Masse und Macht – über Elias Canetti

48pdf der Druckfassung aus Sezession 48 / Juni 2012

Deutsch war nach Spaniolisch (das »Judenspanisch« der Sepharden), Bulgarisch und Englisch erst die vierte Sprache, die Elias Canetti erlernte. Genauer gesagt, wurde sie ihm von seiner Mutter gewaltsam eingepflanzt, mit einer Methode, deren Erfolg ihm noch Jahrzehnte später unfaßbar erschien. 1913 war Canetti acht Jahre alt, der Umzug der Familie von England nach Wien stand unmittelbar bevor. Seine Mutter las ihm eine erkleckliche Anzahl deutscher Sätze vor, übersetzte sie rasch ins Englische und befahl ihm, sich bis zum nächsten Tag ihren Sinn zu merken, untersagte jedoch, sie nachzuschlagen.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Jedes Gedächt­nis­ver­sa­gen wur­de mit ver­ächt­li­chem Hohn bestraft. Es hing viel an die­ser Spra­che: In ihr führ­ten die Eltern ihr inti­mes »Lie­bes­ge­spräch«, das die Kin­der aus­schloß und das mit dem frü­hen Tod von Canet­tis Vaters ver­stummt war. Nach qual­vol­len Wochen war Canet­ti end­lich in den Ark­an­be­reich vor­ge­drun­gen: Er wur­de nun end­gül­tig zum Thron­fol­ger des Ver­stor­be­nen an der Sei­te einer besitz­ergrei­fen­den, geni­al-neu­ro­ti­schen Mutter.

Eli­as Canet­ti, gebo­ren als Sohn sephar­di­scher Juden am 25. Juli 1905 im bul­ga­ri­schen Rust­schuk (heu­te: Rus­se), wo das Osma­ni­sche Reich an das König­reich Rumä­ni­en grenz­te, wur­de zu einem der bedeu­tends­ten Schrift­stel­ler deut­scher Zun­ge im 20. Jahr­hun­dert. 1981 erhielt er den Lite­ra­tur­no­bel­preis. Sei­ne Kind­heit und Jugend ver­brach­te er neben Rust­schuk in Man­ches­ter, Zürich und Frank­furt am Main, den größ­ten Teil sei­nes erwach­se­nen Lebens in Lon­don und wie­der­um in Zürich. Die prä­gen­de Stadt für Leben und Werk war aller­dings Wien, wo er von 1913 bis 1916 und von 1924 bis 1938 leb­te, ehe ihn der Natio­nal­so­zia­lis­mus in die Emi­gra­ti­on zwang.

In Wien mach­te Canet­ti Bekannt­schaft mit Robert Musil, Her­mann Broch, Franz Wer­fel und Alban Berg; er ver­fiel der »Dik­ta­tur« des wort­ge­wal­ti­gen Karl Kraus, freun­de­te sich mit dem Bild­hau­er Fritz Wotru­ba an und lern­te sei­ne spä­te­re Ehe­frau, die acht Jah­re älte­re Veza Taub­ner-Cal­de­ron ken­nen, die eben­falls sephar­di­scher Abstam­mung war. Der jun­ge Canet­ti, der ohne inne­re Teil­nah­me Che­mie stu­dier­te und sich nur lang­sam zur dich­te­ri­schen Beru­fung vor­an­tas­te­te, war ein Mensch vol­ler extre­mer inne­rer Span­nun­gen, mit einer gut ver­bor­ge­nen, aber hef­ti­gen Emp­find­sam­keit, einer schar­fen sinn­li­chen Wahr­neh­mung und einem eben­so schar­fen Ver­stand. Von sei­nem Stu­den­ten­zim­mer in Wien-­Hack­ing aus konn­te er bis nach Stein­hof bli­cken, einem psych­ia­tri­schen Kom­plex aus unzäh­li­gen Pavil­lons, in deren Mit­te die gol­de­ne Jugend­stil­kup­pel der Otto-Wag­ner-Kir­che glänz­te. Die­se »Stadt der Irren«, die angeb­lich Tau­sen­de Ein­woh­ner zähl­te, war ihm ein Spie­gel für die Laby­rinthe und Gefähr­dun­gen sei­ner eige­nen See­le. »Ich war voll von Fra­gen und Chi­mä­ren, Zwei­feln, bösen Ahnun­gen, Kata­stro­phen­ängs­ten, aber auch von einem unheim­lich star­ken Wil­len, mich zurecht­zu­fin­den, die Din­ge aus­ein­an­der­zu­neh­men, ihre Rich­tung zu bestim­men und sie dadurch zu durchschauen.«

Als »Frucht des Feu­ers« ent­stand sein ers­ter gro­ßer Wurf: der Roman Die Blen­dung, der 1935, vier Jah­re nach sei­ner Nie­der­schrift, mit einem von Alfred Kubin gestal­te­ten Ein­band erschien. Es ist ein Werk wie Feu­er und Eis, von einer zuwei­len uner­träg­li­chen Inten­si­tät, das gleich­zei­tig extrem zuspit­zend wie kalt sezie­rend dem selbst­zer­stö­re­ri­schen Wahn­sinn sei­ner Haupt­fi­gur, dem kau­zi­gen Sino­lo­gen und Bücher­men­schen Kien (zunächst: Kant), bis ins mikro­sko­pi­sche Detail folgt. Die Blen­dung war Exor­zis­mus und Auto-da-fé zugleich für den jun­gen Autor: »Im Herbst 1931 leg­te Kant Feu­er an sei­ne Biblio­thek und ver­brann­te mit sei­nen Büchern. Sein Unter­gang ging mir so nahe, wie wenn es mir sel­ber gesche­hen wäre. Mit die­sem Werk beginnt mei­ne eige­ne Ein­sicht und Erfahrung.«

Aber noch an einer ande­ren ent­schei­den­den Stel­le hat­te sich ihm in Wien die bedroh­li­che »Ent­zünd­bar­keit der Welt« offen­bart. Am 15. Juli 1927 wur­de Canet­ti Zeu­ge eines Ereig­nis­ses, das zu einem der ein­schnei­dends­ten sei­nes Lebens wur­de. Am 30. Janu­ar des Jah­res war es im bur­gen­län­di­schen Schat­ten­dorf zu einem Zusam­men­stoß der rech­ten »Front­kämp­fer­ver­ei­ni­gung« mit den sozi­al­de­mo­kra­ti­schen »Schutz­bünd­lern« gekom­men. Dabei wur­den ein acht­jäh­ri­ges Kind und ein Kriegs­in­va­li­de von den Kugeln der »Front­kämp­fer« getö­tet. Als im Juli die Pres­se das »gerech­te Urteil« des Frei­spruchs der Ange­klag­ten ver­kün­de­te, kam es in Wien zu einem hef­ti­gen Tumult, in des­sen Fol­ge der Jus­tiz­pa­last brann­te und 89 Demons­tran­ten dem Ein­grei­fen der Poli­zei zum Opfer fielen.

Canet­ti hat­te die Ereig­nis­se aus nächs­ter Nähe mit­er­lebt und wur­de selbst in den Pro­zeß der eska­lie­ren­den Mas­sen­bil­dung hin­ein­ge­ris­sen, der zu Tod und Zer­stö­rung führ­te. »Ich wur­de zu einem Teil der Mas­se, ich ging voll­kom­men in ihr auf, ich spür­te nicht den lei­ses­ten Wider­stand gegen das, was sie unter­nahm.« Das The­ma der Mas­se, das ihn schon seit frü­her Jugend beschäf­tig­te, kris­tal­li­sier­te sich nun im Trau­ma die­ses »hell-erleuch­te­ten, ent­setz­li­chen Tages«, der die empi­ri­sche Grund­la­ge für sein Haupt­werk, Mas­se und Macht, berei­te­te, das nach jahr­zehn­te­lan­ger Arbeit im Jah­re 1960 erschien und sei­nen Welt­ruhm sicher­te. »Was ich in weit aus­ein­an­der­lie­gen­den Quel­len­wer­ken such­te, her­vor­hol­te, prüf­te, her­aus­schrieb, las und wie unter Zeit­lu­pe wie­der­las, konn­te ich gegen die Erin­ne­rung an die­ses zen­tra­le Ereig­nis hal­ten, die frisch blieb, was immer auch spä­ter in grö­ße­rem Maß­stab geschah, mehr Men­schen ein­be­zog und für die Welt fol­gen­rei­cher war.«

Mas­se und Macht geriet zur ein­zig­ar­ti­gen dich­te­ri­schen Syn­the­se aus anthro­po­lo­gi­schem, mythi­schem, eth­no­lo­gi­schem, psy­cho­lo­gi­schem Mate­ri­al, die sich sowohl der Mora­lis­ten- als auch der Ent­lar­ver­po­se ent­hielt. »Mas­se« und »Macht« waren für Canet­ti bren­nen­de, schreck­li­che Rät­sel, exis­ten­ti­el­le Erschüt­te­run­gen, denen er mit dem Schild und Schwert sei­ner luzi­den Sprach­ge­walt sto­isch ent­ge­gen­trat. In der Mas­se schlug die natür­li­che Berüh­rungs­furcht des Men­schen in ihr Gegen­teil um, in eine Art Ver­schmel­zungs­won­ne, aus der eine neue, den ein­zel­nen ver­schlin­gen­de und über­stei­gen­de Enti­tät her­vor­ging, ein gefrä­ßi­ges, in stän­di­ger dyna­mi­scher Ver­wand­lung begrif­fe­nes Untier, ein raum­grei­fen­des Gebil­de, das wächst, mit­reißt, ansteckt, ver­dich­tet, pola­ri­siert, das wie ein Fluß über sei­ne Ufer tritt, zer­stört, nivel­liert, über­schwemmt und ega­li­siert, das sich auf sei­nem Höhe­punkt ent­lädt und jäh wie­der zerfällt.

Die Mas­se kann von einem Füh­rer oder Dem­ago­gen auf­ge­sta­chelt und diri­giert wer­den, aber auch eine eige­ne ziel­ge­rich­te­te Schwarm­in­tel­li­genz ent­wi­ckeln, sie kann als »Hetz­mas­se« im Pogrom, als »Flucht­mas­se« ange­sichts einer Gefahr, als »Ver­bots­mas­se« im Streik oder als »Umkeh­rungs­mas­se« in der Revo­lu­ti­on auf­tau­chen. In ihrer Urform tritt sie als »Meu­te« bei der Jagd, im Krieg und der kol­lek­ti­ven Kla­ge auf. Sie kann hand­fest real sein wie auch im rein Ima­gi­nä­ren wir­ken als reli­giö­se oder wahn­haf­te Vor­stel­lung von unsicht­ba­ren Dämo­nen­scha­ren oder den Toten­hee­ren der Ahnen. Auf der Ebe­ne der Sym­bo­le erscheint sie im Bild des Wal­des, des Korns, des San­des, als Meer oder Feuer.

Um aber das Ver­hält­nis der Mas­se zur Macht zu erfas­sen, setz­te Canet­ti an den nack­ten phy­si­schen Grund­la­gen des Mensch­seins an. Der Mensch muß ster­ben und weiß dar­um; er muß ande­re Lebe­we­sen töten und sich ein­ver­lei­ben, um sein Über­le­ben zu sichern, er weiß aber auch, daß er sich sei­ner­seits in stän­di­ger Gefahr befin­det, getö­tet und ein­ver­leibt zu wer­den. Die­ser Lage Herr zu sein, als Töter und nicht als Getö­te­ter aus ihr her­vor­zu­ge­hen, das bedeu­tet Macht, und dies ist das düs­te­re Arka­num, das den Sozie­tä­ten der Men­schen auch in ihren kom­pli­zier­tes­ten und ver­fei­nerts­ten For­men zugrun­de liegt. Canet­ti fin­det den Schat­ten die­ses Flucht­punkts in den kleins­ten Ges­ten der sozia­len Distanz und Nähe, der Unter­wer­fung und der Über­hö­hung wie­der. Selbst die Kör­per­stel­lun­gen des Men­schen, wie Sit­zen, Ste­hen, Lie­gen, Hocken und Knien, spie­geln Aspek­te der Macht- und Macht­lo­sig­keit wie­der. Jedes Mehr oder Weni­ger bedeu­tet letzt­lich ein Mehr oder Weni­ger an Leben oder Tod.

»Mas­se« und »Macht« wer­den also durch Canet­tis eigent­li­chen Haupt­feind, den Tod, mit­ein­an­der ver­bun­den, dem er sein bei­na­he 90 Jah­re wäh­ren­des Leben mit unver­söhn­li­chem Haß gegen­über­stand, Auge in Auge, unter bewuß­tem Ver­zicht auf meta­phy­si­sche Trös­tun­gen. Der plötz­li­che, uner­klär­li­che Tod sei­nes erst 31jährigen Vaters Jac­ques war die Ursze­ne und das Urtrau­ma die­ser lebens­lan­gen Beses­sen­heit. Die Autor­schaft bot die Mög­lich­keit eines heroi­schen Wider­stan­des und Pro­tes­tes durch das Wort, aber auch einer Art von Unsterb­lich­keit, die dem Über­le­ben sei­nen »Sta­chel« nahm. Denn die­ser tiefs­te Trieb des Men­schen ging immer auf Kos­ten der Toten, der ande­ren, die man hin­ter sich zurück­ließ oder die selbst getö­tet wer­den muß­ten, und kaum ein Mensch zögert, die ande­ren die­sen Preis bezah­len zu las­sen. Das Werk des Schrift­stel­lers aber, das sein zeit­li­ches Ich über­dau­ert, sei­ne Welt und ihre Men­schen den Nach­ge­bo­re­nen bewahrt, über­win­det die­ses Ver­häng­nis, ist das »genaue Gegen­bild jener Macht­ha­ber, bei deren Tod ihre Umge­bung mit­ster­ben muß, damit sie in einem jen­sei­ti­gen Dasein der Toten alles wie­der­fin­den, wor­an sie je gewöhnt waren. Durch nichts wird ihre tie­fin­ner­li­che Ohn­macht furcht­ba­rer bezeich­net. Sie töten im Leben, sie töten im Tod, ein Gefol­ge von Getö­te­ten gelei­tet sie ins Jenseits.«

Canet­tis pes­si­mis­ti­sche, ja düs­te­re Visi­on zeich­net die Mensch­heits­ge­schich­te als ein ewi­ges Schlacht­feld, auf dem ver­ängs­tig­te mensch­li­che Tie­re ihre Todes­furcht dadurch bezwin­gen, daß sie ande­re Tie­re töten. Je grö­ßer die Mas­sen sind, die sie über­le­ben, aus dem Weg räu­men, sich ein­ver­lei­ben und töten, um so fes­ter wäh­nen sie den eige­nen Tod im Zaum zu hal­ten. »Der Augen­blick des Über­le­bens ist der Augen­blick der Macht. Der Schre­cken über den Anblick des Todes löst sich in Befrie­di­gung auf, denn man selbst ist nicht der Tote. Die­ser liegt, der Über­le­ben­de steht. Es ist so, als wäre ein Kampf vor­aus­ge­gan­gen und als hät­te man den Toten selbst gefällt. Im Über­le­ben ist jeder des ande­ren Feind, an die­sem ele­men­ta­ren Tri­umph gemes­sen, ist aller Schmerz gering.« Die Ver­fü­gungs­ge­walt über Leben und Tod hat dem Men­schen immer wie­der die eksta­ti­schen Glücks- und All­machts­ge­füh­le eines Got­tes ver­schafft. Sie ist die Essenz der Macht schlecht­hin. Dar­aus folgt: »Der Tod als Dro­hung ist die Mün­ze der Macht«, am augen­fäl­ligs­ten aus­ge­drückt im mili­tä­ri­schen Befehl, der im Aus­füh­ren­den einen see­li­schen »Sta­chel« zurück­läßt, der auf sei­ne Wei­ter­rei­chung war­tet, was ver­hee­ren­de Fol­gen haben kann. Canet­ti stand der Figur des Über­le­ben­den, vor allem des soge­nann­ten »Hel­den«, mit der tiefs­ten Skep­sis, wenn nicht Ver­ach­tung gegen­über: Die­ser war für ihn letz­ten Endes nicht mehr als der sieg­rei­che Töter, weni­ger von Hero­is­mus als von Hab­gier getrie­ben. Hier­aus folg­te auch sei­ne tie­fe Abnei­gung gegen alles Mili­tä­ri­sche, Sol­da­ti­sche und Kriegerische.

Ernst Jün­ger hat­te in den Schüt­zen­grä­ben des Welt­kriegs, im »Kampf als inne­rem Erleb­nis«, die Erfah­rung die­ses unge­heu­er­li­chen und unwahr­schein­li­chen Über­le­bens gemacht, das den Men­schen an den Ran­de des Wahn­sinns und der Hybris brin­gen kann. Er ent­stieg dem mil­lio­nen­fa­chen Schlach­ten mit dem bei­nah mys­ti­schen Bewußt­sein der Unzer­stör­bar­keit des Lebens, nicht zuletzt sei­nes eigenen.

Canet­ti sah in sol­chen Epi­pha­ni­en ledig­lich einen nar­ziß­ti­schen Rausch, das infla­tio­när poten­zier­te und zu Kopf stei­gen­de Glück, das man – frei nach Aris­to­te­les – emp­fin­det, wenn der Pfeil im Krieg den Neben­mann trifft. Das sol­cher­ma­ßen über­le­bens­trun­ke­ne Ego wird aber ein böses Erwa­chen haben, wenn der Rausch nach­läßt. Der Moment des Über­le­bens kann zur Sucht wer­den, deren Befrie­di­gung ste­tig wie­der­holt und gestei­gert wer­den muß. Mas­se und Macht sucht die Essenz des »Macht­ha­bers« in beson­ders extre­men Bei­spie­len wie afri­ka­ni­schen und ori­en­ta­li­schen Des­po­ten oder in den Phan­ta­sien des berühm­ten Psy­cho­ti­kers Schre­ber, der in vie­ler­lei Hin­sicht wie ein geis­ti­ger Vor­läu­fer Hit­lers erscheint.

Der Para­noi­ker ist für Canet­ti die kon­se­quen­te Zuspit­zung des Macht­ha­bers: Er fühlt sich von Fein­den umzin­gelt, deren Zahl uner­meß­lich und uner­schöpf­lich ist, und die mit ent­spre­chen­den Metho­den bekämpft wer­den müs­sen. Hier tritt aber auch die »tie­fin­ner­li­che Ohn­macht« noch des mäch­tigs­ten Herr­schers vor dem letz­ten gro­ßen unsicht­ba­ren Geg­ner, dem Tod, zuta­ge. Von Pas­cal stammt das Bild des Königs, den die Betrach­tung sei­ner Königs­wür­de nicht über das mensch­li­che Unglück und die Hin­fäl­lig­keit des Daseins hin­weg­trös­ten kann; am Ende bedarf er der lächer­lichs­ten Zer­streu­ung wie jeder ande­re Mensch auch.

Canet­ti bringt ein noch ein­drück­li­che­res Bild. Er zitiert den Bericht des mit­tel­al­ter­li­chen ara­bi­schen Rei­sen­den Ibn Batu­ta über Muham­mad Tugh­lak, den Sul­tan von Delhi: Als die­ser eines Tages anony­me Schmäh­brie­fe erhielt, die nachts über die Palast­mau­ern gewor­fen wur­den, beschloß er, ganz »Delhi in Trüm­mer zu legen, und nach­dem er allen Ein­woh­nern ihre Häu­ser und Wohn­stät­ten abge­kauft und den vol­len Preis dafür gezahlt hat­te, befahl er ihnen, nach Dal­au­ta­bad zu zie­hen, das er als sei­ne Haupt­stadt ein­rich­ten woll­te.« Als sich die Bewoh­ner wei­ger­ten, ließ er an einem Krüp­pel und einem Blin­den ein Exem­pel sta­tu­ie­ren: Der eine wur­de mit einem Kata­pult über die Stadt­mau­ern geschos­sen, der ande­re nach Dal­au­ta­bad geschleift, bis nach vier­zig Tagen Rei­se nur sein Bein übrig­blieb. Nun ver­lie­ßen die Ein­woh­ner flucht­ar­tig die Stadt. »So voll­kom­men war die Zer­stö­rung, daß nicht eine Kat­ze, nicht ein Hund in den Gebäu­den der Stadt, in den Paläs­ten oder Vor­or­ten zurück­blieb.« Der Sul­tan aber stieg auf das Dach sei­nes Palas­tes und blick­te über das men­schen­lee­re und ver­öde­te Delhi, »wo kein Feu­er, kein Rauch, kein Licht zu sehen war«, und sag­te: »Jetzt ist mein Herz ruhig und mein Zorn beschwichtigt.«

Mas­se und Macht ist voll mit grau­sig-absur­den Poin­ten die­ser Art. Canet­ti mach­te jedoch unmiß­ver­ständ­lich deut­lich, daß all dies nicht bloß Neger­kö­ni­ge und Geis­tes­kran­ke betraf, son­dern auf Dis­po­si­tio­nen ver­wies, die auch im ver­meint­lich zivi­li­sier­ten Men­schen der Moder­ne latent schlum­mern und jeder­zeit auf furcht­ba­re Wei­se aus­bre­chen kön­nen. Es war nicht nötig, all­zu­viel Wor­te über die noch frisch ins Gedächt­nis gebrann­ten Schre­cken der tota­li­tä­ren Dik­ta­tu­ren mit ihren kol­lek­ti­ven Hys­te­rien und Hexen­jag­den, ihren Krie­gen und Ver­nich­tungs­la­gern zu ver­lie­ren: Auch sie waren im Grun­de nichts Neu­es unter der Son­ne, son­dern nur beson­ders ent­setz­li­che, vom tech­ni­schen Zeit­al­ter gestei­ger­te Aus­wüch­se der in ihrer Tie­fe unver­än­der­li­chen, prä­his­to­ri­schen See­le des Men­schen. Die Lek­tü­re von Mas­se und Macht gleicht einem Käl­te­schock, der den Leser zwingt, sei­ne eige­ne Stel­lung in der Welt, ja sei­nen eige­nen Lebens­sinn von Grund auf neu zu überdenken.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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