Über Othmar Spann

51pdf der Druckfassung aus Sezession 51 / Dezember 2012

von Michael Rieger

Als »Nazi« verdammt, darf der Wiener Nationalökonom und Sozialphilosoph Othmar Spann (1878–1950) als aus der Geistesgeschichte getilgt gelten. Otto Neurath – Positivist, Austromarxist – ließ 1944 keine Zweifel: Sicher sei Spann ein Nazi.

Sei­ne Miß­hand­lung durch die Gesta­po wie das Lehr­ver­bot könn­ten nur das Ergeb­nis einer »Abwei­chung« sein, schließ­lich hät­te Spann einen »natio­na­len Tota­li­ta­ris­mus« gepre­digt, »schlicht und ein­fach«. Schlicht und ein­fach lie­gen die Din­ge sel­ten und bei Spann, der »in der Spur Schel­lings … inmit­ten der Moder­ne … den Uni­ver­sa­lis­mus und Theo­zen­tris­mus des christ­li­chen Den­kens zu rekon­sti­tu­ie­ren« such­te (Ernst Nol­te), schon gar nicht. Man darf sogar von einer unver­min­der­ten Bedeu­tung die­ses »zu Unrecht Ver­ges­se­nen« (Kurt Hüb­ner) sprechen.

Doch Schnitt­men­gen blei­ben: Die Bücher­ver­bren­nung war Spann »ein Ruh­mes­blatt der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Umwäl­zung«; die deut­schen Juden woll­te er in Ghet­tos sehen. Aber er ver­ur­teil­te den bio­lo­gis­tisch-ras­sis­ti­schen Cha­rak­ter der »NS-Juden­po­li­tik«, um deren fata­len Kurs durch eine nai­ve wie muti­ge Inter­ven­ti­on zu ver­än­dern – im Sep­tem­ber 1935, lan­ge nach dem »Röhm-Putsch« und kurz nach den »Nürn­ber­ger Geset­zen«, einer der letz­ten Ver­su­che kon­ser­va­tiv-revo­lu­tio­nä­rer Selbst­be­haup­tung. »Schlicht und einfach«?

Am 23. Febru­ar 1929 kri­ti­sier­te Spann die »unwür­di­gen« NS-Auf­mär­sche, was dem im Münch­ner Audi­max anwe­sen­den Adolf Hit­ler nicht eben gefiel. Am 9. Juni 1933 erteil­te der Wie­ner Pro­fes­sor der Con­fe­de­ra­zio­ne Nazio­na­le Fascis­ta del Com­mer­cio Nach­hil­fe: Seit 1929 prak­ti­zier­te man in Rom staat­li­chen Diri­gis­mus, Spann warb für das Gegen­teil, eine stän­disch-dezen­tra­li­sier­te Wirt­schaft. Ähn­li­che Kri­tik hielt er, vom Hit­ler-För­de­rer Fritz Thys­sen unter­stützt, auch für das Deut­sche Reich parat, dabei der Fehl­ein­schät­zung erle­gen, die Ent­wick­lung mit­prä­gen zu kön­nen. Als man den Spann-Kreis 1938 eine »Gefahr für die gesamt­deut­sche Ent­wick­lung« nann­te, wuß­ten Hit­ler und Rosen­berg längst um die Unver­träg­lich­keit ihrer tota­li­tä­ren Ansprü­che mit Spanns Ganz­heits­leh­re. Es gilt Gerd-Klaus Kal­ten­brun­ners Kla­ge über die wohl­fei­le Sicht auf Spann, den »libe­ra­le Flach­köp­fe und sozia­lis­ti­sche Schrei­häl­se für einen ›Faschis­ten‹ aus­ge­ben dürfen«.

Sach­li­che­re Töne kamen von Katho­li­ken. Gus­tav Gund­lachs Ein­wand, Spann ver­nach­läs­si­ge die Per­son, klingt bis heu­te im Lexi­kon für Theo­lo­gie und Kir­che nach: Obschon in katho­li­scher Mys­tik grün­dend, sich gegen Mecha­nis­mus und Mar­xis­mus wen­dend, wer­de Spanns Phi­lo­so­phie »der Wirk­lich­keit des Men­schen« nicht gerecht, da sie sich »auf ein abs­trak­tes Gan­zes« kon­zen­trie­re. Vor allem aber hielt ein Kreis von Wis­sen­schaft­lern die Erin­ne­rung wach: Initi­iert von Spanns bedeu­tends­tem Schü­ler, Wal­ter Hein­rich, arbei­te­te man im Umfeld der Zeit­schrift für Ganz­heits­for­schung (1957–2008) das umfang­rei­che Werk auf, ver­netz­te es mit ande­ren Denk­tra­di­tio­nen. Über Schü­ler und Enkel­schü­ler (Baxa, Riehl, Pich­ler, Romig) läßt sich eine Linie zie­hen bis zur jüngs­ten Mono­gra­phie von Sebas­ti­an Maaß, die Spann als »Ideen­ge­ber der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on« würdigt.

Armin Moh­ler beton­te, daß der Spann-Kreis der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on »das durch­ge­ar­bei­tets­te Denk­sys­tem gelie­fert« habe. Doch nicht an die­sem impo­san­ten Bau aus Gesell­schafts­leh­re (1914), volks­wirt­schaft­li­chen Stan­dard­wer­ken, Kate­go­rien­leh­re (1924), Geschichts­phi­lo­so­phie (1932), Natur­phi­lo­so­phie (1937) und abschlie­ßen­der Reli­gi­ons­phi­lo­so­phie (1947) ent­zün­de­te sich der Anti­fa-Furor, son­dern an den poli­ti­schen Impli­ka­tio­nen, an Spanns Gene­ral­kri­tik des Indi­vi­dua­lis­mus und der Demo­kra­tie, nach­zu­le­sen in sei­nem bekann­tes­ten Werk Der wah­re Staat (1921).

Die his­to­ri­sche Ent­wick­lung seit dem Huma­nis­mus wer­tet Spann als Aus­trei­bung alles Höhe­ren, als Weg in Ato­mi­sie­rung und Mate­ria­lis­mus: Wo der Mensch »nur aus sich selbst her­aus lebt«, übt er Sitt­lich­keit und Pflicht sich selbst, »aber nicht dem ande­ren gegen­über«. Es ist eine aso­zia­le Welt trieb­ge­steu­er­ter Ato­me ohne Ver­ant­wort­lich­keit und Rück­bin­dung. Die­sem Auf­lö­sungs­pro­zeß begeg­net Spann zunächst anthro­po­lo­gisch: Das aut­ar­ke Ich sei eine »kna­ben­haf­te Anma­ßung«, der ein­zel­ne wer­de nur durch »Zuge­hö­ren«, »Mit­da­bei­sein eines ande­ren Geis­tes« gleich­sam »wach­ge­küßt«.

Gegen die hybri­de indi­vi­dua­lis­ti­sche Erkennt­nis­theo­rie denkt Spann vom Gan­zen her, da »alles mit allem ver­wandt, alles an alles geknüpft ist«. Das Gan­ze gehe den Glie­dern vor­aus, »offen­bart« sich in ihnen. Von die­sem Per­spek­tiv­wech­sel erhofft er eine »voll­stän­di­ge Umkehr« im Ver­hält­nis des Men­schen zu Welt und Gesell­schaft, die nicht mehr als Sum­me glei­cher Ein­zel­kämp­fer erscheint, son­dern als ver­wo­be­ne, abge­stuf­te Wirk­lich­keit. Hier nun bricht Spann, poli­tisch höchst unkor­rekt, mit dem Gleich­heits­be­griff: Zwar besä­ßen »der Ver­bre­cher wie der Hei­li­ge … einen unver­letz­li­chen Kern ›Mensch‹! Nie­mals aber heißt dies: Sie sei­en glei­che Men­schen«. Wäh­rend die Men­schen­wür­de »gewiß nicht ange­tas­tet wer­den darf«, rekur­riert Spann auf eine »orga­ni­sche Ungleich­heit«, die aus dem »inne­ren Ver­rich­tungs­pla­ne« des Gan­zen her­vor­ge­he. Die Ungleich­heit der Men­schen, die jeweils nach geis­ti­gen Grund­in­hal­ten Gemein­schaf­ten bil­den (Demo­kra­ten, Katho­li­ken, Fach­ar­bei­ter, Vege­ta­ri­er, Sport­ler …), schaf­fe eine »maß­lo­se Zer­klüf­tung«: »Der Bestand der Gesell­schaft … wäre gefähr­det, wenn die klei­nen, ein­an­der frem­den Gemein­schaf­ten« in die­ser »Zusam­men­hang­lo­sig­keit« ver­blie­ben. Also bedarf es einer Inte­gra­ti­on, einer Rang­ord­nung und »orga­ni­schen Schich­tung nach Wer­ten«, die nur qua Herr­schaft Form gewinnt.

Mit­tel­al­ter­li­che und roman­ti­sche Ord­nungs­mus­ter aktua­li­sie­rend, faßt Spann die gesell­schaft­li­chen Glie­der als Hier­ar­chie von Stän­den: von den Hand­ar­bei­tern über die höhe­ren Arbei­ter zu den »Wirt­schafts­füh­rern«; dar­über bestimmt Spann einen Stand von Staats‑, Heer‑, Kir­chen- und Erzie­hungs­füh­rern und zuletzt einen ziel­ge­ben­den »schöp­fe­ri­schen Lehr­stand«. Da alle auf­ein­an­der ange­wie­sen sind, der Sozio­lo­ge auf den Schrei­ner, der auf den Förs­ter, der wie­der­um auf den Pries­ter, besteht eine »glei­che Wich­tig­keit für die Errei­chung des Zie­les«: Sta­bi­li­tät, sozia­le Har­mo­nie, Gerech­tig­keit. Wel­che dar­in liegt, daß jeder in der ihm gemä­ßen Stel­lung im Gan­zen sein »Lebens­höchst­maß« rea­li­sie­re, als sinn­vol­les Glied einer Gemein­schaft und, berufs­stän­disch orga­ni­siert, einer Kor­po­ra­ti­on. Die­ses natür­li­che, dyna­mi­sche Gefü­ge, mit­nich­ten die Erstar­rung in »Geburts­adel oder Geburts­un­ter­tä­nig­keit«, ist Spanns Gegen­bild zur lin­ken Ein­heits­scha­blo­ne wie auch zur machia­vel­lis­ti­schen »Kamp­fes­wirt­schaft« des Kapitalismus.

Da mit der Auf­lö­sung der Stän­de in der Neu­zeit »weder das Phä­no­men des dif­fe­rie­ren­den sozia­len Sta­tus, noch der Bedarf an ›erzo­ge­nen Füh­rern‹ ver­schwin­det«, so Moham­med Ras­sem, stellt Spann in einer »Gegen­re­nais­sance« – gegen die Ver­ab­so­lu­tie­rung libe­ra­ler Wer­te – ein tra­di­tio­nel­les Ord­nungs­ge­setz neu her. Poli­tisch gewen­det: Aus dem (poten­ti­ell ver­än­der­li­chen) Stand­ort in der Glie­de­rung, aus der »Lebens­auf­ga­be« und Leis­tung für die Gesell­schaft erge­ben sich der jewei­li­ge Ort und Grad der »Mit­re­gie­rung«. So will Spann, gestützt auf die Selbst­ver­wal­tung der Stän­de und das fun­da­men­ta­le Prin­zip der Sub­si­dia­ri­tät, die defi­zi­tä­ren demo­kra­ti­schen Mecha­nis­men über­win­den, wobei die Staats­füh­rer einen über­grei­fen­den »Höchst­stand« bil­den, eine sach­ver­stän­di­ge, »staats­ge­stal­ten­de« Eli­te. Über­zeugt, daß man »Stim­men nicht zäh­len, son­dern wägen« sol­le, for­der­te er, die Bes­ten mögen herr­schen: Mehr­hei­ten asso­zi­ier­te Spann mit Wan­kel­mut, Inkom­pe­tenz, Ein­heits­brei, kurz: mit »demo­kra­ti­schem Kul­tur­tod«, ja »Kul­tur­pest«, wie der »alle Über­lie­fe­rung, alle Bil­dung« zer­schla­gen­de Bol­sche­wis­mus zeige.

Von eini­ger Spreng­kraft ist Spanns Begriff der Wirt­schaft. Dem »Bereich des Han­delns« ange­hö­rend, lie­ge ihr Wesen dar­in, »Mit­tel für Zie­le zu sein«. Sie sei »die­nend, nicht eigent­lich pri­mär«, wor­un­ter Spann allein »ein Geis­ti­ges« ver­stand. »Han­deln kann ich nur, um einem Zie­le zu die­nen, … z.B. um eine Kir­che zu bau­en.« An höhe­re Zie­le gebun­den, bil­de die Wirt­schaft »kei­nen selbst­tä­ti­gen Mecha­nis­mus mehr«, ein Pri­mat kom­me ihr nicht zu. In der stän­di­schen Ord­nung sei auch Pri­vat­ei­gen­tum »der Sache nach« Gemein­ei­gen­tum. Mit die­ser »Zurück­drän­gung« der Öko­no­mie reagier­te Spann auf die »Ver­wirt­schaft­li­chung des Lebens«, die der alles ver­wer­ten­de Kapi­ta­lis­mus so rück­sichts­los betrie­ben hat wie der alles auf öko­no­mi­sche Kate­go­rien redu­zie­ren­de Marxismus.

Doch die Geschich­te hat Spanns Begriff einer die­nen­den Wirt­schaft auf den Kopf gestellt. Im Rah­men einer glo­ba­len Ame­ri­ka­ni­sie­rung erwei­sen sich die poli­ti­schen Akteu­re als Erfül­lungs­ge­hil­fen der Wirt­schaft. Bei Staats­be­su­chen wer­den wie selbst­ver­ständ­lich Ver­trä­ge für die mit­rei­sen­de Groß­in­dus­trie ange­bahnt; Ent­schei­dun­gen zuguns­ten par­ti­ku­la­rer Inter­es­sen gel­ten als »alter­na­tiv­los«; sub­si­diä­re Struk­tu­ren wer­den leicht­hin preis­ge­ge­ben; »Fle­xi­bi­li­tät« und »Mobi­li­tät« bemän­teln die Ent­wur­ze­lung der Arbeit­neh­mer … Nicht die Wirt­schaft dient der Gesell­schaft, viel­mehr assis­tiert die Poli­tik der Wirt­schaft bei der Indienst­nah­me der Gesell­schaft. Aktu­ell illus­trie­ren Finanz­kri­se und Euro-Mise­re, wie von Spanns Enkel­schü­ler Fried­rich Romig ana­ly­siert, die struk­tu­rel­le Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit die­ses Ver­hält­nis­ses: Wirt­schaft­li­ches Han­deln ist nicht höhe­ren Zie­len, etwa der Sta­bi­li­tät, son­dern nur kurz­fris­ti­gen Pro­fi­ten ver­pflich­tet. Ver­lus­te aus Spe­ku­la­tio­nen wer­den, jeden Begriff von Gerech­tig­keit negie­rend, auf die Gemein­schaft abge­wälzt. In Euro­pa zeich­net sich eine gleich­ma­che­ri­sche Schul­den­uni­on ab, ver­mit­tels derer die Schul­den­ber­ge in jenen Län­dern anwach­sen, die nicht für die­se Ent­wick­lung ver­ant­wort­lich sind. In der »has­ti­gen Unru­he« ist der ein­zel­ne nicht »auf­ge­ho­ben«, son­dern sei­nen Zukunfts­ängs­ten über­las­sen. Die Inkom­pe­tenz der Poli­tik spie­gelt die Hilf­lo­sig­keit des Staa­tes, des­sen Sou­ve­rä­ni­tät dahin ist. Vor genau acht­zig Jah­ren hat Wal­ter Hein­rich die­ses Sze­na­rio anti­zi­piert: »Die zum Selbst­zweck gewor­de­ne Wirt­schaft bedeu­tet Ver­fall des Staa­tes und der Kul­tur. … Der Staat, der die Füh­rung ver­lo­ren hat, hört auf Staat zu sein«. Und das geis­ti­ge Leben ver­kommt – um mit Spann zu spre­chen – voll­ends zur »Krä­mer­bu­de«.

In Spanns Alter­na­ti­ve lie­gen hin­ge­gen grund­sätz­li­che Umwer­tun­gen beschlo­sen: Als »Organ einer genos­sen­schaft­li­chen Ganz­heit« wer­de der ein­zel­ne in sei­nem wirt­schaft­li­chen Han­deln ein­ge­schränkt, wor­aus ein rela­ti­ves »Still­ste­hen des tech­ni­schen Fort­schrit­tes« fol­ge. Die »unge­hemmt vor­wärts stre­ben­de Ent­fal­tung der pro­duk­ti­ven Kräf­te« wer­de beschränkt. »Der Mensch ist nicht mehr der­sel­be. Wer das Äuße­re bän­digt und bin­det, kann es nicht zugleich ins Unbe­grenz­te« ent­wi­ckeln. Denn »auf Inner­lich­keit und auf Bin­dung der Wirt­schaft« hin­zu­steu­ern, heißt zugleich, »daß wir ärmer wer­den!« Die übli­che Kri­tik an der Träg­heit der Stän­de über­sieht stets, wie sehr sich in den Momen­ten der Beschei­dung, Ver­lang­sa­mung und Lang­fris­tig­keit eine neue Sitt­lich­keit, ein anti­sä­ku­la­res Ethos ausdrückt.

Das Ziel die­ser Ord­nung läßt sich über die irdi­sche Gerech­tig­keit hin­aus in einer über­sinn­li­chen Dimen­si­on fas­sen: Spanns Kon­zep­ti­on macht die Rück­ver­bun­den­heit aller Glie­der sicht­bar, zuletzt ihre Ver­mitt­lung zwi­schen Welt und kos­mi­scher, gött­li­cher Ord­nung. Es geht dar­um, den ver­lo­re­nen Blick fürs Gan­ze wiederzugewinnen.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)

Für diesen Beitrag ist die Diskussion geschlossen.