Machterhalt – Einsichtselite nach dem letzten Krieg

48pdf der Druckfassung aus Sezession 48 / Juni 2012

von Thorsten Hinz

Nach 1945 waren die Siegermächte bestrebt, ihrem Sieg über Deutschland Dauer zu verleihen, indem sie ihnen ergebene Eliten installierten oder erst heranzogen. In der sowjetischen Besatzungszone/DDR geschah das brutal und umstandslos: Zeitgleich mit der Roten Armee traf in Berlin die »Gruppe Ulbricht« ein, kommunistische Exilanten, die in der Sowjet­union überlebt hatten und nun energisch die Macht ergriffen. In der BRD bildete sich eine prowestliche, proamerikanische Elite heraus, die insbesondere durch die politische Bildung, transatlantischen Akademikeraustausch und Netzwerke geformt wurde.

Bei nähe­rer Betrach­tung stellt man eine merk­wür­di­ge Dia­lek­tik fest: Der Eli­ten­wech­sel war des­we­gen so erfolg­reich und durch­schla­gend, weil Ange­hö­ri­ge der alten Eli­ten aktiv an ihm teil­hat­ten und bereit waren, sich anzupassen.

Ein frü­her Ort der Eli­ten­trans­for­ma­ti­on war der Gerichts­saal im Nürn­ber­ger Jus­tiz­pa­last, wo vom Novem­ber 1947 bis zum April 1949 der Wil­helm­stra­ßen­pro­zeß über die Büh­ne ging. Er war der elf­te von zwölf Nach­fol­ge­pro­zes­sen, die sich dem Ver­fah­ren gegen die soge­nann­ten Haupt­kriegs­ver­bre­cher 1945/46 anschlos­sen. Auf der Ankla­ge­bank saßen 21 Ange­hö­ri­ge der Minis­te­ri­al­bü­ro­kra­tie, dar­un­ter acht aus dem Aus­wär­ti­gen Amt. Der pro­mi­nen­tes­te war Ernst von Weiz­sä­cker, so daß die Ankla­ge lau­te­te: »Die Ver­ei­nig­ten Staa­ten gegen Ernst von Weiz­sä­cker und ande­re«. Die Ankla­ge­punk­te waren: Ver­bre­chen gegen den Frie­den, Teil­nah­me an einer ver­bre­che­ri­schen Ver­schwö­rung, Ermor­dung und Miß­hand­lung von Ange­hö­ri­gen der krieg­füh­ren­den Mäch­te, Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit vor und im Krieg, Raub und Plün­de­rung in besetz­ten Gebie­ten, Sklavenarbeit/Deportation zu Zwangs­ar­beit und Mit­glied­schaft in ver­bre­che­ri­schen Organisationen.

Ernst von Weiz­sä­cker war von 1938 bis 1943 Staats­se­kre­tär im Aus­wär­ti­gen Amt, auf ihn fokus­sier­te sich das Inter­es­se. Er ent­stamm­te einer alten Gelehr­ten- und Beam­ten­fa­mi­lie, sein Vater war bis 1918 Minis­ter­prä­si­dent von Würt­tem­berg gewe­sen. 1916 hat­te der würt­tem­ber­gi­sche König die Fami­lie in den Erb­adel erho­ben, durch Hei­rat war sie längst auch mit dem Uradel ver­bun­den. Ernst von Weiz­sä­cker, damals deut­scher Gesand­ter in Oslo, ent­schied sich 1933, im diplo­ma­ti­schen Dienst zu ver­blei­ben. Vor Gericht stand er nicht nur für sich selbst, son­dern stell­ver­tre­tend für eine gan­ze Schicht. Er wur­de zunächst zu sie­ben, dann zu fünf Jah­ren Gefäng­nis ver­ur­teilt. Zum Ver­häng­nis wur­de ihm ein Doku­ment, in dem er bekun­de­te, »kei­ne Ein­wän­de« gegen die Depor­ta­ti­on von Juden aus Frank­reich nach Ausch­witz zu erhe­ben. Aller­dings räum­ten die Rich­ter ein, daß er kei­ner­lei Ent­schei­dungs­kom­pe­tenz beses­sen habe.

Die Stra­te­gie der Ver­tei­di­gung bestand dar­in, sei­nen Ver­bleib im Amt als Wider­stand zu dekla­rie­ren. Etwas ande­res blieb ihr auch nicht übrig. Alle Ver­su­che, deut­sche Kriegs­hand­lun­gen mit denen der Kriegs­geg­ner in Ver­bin­dung zu brin­gen, wur­den vom Gericht mit dem Hin­weis zurück­ge­wie­sen, mit dem deut­schen Angriff auf Polen 1939 sei­en die Alli­ier­ten zur Not­wehr befugt gewe­sen, gegen die Deutsch­land logi­scher­wei­se kein Not­wehr­recht gel­tend machen kön­ne. Um sich aus dem Klam­mer­griff der Kriegs­ver­bre­cher-Zuschrei­bung zu lösen, muß­ten die Ange­klag­ten nach­wei­sen, sel­ber Wider­stand gegen die Poli­tik Hit­lers geleis­tet zu haben. Damit ver­bun­den war ein mora­li­scher, gesell­schaft­li­cher und poli­ti­scher Gewinn: Zum einen behaup­te­te man den unge­bro­che­nen Eli­te-Sta­tus. Ande­rer­seits emp­fahl man sich den west­li­chen Teil­neh­mern der Anti-Hit­ler-Koali­ti­on als künf­ti­ge Partner.

An der Ver­tei­di­gung Ernst von Weiz­sä­ckers waren drei Per­so­nen betei­ligt, die spä­ter in der Bun­des­re­pu­blik eine wich­ti­ge Rol­le spie­len soll­ten: Mari­on Grä­fin Dön­hoff (1909–2002) enga­gier­te sich in der Wochen­zei­tung Die Zeit für Ernst von Weiz­sä­cker und ver­such­te, eine Ände­rung des Urteils »durch eine ent­spre­chen­de Kom­men­tie­rung gera­de­zu her­bei­zu­schrei­ben« (Nor­bert Frei). Sie stieg bald zur ein­fluß­reichs­ten Jour­na­lis­tin der Bun­des­re­pu­blik auf. Der Haupt­ver­tei­di­ger Hell­mut Becker (1913–1993) wur­de als »Bil­dungs-Becker« bekannt und wirk­te durch sei­ne Schlüs­sel­stel­lung in der poli­ti­schen Bil­dung füh­rend an der Eli­ten­trans­for­ma­ti­on mit. Sein Name geriet kürz­lich wie­der in die Zei­tungs­spal­ten anläß­lich des Miß­brauchs­skan­dals an der Oden­wald-Schu­le, einer Pflanz­stät­te der Reform­päd­ago­gik, die er pro­te­giert hat­te. Als Hilfs­ver­tei­di­ger agier­te Richard von Weiz­sä­cker (gebo­ren 1920), der Sohn des Staats­se­kre­tärs und spä­te­re Bun­des­prä­si­dent, der 1985 mit sei­ner Rede zum 8. Mai eine nach­hal­ti­ge Wir­kung erzie­len soll­te. Was Richard von Weiz­sä­cker dabei als Schuld­vor­wurf an die Deut­schen vor­brach­te, war im wesent­li­chen schon 1949 zur Ver­tei­di­gung sei­nes Vaters for­mu­liert wor­den. Beson­de­res Auf­se­hen erreg­te der Satz: »Wer sei­ne Ohren und Augen auf­mach­te, wer sich infor­mie­ren woll­te, dem konn­te nicht ent­ge­hen, daß Depor­ta­ti­ons­zü­ge rollten.«

Als kon­tras­tie­ren­de Außen­sei­te­rin sei die Jour­na­lis­tin Mar­gret Boveri (1900–1975) genannt, die sich in den drei­ßi­ger und vier­zi­ger Jah­ren als Aus­lands­kor­re­spon­den­tin einen Namen gemacht hat­te. Ihre Bericht­erstat­tung über den Pro­zeß faß­te sie in der Bro­schü­re Der Diplo­mat vor Gericht zusam­men. Über­zeugt davon, »daß hier ein Unschul­di­ger ange­klagt sei«, hielt sie sich bei der Fra­ge, ob Weiz­sä­cker dem Wider­stand ange­hört hat­te oder nicht, gar nicht erst auf, son­dern ver­warf das Ver­fah­ren als Gan­zes. Die Idee, in einem von den Sie­gern ange­streng­ten Straf­pro­zeß die Wahr­heit zu ermit­teln und über Schuld oder Unschuld von Diplo­ma­ten des besieg­ten Lan­des zu befin­den, hielt sie für den Aus­fluß der­sel­ben poli­ti­schen und recht­li­chen Anar­chie, die den Ange­klag­ten vor­ge­wor­fen wur­de, »denn im Kon­flikt­fall hat es noch in allen Gegen­war­ten eine Zeit­lang so aus­ge­se­hen, als sei auf der einen Sei­te nur Recht, auf der ande­ren Sei­te nur Unrecht, und vor der his­to­ri­schen Betrach­tung hat sich meist erwie­sen, daß Recht und Unrecht, Tor­heit und Intel­li­genz, Ver­lo­gen­heit und guter Wil­le auf bei­den Sei­ten ver­teilt waren.« Das war nicht nur ein ver­klau­su­lier­tes Plä­doy­er gegen die Allein­schuld­the­se, son­dern auch für die Wie­der­her­stel­lung der Gleich­be­rech­ti­gung Deutsch­lands, die ihm mit der Begrün­dung sei­ner Allein­schuld am Krieg vor­ent­hal­ten wur­de. Aus die­ser Über­zeu­gung her­aus lehn­te sie auch die Kon­sti­tu­ie­rung des west­deut­schen Sepa­rat­staa­tes ab, weil er die Tei­lung und Ent­mün­di­gung Deutsch­lands dau­er­haft zu machen droh­te. Damit soll­te sie poli­tisch und beruf­lich bald ins Abseits geraten.

Im Unter­schied zu ihr, stell­te Mari­on Grä­fin Dön­hoff das Prin­zip der Sie­ger­jus­tiz nicht in Fra­ge. Sie monier­te ledig­lich, daß die Alli­ier­ten die Fal­schen anklag­ten: »Wir sind es satt mit­an­zu­se­hen, daß Män­ner wie Weiz­sä­cker und ande­re … von alli­ier­ten Gerich­ten ver­ur­teilt wer­den, wäh­rend Figu­ren wie der obers­te Poli­zei­chef und SS-Füh­rer von Ost­preu­ßen … frei her­um­lau­fen.« Sie aner­kann­te die (West-)Alliierten nicht nur als unhin­ter­geh­ba­re poli­ti­sche Macht, son­dern auch als Quel­le geis­tig-mora­li­scher Legi­ti­ma­ti­on. Das war wohl­über­legt. Im Janu­ar 1945 war sie vor der her­an­rü­cken­den Front von ihren Besit­zun­gen in Ost­preu­ßen geflüch­tet. In West­deutsch­land ange­kom­men, arbei­te­te sie ein poli­ti­sches Mani­fest aus, in dem sie kei­nen Zwei­fel dar­an ließ, daß sie sich beru­fen fühl­te, in füh­ren­der Posi­ti­on am Neu­auf­bau Deutsch­lands teilzunehmen.

Zunächst ein­mal iden­ti­fi­zier­te sie sich mit dem Ziel der Alli­ier­ten, den Nazis­mus aus­zu­rot­ten. Es müs­se aber auch dar­um gehen, die Ideo­lo­gie­spu­ren im Gemüt eines von Natur aus auto­ri­täts­hö­ri­gen, unpo­li­ti­schen und gut­gläu­bi­gen Vol­kes zu besei­ti­gen. Die Deut­schen sei­en heu­te »eine demo­ra­li­sier­te, zur Unter­schei­dung von Gut und Böse nicht mehr fähi­ge Mas­se«. Ihnen müs­se die Ein­sicht ver­mit­telt wer­den, daß »die bes­ten ihrer Lands­leu­te schon lan­ge einen heroi­schen, doch erfolg­lo­sen Kampf gegen den Irr­glau­ben und sei­ne Kün­der« geführt hät­ten. Dabei dach­te sie an die Ver­schwö­rer des 20. Juli, die Mili­tärs und den land­be­sit­zen­den Adel. Aus deren Geist soll­te eine Erneue­rung Deutsch­lands erfol­gen. Das auf eng­lisch ver­faß­te Papier über­gab sie einem Assis­ten­ten des bri­ti­schen Luft­mar­schalls Cun­nig­ham. Am 17. Mai 1945 wünsch­te auch ein Ver­tre­ter des ame­ri­ka­ni­schen Geheim­diens­tes CIC die Grä­fin zu spre­chen. Fak­tisch hat­te sie ihnen emp­foh­len, sich mit ihr und den Stan­des­ge­nos­sen die Vor­mund­schaft über die Deut­schen zum Zweck ihrer effek­ti­ven Läu­te­rung zu tei­len. War die Hit­ler-Dik­ta­tur nicht über­haupt die Ange­le­gen­heit des Pöbels gewesen?

Weiz­sä­cker-Ver­tei­di­ger Hell­mut Becker war der Sohn des frü­he­ren preu­ßi­schen Kul­tus­mi­nis­ters Carl Hein­rich (C.H.) Becker, der sich in der Wei­ma­rer Repu­blik als Bil­dungs­po­li­ti­ker einen Namen gemacht und die Preu­ßi­sche Aka­de­mie für Dich­tung ins Leben geru­fen hat­te. Er hat­te neue Fächer wie die Sozio­lo­gie geför­dert, ande­rer­seits stand er unter dem Ein­druck Ste­fan Geor­ges und sorg­te dafür, daß Ange­hö­ri­ge des Geor­ge-Krei­ses an den preu­ßi­schen Uni­ver­si­tä­ten zu Ordi­na­ri­en ernannt wur­den. Hell­mut Becker (ein NSDAP-Mit­glied, wie nach Jahr­zehn­ten bekannt wur­de) ging nach einer schwe­ren Kriegs­ver­wun­dung an die Reichs­uni­ver­si­tät Straß­burg zu sei­nem Leh­rer, dem natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Staats­recht­ler Ernst Rudolf Huber. Er wohn­te bei dem Atom­phy­si­ker Carl Fried­rich von Weiz­sä­cker, Richards Bru­der, der spä­ter der Pate sei­nes ers­ten Soh­nes wurde.

Hell­mut Becker dach­te über die Vor­aus­set­zun­gen des Pro­zes­ses ähn­lich wie Mar­gret Boveri. In sei­nem Schluß­plä­doy­er gibt es dazu etli­che Anspie­lun­gen. Deut­li­cher wur­de er in dem Auf­satz »Gericht der Poli­tik«, den er nach Abschluß des Ver­fah­rens publi­zier­te. Hier zitier­te er den ame­ri­ka­ni­schen Haupt­an­klä­ger, Tel­ford Tay­lor, der zuge­ge­ben hat­te: »Die Pro­zes­se haben einen wesent­li­chen Bestand­teil der ame­ri­ka­ni­schen Außen­po­li­tik gebil­det und einen wich­ti­gen Aus­schnitt der Beset­zung Deutsch­lands.« Die Jus­tiz, so Becker, sei zum »poli­ti­schen Unter­neh­men«, das Recht zur »Mas­ke der ver­schie­den­ar­tigs­ten poli­ti­schen Nöte und Wün­sche, For­de­run­gen und Tak­ti­ken« gewor­den. Becker behielt dabei die inter­na­tio­na­len Macht­ver­hält­nis­se im Blick. Die Deut­schen, mahn­te er, dürf­ten nicht ver­su­chen, mit ihrer Kri­tik den Ein­druck zu erwe­cken, den Krieg nun auf ande­rer Ebe­ne fort­set­zen zu wol­len. Sie soll­ten den Alli­ier­ten nur das Mate­ri­al zur Ver­fü­gung stel­len, um das Nach­den­ken, das bei ihnen ein­ge­setzt habe, zu fördern.

Becker wand­te sich bald dar­auf der Bil­dungs­po­li­tik zu, mach­te sich den Ent­schei­dungs­trä­gern unent­behr­lich, bil­de­te Netz­wer­ke und übte sel­ber Macht aus. Er saß in den Bei­rä­ten des Insti­tuts für Zeit­ge­schich­te in Mün­chen, für Inne­re Füh­rung der Bun­des­wehr sowie im Kul­tur­bei­rat des Aus­wär­ti­gen Amtes. Beson­ders eng waren sei­ne Ver­bin­dun­gen zum Insti­tut für Sozi­al­for­schung (IfS) in Frank­furt am Main, das sein Vater bereits geför­dert hat­te und des­sen füh­ren­den Köp­fe jetzt aus dem ame­ri­ka­ni­schen Exil zurück­kehr­ten. Zeit­wei­lig unter­hielt er dort ein eige­nes Büro. Er ver­han­del­te für das IfS mit den staat­li­chen Stel­len und bean­trag­te die deut­sche Staats­bür­ger­schaft für Max Horck­hei­mer. 1953 bereits hat­te er Theo­dor W. Ador­no die Teil­nah­me an einer Tagung der Leh­reraka­de­mie in Calw ver­mit­telt. Im Jahr dar­auf publi­zier­te er den Auf­satz »Die ver­wal­te­te Schu­le«, der das reform­be­dürf­ti­ge Bil­dungs­we­sen in Ana­lo­gie zu Ador­nos »ver­wal­te­ter Welt« setz­te. Ohne ein Anhän­ger der Kri­ti­schen Theo­rie zu sein, wur­de er einer ihrer Weg­be­rei­ter. Die poli­ti­sche Bil­dung war für ihn das Mit­tel, den über­kom­me­nen Eli­te- und Herr­schafts­an­spruch zu behaupten.

Der Buch­aus­ga­be sei­ner bil­dungs­po­li­ti­schen Auf­sät­ze stell­te er drei Tex­te zum Wil­helm­stra­ßen­pro­zeß vor­an und for­mu­lier­te im Vor­wort unmiß­ver­ständ­lich: »Qua­li­tät ist nicht belie­big quan­ti­fi­zier­bar. Qua­li­tät auf eine Mas­se bezo­gen, muß ihrem Wesen nach anders aus­se­hen als die Qua­li­tät einer klei­nen Schicht.« Die Span­nung zwi­schen Eli­te und Mas­se, zwi­schen »Quan­ti­tät und Qua­li­tät bestimmt auch Poli­tik im enge­ren Sin­ne«. Die poli­ti­sche Bil­dung ent­schei­de über die »Quan­ti­tät und Qua­li­tät in der Innen­po­li­tik der moder­nen Demo­kra­tie«, die »poli­ti­sche Bil­dung aller ver­bin­det sich mit der poli­ti­schen Bil­dung der Min­der­hei­ten«. Mit Ernst von Weiz­sä­cker sei »ein Mann dar­ge­stellt, der ver­sucht hat, mit der Ver­nunft einer Ein­zel­per­son gegen den Ter­ror einer Mas­sen­be­we­gung anzuleben«.

Im Plä­doy­er ste­hen Sät­ze, die Richard von Weiz­sä­cker 36 Jah­re spä­ter auf­griff: »Heu­te kön­nen wir nach­wei­sen, daß Züge mit die­sen Juden schon roll­ten, als die Doku­men­te, auf die die Ankla­ge sich stützt, erst Herrn von Weiz­sä­ckers Schreib­tisch pas­sier­ten.« Ins Rol­len gebracht hat­te sie offen­bar die »Tyran­nei der Mas­sen­herr­schaft«, die sich aus der Obhut der Eli­te, der Ernst von Weiz­sä­cker ange­hör­te, selbst ent­las­sen hat­te. Es kam einer kol­lek­ti­ven Schuld­zu­wei­sung nahe, wenn Becker den ange­klag­ten Staats­se­kre­tär unter­schied von denen, die, »aus Schwä­che, in Hit­lers Staat von Stu­fe zu Stu­fe sich mit­füh­ren lie­ßen, bis sie ganz all­mäh­lich selbst auf der Stu­fe stan­den, die die Bezeich­nung Ver­bre­chen trägt, die ihre Augen ver­schlos­sen hiel­ten gegen­über dem Ziel die­ses Wegs und die es bis heu­te nicht ein­se­hen kön­nen oder wol­len«. Wenn Kri­ti­ker Richard von Weiz­sä­cker vor­war­fen, die im Pro­zeß behaup­te­te Schuld­lo­sig­keit des Vaters – an der er bis heu­te fest­hält – und die Schuld­zu­wei­sung an die All­ge­mein­heit stün­den im Wider­spruch zuein­an­der, so täusch­ten sie sich. Es han­delt sich für ihn um die bei­den Sei­ten der­sel­ben Medaille.

Man könn­te für die Prot­ago­nis­ten die­ser Kunst – sich von den vie­len abzu­set­zen und als mora­li­sche Instanz zu posi­tio­nie­ren – den Begriff »Ein­sicht­se­li­te« ein­füh­ren, wobei die Ein­sicht zwi­schen ech­ter Über­zeu­gung und poli­ti­schem Kal­kül ihren indif­fe­ren­ten Ort besä­ße: Die­se »Ein­sicht­se­li­te« bestä­tig­te die grund­sätz­li­che Rich­tig­keit der alli­ier­ten Stand­punk­te, for­mu­lier­te die deut­sche Schuld und emp­fahl sich so dafür, die Macht rück­über­tra­gen zu bekom­men – in den gege­be­nen Gren­zen. Die poli­ti­schen Tes­ta­ments­voll­stre­cker Ernst von Weiz­sä­ckers waren dazu um so mehr berech­tigt, als sein Schul­dig­wer­den einen unbe­dank­ten Opfer­gang für die Mas­se der Unein­sich­ti­gen, Infe­rio­ren, sogar der Schul­di­gen darstellte.

Richard von Weiz­sä­cker aber erleb­te zunächst eine gro­ße Ent­täu­schung: Sein Wunsch, nach Abschluß des Jura­stu­di­ums in den diplo­ma­ti­schen Dienst ein­zu­tre­ten, wur­de trotz her­vor­ra­gen­der Vor­aus­set­zun­gen abschlä­gig beschie­den; Ade­nau­er fürch­te­te, der Name Weiz­sä­cker wür­de das Aus­wär­ti­ge Amt ins Zwie­licht set­zen. Er ging in die Pri­vat­wirt­schaft, ohne dar­in Erfül­lung zu fin­den. Ersatz­wei­se betä­tig­te er sich in der evan­ge­li­schen Lai­en­be­we­gung, bis Hel­mut Kohl ihn 1966 in die Poli­tik hol­te. Mari­on Grä­fin Dön­hoff bot ihm – neben Hell­mut Becker und Bru­der Carl Fried­rich – in der Zeit eine Platt­form, um sich bekannt zu machen. Früh favo­ri­sier­te sie ihn als Bun­des­prä­si­den­ten. Sie alle blie­ben Freun­de bis zum Schluß.

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