Stalingrad – 70 Jahre danach

52pdf der Druckfassung aus Sezession 52 / Februar 2013

von Olaf Haselhorst

Am 2. Februar 1943 ergab sich das letzte deutsche Widerstandsnest im berüchtigten Traktorenwerk von Stalingrad. Bereits zwei Tage zuvor war Generalfeldmarschall Friedrich Paulus, der Oberbefehlshaber der 6. Armee, in sowjetische Gefangenschaft gegangen. Ihm folgten 110000 Soldaten.

Mit­te Dezem­ber 1942 hat­te die Stär­ke der ein­ge­kes­sel­ten Ver­bän­de noch 230000 Mann betra­gen, bis zum 24. Janu­ar 1943 wur­den etwa 40000 Ver­wun­de­te und Spe­zia­lis­ten aus­ge­flo­gen. Etwa 80000 waren bei den Kämp­fen ums Leben gekommen.

Zum 70. Jah­res­tag der Kapi­tu­la­ti­on sind eine Rei­he von Publi­ka­tio­nen erschie­nen. Der Fischer Ver­lag hat aus die­sem Anlaß das 20 Jah­re alte Werk von Wolf­ram Wet­te und Gerd Über­schär (Sta­lin­grad: Mythos und Wirk­lich­keit einer Schlacht, Frank­furt a.M.: Fischer Taschen­buch 2012. 336 S., 10.99 €) wie­der auf­ge­legt. Das Buch war 1992 erschie­nen, um der äußerst popu­lä­ren Dar­stel­lung des Erfolgs­au­tors Paul Carell (eigent­lich Paul Karl Schmidt; Sta­lin­grad: Sieg und Unter­gang der 6. Armee, Ber­lin 1992) aus sei­nem Best­sel­ler (Unter­neh­men Bar­ba­ros­sa: der Marsch nach Ruß­land, Ber­lin 1963) aus eta­blier­ter Sicht Paro­li zu bie­ten. Als Anti-Carell auf­ge­macht, bemü­hen sich Wet­te und Über­schär, den – wie sie sagen – Mythos von der sau­be­ren Kriegs­füh­rung der Wehr­macht zu zer­stö­ren und den Cha­rak­ter des Ruß­land­feld­zu­ges als ras­sen­ideo­lo­gi­schen Ver­nich­tungs­krieg her­aus­zu­ar­bei­ten. Die­se Arbeit, die ganz im destruk­ti­ven Geist von Reemts­mas Anti-Wehr­machts­au­stel­lung gehal­ten ist, sagt weni­ger über den Kampf um Sta­lin­grad als über die Aus­ein­an­der­set­zung um die his­to­ri­sche Deu­tungs­ho­heit in den 1990er Jah­ren aus.

Dage­gen befaßt sich die Neu­erschei­nung von Rein­hold Busch (Sta­lin­grad: Der Unter­gang der 6. Armee. Über­le­ben­de berich­ten, Graz: Ares Ver­lag 2012. 464 S., 24.90 €) mit dem Kampf, mit dem Leid und der Not der Män­ner, die mit der 6. Armee in Sta­lin­grad ein­ge­schlos­sen waren. Der Autor läßt die über­le­ben­den Sol­da­ten zu Wort kom­men, vom ein­fa­chen Gre­na­dier bis zum Gene­ral, die nach Krieg und Gefan­gen­schaft ihre Erleb­nis­se zu Papier gebracht haben. Das Werk ist in drei Tei­le geglie­dert. Der ers­te umfaßt die Berich­te der weni­gen Glück­li­chen, die aus dem Kes­sel aus­ge­flo­gen wur­den, sowie die Erin­ne­run­gen der Flug­zeug­be­sat­zun­gen, die in den Kes­sel ein­flo­gen. Teil zwei stammt von Sol­da­ten, die die sowje­ti­sche Gefan­gen­schaft über­stan­den haben, und Teil drei legt den Schwer­punkt auf das Schick­sal der Gefan­ge­nen wäh­rend der Todes­mär­sche und in den Todes­la­gern. Die Stär­ke die­ses Buches ist, daß hier die Betrof­fe­nen aus ihrer Sicht die Ereig­nis­se schil­dern, ohne daß nach­ge­bo­re­ne His­to­ri­ker dem Publi­kum mit­tels »Inter­pre­ta­tio­nen« nahe­le­gen, wie das Dar­ge­stell­te poli­tisch kor­rekt ver­stan­den wer­den muß. Jeder Leser kann sich so selbst sein Urteil bilden.

Der an der Rut­gers-Uni­ver­si­tät New Jer­sey leh­ren­de Jochen Hell­beck legt in sei­nem Buch (Die Sta­lin­grad-Pro­to­kol­le: Sowje­ti­sche Augen­zeu­gen berich­ten aus der Schlacht, Frank­furt a.M.: S. Fischer 2012. 608 S., 26 E)) eine umfas­sen­de Doku­men­ta­ti­on der Kriegs­er­eig­nis­se vom Juni 1942 bis zum 2. Febru­ar 1943 vor. Es han­delt sich um eine zeit­nah ent­stan­de­ne, von einer sowje­ti­schen His­to­ri­ker­grup­pe gesam­mel­te Dar­stel­lung der Kampf­hand­lun­gen aus der Sicht sowje­ti­scher Sol­da­ten. Der Autor ver­sucht zu zei­gen, daß die hohe Kampf­kraft der Roten Armee weni­ger durch Gewalt­maß­nah­men als durch sys­te­ma­ti­sche poli­ti­sche Schu­lung der KP und ihrer Polit­kom­mis­sa­re ent­stan­den sei. Hell­becks Fest­stel­lung, der par­tei­po­li­ti­sche Appa­rat habe »eine welt­an­schau­li­che Geschlos­sen­heit in der Vor­stel­lungs­welt von Rot­ar­mis­ten« erzeugt, läßt sich jedoch mit dem von ihm vor­ge­leg­ten Zeit­zeu­gen­be­rich­ten nicht hin­rei­chend belegen.

Auch für sei­ne Kri­tik, die bis­her vor­lie­gen­de For­schungs­li­te­ra­tur habe das Aus­maß der Erschie­ßun­gen von sowje­ti­schen Mann­schaf­ten und Offi­zie­ren, wenn sie sich den Angriffs­be­feh­len wider­setz­ten, stark über­trie­ben, bringt er kei­ne ver­läß­li­chen sta­tis­ti­schen Bele­ge. Hell­beck schil­dert im ein­zel­nen, wie die Auf­zeich­nun­gen durch die His­to­ri­ker­kom­mis­si­on, die noch wäh­rend der Kämp­fe ihre Arbeit auf­nahm, zustan­de kamen. Jedoch ver­spricht das Werk kei­ne neu­en Erkennt­nis­se über den Ver­lauf des Kampf­ge­sche­hens, zumal die mili­tä­ri­sche Stra­te­gie der deut­schen Füh­rung von der For­schung ein­ge­hend unter­sucht wor­den ist, und eben­so­we­nig über die Men­ta­li­tät der sowje­ti­schen Sol­da­ten, die einer offi­zi­el­len Kom­mis­si­on, die in Sta­lins Auf­trag ange­reist war, sicher nur das zu Pro­to­koll gege­ben haben, was der Par­tei­wahr­heit nahekam.

Das ZDF brach­te zur bes­ten Sen­de­zeit (11. Dezem­ber 2012, 20.15 Uhr) eine Doku-Soap (»Stil­le Nacht in Sta­lin­grad«) aus der His­to­ri­en­kü­che Gui­do Knopps. Es han­del­te sich um ein aus Spiel­sze­nen, Zeit­zeu­gen­aus­sa­gen und his­to­ri­schen Auf­nah­men zusam­men­ge­rühr­tes Mach­werk der bekann­ten Art, das sich beson­ders mit dem Hei­lig­abend 1942 befaß­te. Der deut­sche Rund­funk sen­de­te tra­di­tio­nell am 24. Dezem­ber eine Live-Über­tra­gung von allen Ein­satz­or­ten deut­scher Sol­da­ten, vom Nord­kap über die Atlan­tik­küs­te und Afri­ka bis nach Sta­lin­grad (»Hier ist Sta­lin­grad! Hier ist die Front an der Wol­ga!«). Wäh­rend die Deut­schen in der Hei­mat um ihre an der Front ste­hen­den Väter und Män­ner bang­ten, erhiel­ten die Sol­da­ten Weih­nachts-Son­der­zu­tei­lun­gen an Scho­ko­la­de, Ziga­ret­ten und Alko­hol. Aber ihr Wunsch, nach Hau­se zurück­zu­keh­ren, sei ihnen von Hit­ler ver­wehrt worden.

Auch popu­lär­wis­sen­schaft­li­che Geschichts­ma­ga­zi­ne haben sich des The­mas ange­nom­men. Mili­tär & Geschich­te, Heft Nr. 66 (Dezem­ber 2012/Januar 2013), wid­met sich der Vor­ge­schich­te der Ope­ra­ti­on »Blau«, der deut­schen Som­mer­of­fen­si­ve nach Sta­lin­grad und in Rich­tung Kau­ka­sus. Schwer­punkt des Arti­kels von Oli­ver Rich­ter ist dabei die Ope­ra­ti­on »Win­ter­ge­wit­ter«, mit der die in Sta­lin­grad ein­ge­schlos­se­ne 6. Armee ent­setzt wer­den soll­te. Die Dar­stel­lung ist sach­lich und aus­ge­wo­gen, zumal auch erör­tert wird, daß Hit­ler durch­aus ratio­na­le Grün­de hat­te, den Aus­bruch der 6. Armee zu ver­bie­ten. Zum einen nennt der Autor das erfolg­rei­che Aus­har­ren deut­scher Kampf­grup­pen im ein­ge­schlos­se­nen Dem­jansk im Win­ter 1941/42, die aus der Luft ver­sorgt wur­den, bis der Kes­sel im Früh­jahr 1942 von Wes­ten her ent­setzt wer­den konn­te. Zum ande­ren band die 6. Armee am Wol­ga­knie kampf­kräf­ti­ge Ein­hei­ten des Geg­ners, die den Sowjets fehl­ten, um den gan­zen Süd­flü­gel der Ost­front zum Ein­sturz zu bringen.

Die Zeit­schrift Clau­se­witz hat zum Kom­plex Sta­lin­grad ein Spe­zi­al­heft auf den Markt gebracht, das in meh­re­ren Arti­keln die Vor­ge­schich­te und den Ver­lauf des Feld­zu­ges sowie den Unter­gang der 6. Armee in der Wol­ga­stadt zum Inhalt hat. Dar­über hin­aus geht das Heft auf das Schick­sal der Zivil­be­völ­ke­rung, das Lei­den der deut­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen und auf die Erin­ne­rungs­kul­tur in NS-Pro­pa­gan­da, Nach­kriegs­li­te­ra­tur und ‑film ein. Lei­der läßt die Aus­ge­wo­gen­heit der Dar­stel­lung zu wün­schen übrig. Auf­ru­fe Hit­lers an deut­sche Sol­da­ten, im Kes­sel durch­zu­hal­ten, sich ein­zu­igeln und auf Ent­satz zu war­ten, sei­en Aus­druck des »Starr­sinns« des NS-Dik­ta­tors gewe­sen, wäh­rend der Appell des spä­te­ren Mar­schalls Tschui­kow an die Rot­ar­mis­ten, »lie­ber für die Hei­mat [zu] ster­ben als sich [zu] erge­ben«, als Beweis für die Vater­lands­lie­be und den (in die­sem Fall) bewun­de­rungs­wür­di­gen Durch­hal­te­wil­len gese­hen wer­den müsse.

Der Chef­re­dak­teur des Blat­tes, Tammo Luther, weiß sogar, daß bereits vor der Ein­kes­se­lung »Pau­lus’ Män­ner mehr und mehr die Hoff­nung auf einen erfolg­rei­chen Aus­gang« der Schlacht ver­lo­ren hät­ten, wäh­rend die »an Ent­beh­run­gen gewöhn­ten sowje­ti­schen Sol­da­ten getreu [und] ver­bis­sen um jedes Haus, jedes Erd­loch und jede Fabrik­hal­le« kämpf­ten. Daß sich der von Luther so gerühm­te Sowjet­be­fehls­ha­ber Was­si­li Tschui­kow die »Treue« sei­ner Sol­da­ten weni­ger mit Hil­fe von Son­der­ra­tio­nen von »But­ter, Zucker und Ziga­ret­ten« als durch Mas­sen­er­schie­ßun­gen von ver­meint­li­chen Drü­cke­ber­gern und Deser­teu­ren sicher­te, wird verschwiegen.

Der Abbruch des deut­schen Befrei­ungs­ver­su­ches am 22. Dezem­ber besie­gel­te das Schick­sal der 6. Armee. Sie kämpf­te wei­ter, um feind­li­che Kräf­te zu bin­den und um den im Kau­ka­sus ste­hen­den Ver­bän­den der Wehr­macht den Rück­zug auf den Kuban bzw. auf Ros­tow zu ermög­li­chen. Ein Bei­trag im Heft behan­delt den ers­ten Ver­such der Sowjets, die Land­ser im gro­ßen Stil mit Pro­pa­gan­da über Laut­spre­cher und Flug­blät­ter zum Auf­ge­ben des Wider­stan­des zu bewe­gen. Gro­tes­ker­wei­se ver­sprach man den­je­ni­gen, die die Waf­fen nie­der­leg­ten, eine »Garan­tie für Leib und Leben«.

Allein die Tat­sa­che die­ses Ange­bots ver­deut­licht, daß sich die­ses aus der Haa­ger Land­kriegs­ord­nung und der Gen­fer Kon­ven­ti­on – Ver­trags­wer­ke, denen die UdSSR nicht bei­getre­ten war – erge­ben­de Recht auf Unver­sehrt­heit den Kriegs­ge­fan­ge­nen der Roten Armee ansons­ten nicht zuge­stan­den wur­de – und auch für die Land­ser, die nach der Kapi­tu­la­ti­on von Sta­lin­grad in die Hän­de der Sowjets fie­len, offen­bar kei­ne Gel­tung hat­te: Nach sechs Mona­ten sowje­ti­scher Lager­haft war bereits jeder zwei­te Sol­dat der 6. Armee tot. Von 110000 Gefan­ge­nen kehr­ten ledig­lich 6000 in die Hei­mat zurück.

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