F 5

von Heino Bosselmann

Durch meine Kindheit und Jugend verlief eine Straße, die mehr als andere Deutschland trennte und vereinte –...

die Bun­des­stra­ße 5, damals die Fern­ver­kehrs­stra­ße 5 der DDR. In einer Rich­tung, nord­west­lich, Ham­burg, in der ande­ren, süd­öst­lich, Berlin.

Das eine uner­reich­bar, das ande­re fremd. In der Mit­te mei­ne sprö­de Hei­mat, die Pri­g­nitz, wo nie­mand ange­hal­ten hät­te, wür­de sich dort nicht die ein­zi­ge Rast­stät­te für West-Tran­sit­rei­sen­de befun­den haben.

Mit „Inter­shop“. In Quit­zow, einem Dörf­chen, das sei­nen Namen vom berühm­tes­ten, also berüch­tigts­ten Raub­rit­ter­ge­schlecht Bran­den­burgs hat, von Theo­dor Fon­ta­ne im Band „Fünf Schlös­ser“ der „Wan­de­run­gen durch die Mark Bran­den­burg“ beschrieben.

Mein Vater war direkt an die­ser Stra­ße als Land­ar­bei­ter­kind auf­ge­wach­sen, in Glöv­zin. Er hat­te als Zehn­jäh­ri­ger 1945 zunächst erlebt, wie ame­ri­ka­ni­sche Tief­flie­ger über der „Ber­lin-Ham­bur­ger“ dahin­jag­ten und die lang­sa­me, nicht abrei­ßen­de Pro­zes­si­on nach Wes­ten zie­hen­der Flücht­lings­trecks wie nach Lust und Lau­ne in einem furcht­ba­ren Spiel beschossen.

Als die Rote Armee erwar­tet wur­de, saß er mit einem Dut­zend Leu­ten, die plötz­lich ver­stummt schie­nen, in einem Bun­ker, wie man nur so sag­te, denn viel­mehr war’s eine eilig im Hof aus­ge­ho­be­ne Gru­be, deren Boden mit Kof­fern voll Haus­rat aus­ge­legt war, auf denen schließ­lich alle ein­ge­zwängt und ver­krümmt kau­er­ten, ver­zag­te Mensch­lein mit ihren über Gene­ra­tio­nen wei­ter­ge­ge­be­nen Hab­se­lig­kei­ten, lei­se atmend, aber mit furcht­sa­mem Herz­schlag und kalt­feuch­ten inein­an­der­ge­krall­ten Hand­flä­chen eine wer­den­de Groß­macht erwar­tend, die ihnen allen wahr­schein­lich den Gar­aus machen wür­de. So nah­men sie es vor­beu­gend an.

Arme Ver­lie­rer in einem küm­mer­li­chen Rat­ten­nest. Den Tod auf ihrem biß­chen brü­chi­gen Besitz erwar­tend. Wo sonst? Nach oben war das Loch nur mit dün­nem Well­blech abge­deckt. Drau­ßen hör­te man den Früh­lings­ruf der Mei­sen und das hohe Zir­pen der vor­bei­flie­gen­den ers­ten Schwal­ben in die­sem Jahr. So über­sicht­lich und ein­fach sah das Ende aus, das Ende des Rei­ches also und viel­leicht gleich über­haupt das Ende von allem. Mein Vater hör­te, wie jemand ein Gebet mur­mel­te, was im pro­tes­tan­ti­schen Glöv­zin bis­her sel­ten zu hören war, am hel­lich­ten Tag schon gar nicht.

Am 2. Mai war die Rote Armee da. Zunächst weder mit Pan­zern noch auf Last­wa­gen, son­dern auf­tau­chend in einer rie­si­gen Her­de von Pfer­den, die von den Sol­da­ten schon auf den ande­ren mär­ki­schen Dör­fern und ein­fach vom Wei­de­land her­un­ter zusam­men­ge­trie­ben waren. Eine Wol­ke von damp­fen­den, stamp­fen­den Pfer­de­lei­bern, ein Step­pen­er­eig­nis, das die­se frem­den Men­schen mit ihren oliv­grü­nen Uni­for­men her­an­weh­te. Das klei­ne Dorf wim­mel­te plötz­lich von Pfer­den, die wie her­ren­los her­um­lie­fen, aber den weni­gen Leit­tie­ren folg­ten, die berit­ten waren. So stell­te man sich eine Kosa­ken­ak­ti­on am Don oder Dne­pr vor, weni­ger einen Krieg.

Nach den Kohl- und Kas­cha­mahl­zei­ten der Feld­kü­chen floß der Wod­ka, die Zieh­har­mo­ni­kas began­nen zu spie­len, und unter ihren Klän­gen wur­den die Frau­en gejagt, die sich aus den Ver­ste­cken gewagt hat­ten, um, ges­tern noch Her­rin­nen über Scheu­er und Faß, sich mit ver­schränk­ten Armen vor ihren Besitz zu stel­len. Am Abend des Sie­ges über Glöv­zin waren nicht weni­ge von ihnen geschän­det und die Män­ner und Wohn­zim­mer ohne Uhren. Nichts tick­te mehr, das War­ten hat­te ein Ende. Man war ange­kom­men im ers­ten Jahr danach. Obwohl nie­mand wuß­te, wohin sie einen tra­gen wür­de, ver­ging sie wie­der, die Zeit, denn die Zeit brauch­te gar kei­ne Uhren.

Jah­re spä­ter: Wäh­rend der Tran­sit­ver­kehr im Süden über Auto­bah­nen ver­lief, war die F 5 die ein­zi­ge Tran­sit-Land­stra­ße und ver­band den west­li­chen Grenz­über­gang Heer­stra­ße in Ber­lin-Staa­ken mit dem west­li­chen Horst/Lauenburg. Wir waren dort mit dem Fahr­rad unter­wegs, um zum Fuß­ball zu fah­ren. West­wa­gen an West­wa­gen zog an uns vor­bei, all die Opel Kapi­tän, Kadett, City, Asco­na, Diplo­mat, Sena­tor, Mon­za, die Ford Tau­nus, Gra­na­da, Con­sul, Capri und all die ande­ren Mar­ken, die der rei­che Wes­ten auf Räder brach­te. Sie über­hol­ten uns , eben­so wie sie die Autos unse­rer Eltern über­hol­ten, die Tra­bant und Sapo­ros­hez fuh­ren, meis­tens aber Bus.

In der Rast­stät­te Quit­zow konn­te man rich­ti­gen Bun­des­bür­ger sehen. Sie aßen dort sehr preis­wert und kauf­ten sich die ihnen ver­trau­ten Waren im Inter­shop. Es gab die gefön­te Sor­te mit lan­gen Kote­let­ten, jene mit einer gestick­ten schwar­zen Rose auf dem Hemd­bauch, und es gab deren Kin­der­ge­ne­ra­ti­on: Flower-Power, VW-Bul­li, Klei­dung, die uns an Har­le­ki­ne erin­ner­te. Alle sehr locker drauf. Was wir dort erleb­ten, war ein ganz ande­res Volk. Es hieß, sie gaben den Kel­lern reich­lich Trink­geld. Manch­mal luden sie einen von denen zu einer West­zi­ga­ret­te ein. Der sah sich kurz um und bekam dann flink Feu­er. Kell­ner in der Rast­stät­te Quit­zow zu sein, das war schon was. Und der typi­sche Inter­shop-Duft zog in die Knei­pe. Riecht ver­dammt nach West­pa­ket, sag­ten die Leu­te. Alles „von drü­ben“ hat­te auf sie eine phä­no­me­na­le Anzie­hungs­kraft. Man­che sam­mel­ten die aus den West­wa­gen in die Stra­ßen­grä­ben gewor­fe­nen Bier­büch­sen und stell­te sich die ins Regal. Müll als Deko.

Die DDR-Füh­rung fürch­te­te stän­dig „Kon­takt­auf­nah­men“. Über­haupt war die DDR in einer Art ein furcht­sa­mer Staat, viel­leicht der besorg­tes­te der Welt. Da zudem der Wes­ten schnel­ler unter­wegs sein woll­te als auf der F 5, kam es in den Sieb­zi­gern zum Bau der Tran­sit­au­to­bahn A 24, die in etwa der Rou­te der schon in den Drei­ßi­gern geplan­ten, aber wegen des Krie­ges auf­ge­ge­be­nen Reichs­au­to­bahn RAB 44 folg­te. – Wir blie­ben also noch ein paar Jah­re unter uns, auf der F 5 und beim Hack­bra­ten mit Rot­kohl in Quitzow.

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