sol­da­ten für den mili­tä­ri­schen Ein­satz aus­zu­bil­den. Wäh­rend der Block­kon­fron­ta­ti­on war dies das ein­zi­ge Ziel, wäh­rend der Ein­satz kei­nes war: Der Krieg wur­de vor­be­rei­tet, aber nicht geführt, und das Para­do­xon der Abschre­ckung lau­tet seit jeher: Je bes­ser wir sind, des­to siche­rer müs­sen wir nicht in den Ein­satz. Damit und mit einer alle Kräf­te bean­spru­chen­den Büro­kra­tie soll­te auch ver­ges­sen gemacht wer­den, daß das Mili­tär im Frie­dens­zu­stand prak­tisch funk­ti­ons­los ist – wenn man von der Funk­ti­on sei­ner rei­nen Exis­tenz mal absieht.

Mit Soma­lia und dem Koso­vo, spä­tes­tens jedoch mit dem »robus­ter« wer­den­den Afgha­ni­stan-Ein­satz hat sich das Ziel aller Aus­bil­dung nun kon­kre­ti­siert, und zwar auf einen nicht nur theo­re­ti­schen, son­dern eben­so begrenz­ten wie tat­säch­lich ein­tre­ten­den Ernst­fall hin. Die Poli­tik reagiert mit der »Trans­for­ma­ti­on der Bun­des­wehr« und paßt sie ihrer neu­en Auf­ga­be an, näm­lich den Inter­ven­tio­nen im Aus­land und dem Kampf gegen irre­gu­lä­re Kräf­te. Es ist wenig über­ra­schend, daß eine als Ver­tei­di­gungs­ar­mee auf­ge­bau­te Bun­des­wehr erst mal an ihre Gren­zen stößt, wenn sie rela­tiv plötz­lich irre­gu­lä­ren Kräf­ten gegen­über­steht. Ihr Orga­ni­sa­ti­ons­ziel war ja defen­si­ver Natur und – wie gesagt – jahr­zehn­te­lang da, aber auch nicht da.

Selbst der Wehr­macht, ihrer­seits eine effi­zi­en­te Angriffs­ar­mee, blie­ben Erfah­run­gen der Unzu­läng­lich­keit im Zusam­men­hang mit Par­ti­sa­nen­kämp­fen nicht erspart: »Wer beschreibt aber die Über­ra­schung und die sich stei­gern­de Lei­den­schaft, mit der wir ahnungs­lo­sen Blitz­kriegsol­da­ten des Zwei­ten Welt­krie­ges dem Phä­no­men zuerst begeg­ne­ten?« Hell­muth Rentsch mach­te die­se Zei­len 1961 zum Auf­takt sei­ner Arbeit Par­ti­sa­nen­kampf. Erfah­run­gen und Leh­ren (Frank­furt a. M. 1961). Und die­ser Satz hat auch heu­te noch Gül­tig­keit – jeden­falls wenn wir den »ahnungs­lo­sen Blitz­krie­ger« durch den »ahnungs­lo­sen Büro­kra­ten« ersetzen.

Die schlich­te For­de­rung nach mehr Ernst­haf­tig­keit ist natür­lich auch schon wäh­rend des Kal­ten Krie­ges erho­ben wor­den, und es gibt Ein­hei­ten, die den Manö­ver­ernst hoch- und durch­ge­hal­ten haben. Und trotz­dem ist unse­re büro­kra­ti­sche Armee das Ergeb­nis eben die­ser Zeit. Der Grup­pen­füh­rer konn­te und kann sei­ne Rekru­ten noch zu ernst­haf­tem Üben zwin­gen, auch der Zug­füh­rer und der Kom­pa­nie­chef sind noch nah dran am Gros der Sol­da­ten und kön­nen mit­tels Dienst­auf­sicht und Dis­zi­pli­nar­maß­nah­men einen Bei­trag leis­ten. Aber spä­tes­tens ab die­ser Ebe­ne ist Papier gedul­dig, und selbst bei aller­höchs­ter Füh­rer­dich­te bleibt die Dienst­auf­sicht hintergehbar.

Der Appell, das, was zu tun ist, sorg­fäl­tig und mit gro­ßem Ernst zu betrei­ben, muß tie­fer gehen oder sich an kon­kre­ten Vor­tei­len für die ein­zel­nen Sol­da­ten ori­en­tie­ren. Was könn­te so ein kon­kre­ter Vor­teil sein? Wenn der Kal­te Krieg die deut­schen Streit­kräf­te büro­kra­ti­siert hat, dann müß­te ihre regel­mä­ßi­ge Ver­wen­dung als Inter­ven­ti­ons­streit­kraft auto­ma­tisch zu ihrer Ent­bü­ro­kra­ti­sie­rung füh­ren – jeden­falls so weit, wie das für eine hoch­tech­no­lo­gi­sche, moder­ne Armee noch sinn­voll ist. Sie wür­de damit in mili­tä­ri­scher Hin­sicht effi­zi­en­ter, stär­ker, bes­ser wer­den. Denn als gegen Ende des Kal­ten Krie­ges schon klar war, daß er nicht aus­bre­chen wür­de, war es ver­tret­bar, sich zuun­guns­ten der mili­tä­ri­schen Aus­bil­dung für Sicher­heit, Bequem­lich­keit und juris­tisch-büro­kra­ti­sche Absi­che­rung zu ent­schei­den: Die Quit­tung kam nicht. Heut­zu­ta­ge haben die Sol­da­ten zumin­dest theo­re­tisch genü­gend Anlaß für die Gewiß­heit, daß feh­len­der Manö­ver­ernst feh­len­de Fähig­kei­ten zur Fol­ge habe, und das könn­te einen selbst oder den Kame­ra­den das Leben kos­ten. Kämp­fen kön­nen, durch­kom­men, unver­sehrt blei­ben: Das soll­te als kon­kre­ter Vor­teil genü­gen und für den nöti­gen Ernst sor­gen, wenn es ins Manö­ver geht.

Wenn die­se theo­re­tisch vor­han­de­ne Gewiß­heit auf Aus­bil­der mit der Erfah­rung eines »Drau­ßis« trifft, und das wird sie immer öfter, dann ist das einer von vie­len klei­nen Schrit­ten hin zum ordent­li­chen Ernst, also die gewünsch­te Rea­li­sie­rung des Den­kens »vom Ein­satz her«. In die­ser Hin­sicht wird sich der Manö­ver­ernst in der Bun­des­wehr von Ein­satz zu Ein­satz durch­set­zen. Selbst ethi­sche For­de­run­gen wie »inter­kul­tu­rel­le Kom­pe­tenz«, die ja manch­mal als gut­mensch­li­ches Getue ver­lä­chelt wer­den, eta­blie­ren sich inso­fern, als daß sie für den Kampf mit irre­gu­lä­ren Kräf­ten mili­tä­risch sinn­voll sind (Par­ti­sa­nen und Par­ti­sa­nen­be­kämp­fer leben glei­cher­ma­ßen vom Rück­halt in der Bevöl­ke­rung des Einsatzlandes).

Also wirk­lich alles nur eine Fra­ge der Zeit? Nicht nur. Aus sol­da­ti­scher Sicht ist es auch eine Fra­ge von mehr oder weni­ger Ver­wun­de­ten, Ver­sehr­ten, Gefal­le­nen. Und wenn dem Sol­da­ten der Sinn einer mili­tä­ri­schen Inter­ven­ti­on fremd bleibt, dann kann sich der Grund­satz »Wir­kung geht vor Deckung« rasch in sein Gegen­teil ver­wan­deln. Wie wäre es also mit einem offen kom­mu­ni­zier­ten Inter­ven­ti­ons­grund wie »Siche­rung der Roh­stoff­ver­sor­gung«? Und wenn der durch und durch zivi­le Poli­ti­ker nicht erfährt, daß es sei­ne unzweck­mä­ßi­gen Vor­ga­ben sind, die die Par­la­ments­ar­mee schwä­chen, dann kann er sie noch nicht ein­mal theo­re­tisch anpas­sen. Wenn Poli­tik und Mili­tär unnö­ti­ge Opfer ver­mei­den wol­len, dann muß die Poli­tik dem Mili­tär rei­nen Wein ein­schen­ken, und das Mili­tär muß das ein­for­dern, was es zum Kämp­fen und Sie­gen braucht. Nur so nimmt man ein­an­der ernst.

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