90. Geburtstag Reinhart Koselleck

(Text aus dem Band Vordenker des Staatspolitischen Handbuchs, Schnellroda 2012.)

von Harald Seubert

Koselleck meldete sich 1941 freiwillig zur Wehrmacht. Im Oktober 1945 kehrte er aus der Kriegsgefangenschaft in Kasachstan zurück.

Er stu­dier­te Geschich­te, Phi­lo­so­phie, Staats­recht und Sozio­lo­gie in Hei­del­berg und Bris­tol. Prä­gen­de Leh­rer waren durch indi­rek­te Begeg­nung Heid­eg­ger und Carl Schmitt, sowie im aka­de­mi­schen Sinn Karl Löwi­th, Hans-Georg Gada­mer, Wer­ner Con­ze, Vik­tor von Weiz­sä­cker und Ernst Forsthoff.

Die Dis­ser­ta­ti­on Kri­tik und Kri­se. Eine Stu­die zur Patho­ge­ne­se der bür­ger­li­chen Welt (1954) ver­dankt wesent­li­che ihrer Impul­se dem Gespräch mit Schmitt. Koselleck zeigt in einem Bogen­schlag von den reli­giö­sen Bür­ger­krie­gen bis zur Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on, daß das Zeit­al­ter der Kri­tik zugleich von einer tie­fen Kri­se geprägt wird. Der Uto­pis­mus jener Jah­re wird in sei­ner Kom­ple­xi­tät sicht­bar, in einem hel­le­ren Licht als jenem, das der Epo­che des Lich­tes selbst zu Gebo­te stand, wobei ins­be­son­de­re die Gene­se des Uto­pis­mus selbst als Ursze­ne der poli­ti­schen Kri­se der Gegen­wart sicht­bar wird. Mit die­sem unge­wöhn­lich glän­zen­den Debüt war es Koselleck gelun­gen, sich jen­seits aller spe­zi­fi­schen Schu­len der his­to­ri­schen Wis­sen­schaft zu posi­tio­nie­ren und Auf­klä­rung nicht eo ipso als nor­ma­tiv zu ver­ste­hen: nicht frei­lich im glo­ba­len Auf­weis einer »Dia­lek­tik der Auf­klä­rung«, son­dern in der mikro­lo­gi­schen Aus­lo­tung des Den­kens von Locke, Dide­rot, Rous­se­au und der Freimaurer-Ideologie.

Sta­tio­nen als Lec­tu­rer in Bris­tol, Eng­land (1954–1956) und als Assis­tent am Hei­del­ber­ger His­to­ri­schen Semi­nar schlos­sen sich an, von 1960 bis 1965 war er Mit­ar­bei­ter im »Arbeits­kreis für Moder­ne Sozi­al­ge­schich­te« in Hei­del­berg, den er in den acht­zi­ger Jah­ren lei­ten soll­te, und, seit 1963, Mit­glied der hoch­re­nom­mier­ten For­schungs­grup­pe »Poe­tik und Hermeneutik«.

Sei­ne Habi­li­ta­ti­ons­schrift ist die gro­ße Mono­gra­phie über Preu­ßen zwi­schen Reform und Revo­lu­ti­on (1967). 1966 wur­de Koselleck Ordi­na­ri­us in Bochum, 1968 in Hei­del­berg und 1973 nahm er einen Ruf an die neu­ge­grün­de­te Bie­le­fel­der Uni­ver­si­tät an, an deren Auf­bau er bereits zuvor ent­schie­den Anteil genom­men hat­te und der er bis zu sei­ner Eme­ri­tie­rung treu bleib.

Kosellecks Ruf grün­det nicht zuletzt auf sei­nen begriffs­ge­schicht­li­chen Stu­di­en. In den sieb­zi­ger Jah­ren gab er gemein­sam mit Wer­ner Con­ze und Otto Brun­ner das Lexi­kon Geschicht­li­che Grund­be­grif­fe her­aus (8 Bde.) – ein Par­al­lel­un­ter­neh­men zu Joa­chim Rit­ters His­to­ri­schem Wör­ter­buch der Phi­lo­so­phie. In Begrif­fen mani­fes­tiert sich Koselleck zufol­ge der Wan­del der Wirk­lich­keits­er­fah­rung, wobei sich in den Jah­ren zwi­schen 1750 und 1850 nach Kosellecks Beob­ach­tung beson­ders tief­grei­fen­de Ver­än­de­run­gen erge­ben. Er spricht des­halb von jener Epo­che als der Sat­tel- bzw. Schwel­len­zeit. Die Begriffs­prä­gun­gen, die aus ihr her­rüh­ren, sei­en bis heu­te im wesent­li­chen verständlich.

Auch dem Zeit­sinn in der Geschich­te, der Unter­schei­dung zwi­schen Epo­chen der Beschleu­ni­gung und der Ver­lang­sa­mung, hat Koselleck ein­dring­li­che Stu­di­en gewid­met. In den spä­te­ren Jah­ren galt sein Augen­merk der Gedächt­nis­kul­tur, ins­be­son­de­re dem Natio­nal­denk­mal. Die Aus­lo­tung von Begrif­fen bis in das Extrem der äußers­ten Unter­schei­dung bleibt ein Erbe Carl Schmitts, das sich bei Koselleck aber sel­ten direkt poli­tisch, son­dern zumeist sub­ku­tan äußerte.

 

Schrif­ten: Kri­tik und Kri­se. Eine Stu­die zur Patho­ge­ne­se der bür­ger­li­chen Welt, Frei­burg i. Br. 1959; Preu­ßen zwi­schen Reform und Revo­lu­ti­on. All­ge­mei­nes Land­recht, Ver­wal­tung und sozia­le Bewe­gung von 1791–1858, Stutt­gart 1967; Ver­gan­ge­ne Zukunft. Zur Seman­tik geschicht­li­cher Zei­ten, Frank­furt a. M. 1979; Euro­pa im Zeit­al­ter der euro­päi­schen Revo­lu­tio­nen, Frank­furt a. M. 1982; Der poli­ti­sche Toten­kult. Krie­ger­denk­mä­ler in der Moder­ne, Mün­chen 1994; Goe­thes unzeit­ge­mä­ße Geschich­te, Hei­del­berg 1997; Zur poli­ti­schen Iko­no­lo­gie des gewalt­sa­men Todes. Ein deutsch-fran­zö­si­scher Ver­gleich, Basel 1998; Zeit­schich­ten. Stu­di­en zur His­to­rik, Frank­furt a. M. 2003; Begriffs­ge­schich­ten, Frank­furt a. M. 2006; Vom Sinn und Unsinn der Geschich­te. Auf­sät­ze und Vor­trä­ge aus vier Jahr­zehn­ten, hrsg. v. Cars­ten Dutt, Frank­furt a. M. 2010.

Lite­ra­tur: Ute Dani­el: Rein­hart Koselleck, in: Lutz Rapha­el (Hrsg.): Klas­si­ker der Geschichts­wis­sen­schaft, Bd. 2, Mün­chen 2006; Wil­li­bald Stein­metz: Nach­ruf auf Rein­hart Koselleck, in: Geschich­te und Gesell­schaft 32 (2006); Ste­fan Wein­fur­ter (Hrsg.): Rein­hart Koselleck. Reden zum 50. Jah­res­tag sei­ner Pro­mo­ti­on in Hei­del­berg, Hei­del­berg 2006.

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