Übereinkünfte

pdf der Druckfassung aus Sezession 50 / Oktober 2012

Der Schriftsteller Botho Strauß hat sie zum Gegenstand seiner....

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Büch­nerpreis-Rede von 1989 gemacht: Hans Hen­ny Jahnns Tri­lo­gie Fluß ohne Ufer, ein zwei­ein­halb­tau­send Sei­ten umfas­sen­des Werk, in der Anschaf­fung fast uner­schwing­lich und bei­na­he ver­ges­sen: War­um eigent­lich, frag­te Strauß, und stif­te­te sein gesam­tes Preis­geld (60000 Mark damals) für einen Lek­tü­re-Wett­be­werb (die bes­ten Bei­trä­ge wur­den spä­ter in einem Buch vereint).

Die Sug­ges­tiv­kraft, die von Fluß ohne Ufer aus­geht, ist nicht zu ver­mit­teln. Man muß die­ses Buch lang­sam und gründ­lich lesen, in einem unaus­ge­setz­ten Lese-Fluß, der sich bei­spiels­wei­se bei mir über min­des­tens noch zwei Jah­re hin­zie­hen wird: so viel Pflicht, so wenig klös­ter­li­che Ruhe!

Aber es gibt eine ers­te Lese­frucht, sie ist im Auf­takt der Tri­lo­gie, dem Holz­schiff, am Anfang des III. Kapi­tels zu fin­den. Die­se Sät­ze – ich wer­de sie nicht mehr ver­ges­sen – sind der Ver­such, die ers­ten, beklem­men­den Gesprä­che der vor­her­ge­gan­ge­nen Sei­ten auf­zu­lö­sen, in denen es um die Bau­wei­se, die selt­sa­men Mecha­nis­men und die blin­den Pas­sa­gie­re des Schif­fes ging. Die Sät­ze lau­ten: »Die Wahr­neh­mun­gen der Sin­ne waren in Ein­klang gebracht mit den Über­ein­künf­ten. Die all­ge­mei­nen und augen­fäl­li­gen Geset­ze waren an kei­nem Punkt umge­bo­gen wor­den. Und das Prin­zip der Nütz­lich­keit war inmit­ten eines bedeu­ten­den Auf­wands zur Herr­lich­keit geführt. Der Spleen eines ein­zel­nen war widerlegt.«

Vier Sät­ze zur Bän­di­gung eines Abweich­lers, vier Modu­la­tio­nen der War­nung vor einer abwei­chen­den Per­spek­ti­ve: Wo der ers­te Satz die auf­at­men­de Wie­der­her­stel­lung des rech­ten Maßes beschreibt und der zwei­te das Wahr­nehm­ba­re in den Bereich des Alter­na­tiv­lo­sen rückt, über­treibt der drit­te die Beto­nung des gedeih­li­chen Zustands. Die Gefahr der Über­trei­bung spü­rend, rückt der vier­te Satz direkt und lapi­dar die Ver­hält­nis­se zurecht: Das Wort »Spleen« stellt den Abweich­ler in die Nähe eines zwar nicht ernst­zu­neh­men­den, aber doch läs­ti­gen Durchgeknallten.

Das Ent­schei­den­de liegt indes im Ton die­ser beton­ten Sta­bi­li­tät ver­gra­ben. Nichts ist sta­bil. Alles klingt nach brü­chi­gem Eis, wack­li­ger Kon­struk­ti­on, fra­gi­ler Sta­tik. Wel­che Wahr­neh­mung soll da als »Spleen« mar­kiert wer­den, wel­ches Spre­chen soll da wie­der in Ein­klang gebracht wer­den »mit den Über­ein­künf­ten«? Über­haupt: Wer hat die­se Über­ein­künf­te getrof­fen, was an die­sen »all­ge­mei­nen Geset­zen« ist »augen­schein­lich«, und wel­che prak­ti­sche Kon­struk­ti­on wird hier der »Herr­lich­keit« geprie­sen? Dies alles ist doch der Ton derer, die kei­ne Fra­gen wün­schen und die den »Ein­klang« dadurch her­stel­len, daß sie sanft dro­hen und sanft ausgrenzen.

Mir begeg­ne­te im Vor­trag Erik Leh­nerts auf der ver­gan­ge­nen Som­mer­aka­de­mie in Schnell­ro­da die Gestalt, auf die sol­che Sät­ze aus der Mit­te her­aus gemünzt sind: der »Sei­ten­ste­her«. Leh­nert (sein Bei­trag »Denk­sti­le« for­mu­liert das aus) bezeich­ne­te mit die­sem Begriff jenen Typ Den­ker, der sich nicht mit dem herr­schen­den Deu­tungs­pa­ra­dig­ma abfin­den oder des­sen Ton auf­grei­fen und bedie­nen möch­te. Der Sei­ten­ste­her kratzt viel­mehr am Para­dig­ma, berei­tet einen Deu­tungs­wech­sel vor, wider­spricht im Kern und vari­iert sei­nen Ton, um Gehör zu fin­den. Oder, um Jahnns ers­ten, ent­schei­den­den Satz auf­zu­grei­fen: Der Sei­ten­ste­her bekommt die Wahr­neh­mung sei­ner Sin­ne nicht mehr in Ein­klang mit den Über­ein­künf­ten – und arti­ku­liert das.

Die Fra­ge ist: Wel­cher Sei­ten­ste­her ist der »Typ von mor­gen«, wel­cher ein Spin­ner? Wann berei­tet der Sei­ten­ste­her einen Para­dig­men­wech­sel vor, wann treibt er eine Sack­gas­se ins Nie­mands­land? Und: Setzt er sich zwangs­läu­fig durch, weil er recht hat, oder gibt die Geschich­te (die­se »Sinn­ge­bung des Sinn­lo­sen«, wie Theo­dor Les­sing sie nann­te) nur im nach­hin­ein denen recht, die beharr­lich und hart genug waren, sich durchzusetzen?

Nichts liegt näher, als die Sezes­si­on, unse­re mit dem vor­lie­gen­den Heft zum 50. Mal vor­ge­leg­te Zeit­schrift, auf ihre spe­zi­fi­sche Form des Sei­ten­ste­hens hin zu lesen und zu beur­tei­len. Wir Redak­teu­re sind als die jeweils ers­ten und gründ­lichs­ten Leser der jähr­lich 6×60 Sei­ten nicht vor­ein­ge­nom­men, denn wo, wenn nicht in der Redak­ti­on, läge die Not­wen­dig­keit zur ste­ten Kri­tik, zur Ver­bes­se­rung, Kor­rek­tur und Daseins­recht­fer­ti­gung. Um es kurz zu machen: Die Sezes­sio­nis­ten sind Sei­ten­ste­her ohne Spleen und Typen von mor­gen – ohne Nei­gung, die Wahr­neh­mung ihrer Sin­ne mit den Über­ein­künf­ten in Ein­klang zu brin­gen. Wir schip­pern näm­lich wirk­lich auf einem plan­lo­sen Kahn durch die Zeit.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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