Autorenportrait Cormac McCarthy

53pdf der Druckfassung aus Sezession 53 / April 2013

von Michael Wiesberg

Unge­ach­tet der viel­fach prä­mier­ten Ver­fil­mung sei­nes 2005 publi­zier­ten Romans No Coun­try for Old Men (Kein Land für alte Män­ner, 2008) durch die Brü­der Ethan und Joel Coen (2007) ist der Bekannt­heits­grad des US-ame­ri­ka­ni­schen Schrift­stel­lers Cor­mac McCar­thy in Deutsch­land noch gering.

Das muß bei einem Autor irri­tie­ren, des­sen Roman Blood Meri­di­an: Or the Evening Red­ness in the West (dt. Die Abend­rö­te im Wes­ten) zu den wich­tigs­ten Büchern gezählt wird, die im 20. Jahr­hun­dert in den USA publi­ziert wur­den. Mög­li­cher­wei­se spielt sei­ne Distanz zur Öffent­lich­keit eine Rol­le; McCar­thy steht für Inter­views oder »Pres­se-Events« nur sel­ten zur Verfügung.

Einem grö­ße­ren US-Publi­kum wur­de der 1933 in Rho­de Island gebo­re­ne McCar­thy mit sei­nem Roman All the Pret­ty hor­ses (1992, dt. All die schö­nen Pfer­de) bekannt, dem ers­ten Teil sei­ner »Bor­der-Tri­lo­gie«, die durch die Roma­ne The Crossing (1994, dt. Grenz­gän­ger) und Cities of the Plain (1998, dt. Land der Frei­en) abge­schlos­sen wur­de. 2006 erhielt er für sein Werk The Road (2006, dt. Die Stra­ße) den Pulitzer-Preis.

In einem sei­ner sel­te­nen Inter­views erklär­te McCar­thy, der im Juli die­ses Jah­res 80 Jah­re alt wird, gegen­über der US-»Talkmasterin« Oprah Win­frey, daß er kei­ne Schrift­stel­ler ken­ne und den Umgang mit Wis­sen­schaft­lern vor­zie­he. Er beton­te wei­ter, daß er ein­fa­che Aus­sa­ge­sät­ze (»simp­le decla­ra­ti­ve sen­ten­ces«) prä­fe­rie­re und kei­ne Anfüh­rungs­zei­chen ver­wen­de; er wol­le die Buch­sei­ten nicht »mit ver­rück­ten klei­nen Zei­chen über­streu­en« (»blot the page up with weird litt­le marks«).

Der Fokus der Erzäh­lun­gen McCar­thys liegt häu­fig auf Prot­ago­nis­ten, die durch Extrem­si­tua­tio­nen in einen Aus­nah­me­zu­stand gebracht wer­den. Die­ser Aus­nah­me­zu­stand indes eröff­net auch Spiel­räu­me, Frei­hei­ten, und zwar sowohl im Guten als auch im Bösen. Das gilt ins­be­son­de­re für McCar­thys 1985 publi­zier­ten Roman Die Abend­rö­te im Wes­ten. In dem »Wil­den Wes­ten«, der hier ent­fal­tet wird, fin­den sich kei­ne edlen India­ner, »toug­hen« Despe­ra­dos oder opti­mis­ti­schen Sied­ler, die sich anschi­cken, »God’s own coun­try« zu einem bes­se­ren Platz für die Mensch­heit zu machen. Statt des­sen bestim­men Skalp­jä­ger und India­ner­ban­den das Bild, die mor­dend und skal­pie­rend durch wüs­tes Land zie­hen. Zwei­fels­oh­ne löst das »Kakei­do­skop« (von gr. kakós = schlecht) der »Bes­tia­li­tät des Men­schen« (Ulrich Grei­ner in der Zeit, 2/1997), das McCar­thy in die­sem Buch ent­fal­tet, dort Irri­ta­tio­nen aus, wo das Gut­sein des Men­schen den Cha­rak­ter einer nicht mehr zu hin­ter­fra­gen­den Gewiß­heit ange­nom­men hat.

Leit­mo­ti­visch ste­hen dem Buch drei Zita­te vor­an, dar­un­ter eines des deut­schen Mys­ti­kers Jakob Böh­me (1575–1624): »Und ist doch nicht also zu den­cken, daß das Leben der Fins­ter­nüß also in ein Elend sin­cke, da sichs ver­gä­ße, als trau­re­te es: Es ist kein Trau­ren. Denn die Trau­rig­keit ist ein Ding, das im Tode ersin­cket. So ist aber der Tod und das Ster­ben der Fins­ter­nüß Leben.« In der mythi­schen Schöp­fungs­theo­lo­gie Böh­mes erschei­nen Gott und Teu­fel als Mani­fes­ta­tio­nen eines Typus. In der dua­lis­ti­schen Per­spek­ti­ve Böh­mes gibt es kein bewuß­tes Sein ohne Gegen­satz. Dies gilt auch für Gott selbst, der eines »Gegen­wurfs« bedür­fe. Ohne die­sen »Gegen­wurf« gibt es kei­ne Ver­än­de­rung, kei­ne Bewe­gung. Die­ser Dua­lis­mus spie­gelt sich auch im Men­schen, in dem sich Him­mel und Höl­le befin­den. Wenn der Mensch Gutes und Böses in sich fin­det, soll er begrei­fen, so Böh­me, »daß sol­ches alles von und aus GOtt [sic] sel­ber her­kom­me, und daß es sei­nes eige­nen Wesens sey, das Er sel­ber ist, und er sel­ber aus sich also geschaf­fen habe: und gehö­ret das Böse zur Bil­dung und Beweg­lich­keit, und das Gute zur Lie­be«. Böh­mes Wer­ke waren, da er das Böse als Teil der Schöp­fung begriff, zu sei­nen Leb­zei­ten ver­bo­ten. Bereits der Titel des Romans von McCar­thy – Die Abend­rö­te im Wes­ten – dürf­te eine Anspie­lung auf das Haupt­werk Böh­mes, näm­lich Auro­ra oder die Mor­gen­rö­te im Auf­gang (1612), sein.

Die­se Böh­me-Rezep­ti­on McCar­thys hat sicher­lich zu der The­se bei­getra­gen, die bei­spiels­wei­se der ame­ri­ka­ni­sche Lite­ra­tur­pro­fes­sor Leo Daug­her­ty ver­tritt: Der Autor habe hier eine »gnos­ti­sche Tra­gö­die« vor­ge­legt, in der dem Jun­gen die Rol­le des »gefal­le­nen Pneu­ma« zukom­me und sei­nem Gegen­part, Rich­ter Hol­den, die Rol­le des »Archon­ten« (eine Emana­ti­on des Demi­ur­gen, des Schöp­fer­got­tes). Die­se Deu­tung indes krankt vor allem dar­an, daß der Jun­ge kei­nes­wegs die Rol­le des Guten spielt, son­dern auch aktiv in Mord und Tot­schlag ver­strickt ist. Schau­platz des Romans ist das texa­ni­sche Grenz­ge­biet zu Mexi­ko nach dem Ende des Mexi­ka­nisch-Ame­ri­ka­ni­schen Krie­ges von 1846 bis 1848. Die­ses Gebiet ist Tum­mel­platz diver­ser Ban­den, unter ande­rem von ame­ri­ka­ni­schen Skalp- und Kopf­geld­jä­gern und India­nern. In den Fokus sei­ner Erzäh­lung hat McCar­thy einen Jun­gen gestellt, der sich zunächst mehr schlecht als recht als Dieb durchs Leben schlägt und Hun­ger und Durst leidet.

Die­ser Jun­ge, der vor­erst nur als »Jun­ge« bezeich­net wird, muß qua­si von Anfang an, da in ärm­li­che Ver­hält­nis­se gebo­ren, ums Über­le­ben kämp­fen und sich behaup­ten. Bereits der Beginn des Romans zeigt, daß McCar­thy sei­nen Text als »Pas­si­ons­ge­schich­te« ange­legt hat, wie Hubert Spie­gel in einer Rezen­si­on für die Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung (1. Okto­ber 1996) kon­sta­tiert. Der »namen­lo­se Held« wird im »Ecce-Homo-Ges­tus« ein­ge­führt: »Seht das Kind. Der Jun­ge ist blaß und mager, trägt ein dün­nes, zer­schlis­se­nes Lei­nen­hemd … Nacht dei­ner Geburt.« Die Mut­ter starb bei der Geburt; der Vater, ein ehe­ma­li­ger Leh­rer, trinkt und zitiert »längst ver­ges­se­ne Dichter«.

Mit vier­zehn Jah­ren kann der Jun­ge zwar weder lesen noch schrei­ben, aber ein »Hang zu sinn­lo­ser Gewalt brü­tet bereits in ihm«. Er läuft von zu Hau­se fort und vaga­bun­diert durchs Land; immer wie­der sucht er Prü­ge­lei­en. Nach einer schwe­ren Ver­wun­dung durch zwei Schüs­se – einer in den Rücken, einer unter das Herz – wird er von der Frau eines Gast­wir­tes gepflegt und zieht wei­ter nach Texas. Er schließt sich dort einer Grup­pe von Frei­schär­lern an, die von einem Cap­tain White ange­führt wird, der den Frie­dens­ver­trag zwi­schen Mexi­ko und den USA nicht akzep­tie­ren will und den Krieg auf sei­ne Wei­se fort­zu­füh­ren gedenkt; vor allem geht es ihm dar­um, wei­te­res Land von Mexi­ko zu annek­tie­ren. Sei­ne Ban­de als »Speer­spit­ze der Frei­heit« sti­li­sie­rend, lockt er mit rei­chem mate­ri­el­lem Gewinn.

Unmit­tel­bar vor Auf­bruch in Rich­tung mexi­ka­ni­sche Gren­ze tref­fen der Jun­ge und zwei Mit­glie­der der Frei­schär­ler, die unter­wegs sind, um Aus­rüs­tungs­ge­gen­stän­de zu ergän­zen, in einem Kaff namens Lare­di­to auf einen Men­no­ni­ten, der ihnen rät, sich von Mexi­ko fern­zu­hal­ten. War­um, sagt er nicht. Nur kur­ze Zeit, nach­dem sie die mexi­ka­ni­sche Gren­ze pas­siert haben, kon­kre­ti­siert sich der Grund die­ser War­nung: Die Frei­schär­ler tref­fen auf eine Grup­pe Komant­schen-Krie­ger, die McCar­thy wie Dürers »Apo­ka­lyp­ti­sche Rei­ter« insze­niert. Am Ende stillt Staub »den Blut­fluß aus den kah­len Schä­deln der Skal­pier­ten, die, mit ihren Haar­fran­sen unter der Wun­de, ton­su­riert bis auf die Kno­chen, wie ver­stüm­mel­te, nack­te Mön­che auf der blut­pral­len Erde lagen, über­all stöhn­ten und röchel­ten Sterbende.«

Das Mas­sa­ker über­le­ben nur weni­ge; unter ande­rem der Jun­ge und ein schwer­ver­letz­ter Mit­strei­ter namens Sproule. Auf ihrer Flucht gera­ten sie in ein Dorf, das vor­her von India­nern über­fal­len wur­de. In der Kir­che machen sie eine grau­si­ge Ent­de­ckung: »Es gab kei­ne Bän­ke; auf dem Stein­bo­den sta­pel­ten sich die skal­pier­ten und nack­ten, teil­wei­se ange­fres­se­nen Lei­ber von vier­zig Men­schen, die sich im Got­tes­haus gegen die Hei­den ver­bar­ri­ka­diert hat­ten … Dunk­le Blut­zun­gen bedeck­ten den Boden, Blut leck­te über die Flie­sen …« Sproule und der Jun­ge zie­hen wei­ter »durch eine ter­ra dam­na­ta aus rau­chen­der Schlacke«.

Der Jun­ge stößt dann auf die Glan­ton-Ban­de, einer Grup­pe von Mör­dern und Skalp­jä­gern, der er sich anschließt. Die Ban­de hat mit eini­gen Orts­vor­ste­hern einen Ver­trag abge­schlos­sen, deren Städ­te oder Dör­fer vor her­um­zie­hen­den India­nern zu schüt­zen. Eigent­li­cher Kopf die­ser Ban­de ist nicht deren Füh­rer John Glan­ton, son­dern »Rich­ter« Hol­den, ein etwa zwei Meter gro­ßer Albi­no, der völ­lig unbe­re­chen­bar agiert. Auf der einen Sei­te ein emo­ti­ons­lo­ser Mör­der, auf der ande­ren Sei­te ein Intel­lek­tu­el­ler, der neu­gie­rig die Natur erkun­det und stän­dig Auf­zeich­nun­gen macht. Er zitiert Tha­les und Anaxi­man­der, beherrscht die deut­sche Spra­che und ver­ficht die Mei­nung, daß Gewalt der Grund der mensch­li­chen Natur sei.

Ben Tobin, Ban­den­mit­glied und Ex-Pries­ter, mit dem sich der Jun­ge anfreun­det, erzählt, wie die Ban­de auf der Flucht vor den Apa­chen mit­ten in der Wüs­te auf den Rich­ter traf, wo er auf einem Fels­bro­cken saß und sie schein­bar erwar­te­te. Rich­ter Hol­den führ­te sie in eine Gegend mit Vul­kan­ge­stein, das er, scha­ma­nen­gleich, pul­ve­ri­siert zu Schieß­pul­ver anrührt – ein »Teu­fels­ku­chen«, mit dem die India­ner rei­hen­wei­se nie­der­ge­streckt wer­den. Für Hol­den sind der­ar­ti­ge Met­ze­lei­en nur Aus­druck der »natür­lichs­ten Form der Aus­le­se«, wie er es nennt: »Der Krieg stellt der Macht des einen die Macht des ande­ren gegen­über, gelenkt von einer höhe­ren Macht, die die bei­den ver­eint und daher genö­tigt ist, eine Aus­wahl zu tref­fen. Krieg ist das höchs­te, denn Krieg stif­tet letzt­end­lich die Ein­heit des Lebens. Krieg ist Gott.«

Nach Mona­ten des Umher­zie­hens und Skal­pie­rens über­schrei­tet die Gang die Gren­ze zu den Ver­ei­nig­ten Staa­ten. Hier gelingt es ihnen, sich mit Hil­fe von Yuma-India­nern eines Fähr­diens­tes zu bemäch­ti­gen. Schließ­lich wer­den auch die India­ner aus dem Fähr­be­trieb gedrängt und zum Teil mas­sa­kriert. Sied­ler, die die Fäh­re benut­zen müs­sen, wer­den aus­ge­raubt oder zur Ent­rich­tung von Wucher­prei­sen gezwun­gen. Die Yuma schließ­lich sind es, die die­ses Spiel been­den, indem sie einen Groß­teil der Glan­ton-Ban­de umbrin­gen. Ein­zig der Jun­ge sowie die Ban­den­mit­glie­der Tobin und Toad­vi­ne, der Rich­ter und ein Kre­tin, den Hol­den wie einen Haus­hund hält, kön­nen in die Wüs­te ent­kom­men. Tobin und der Jun­ge, bei­de ver­letzt, tref­fen dort auf Hol­den, der sie erst zu über­re­den ver­sucht und dazu auf­ge­for­dert, dann aber bedroht, ihm eine Pis­to­le und ande­re Besitz­tü­mer zu über­ge­ben. Bei­den gelingt es, Hol­den abzu­schüt­teln, der sie aber wie­der auf­spürt und Tobin in den Rücken schießt. Den­noch gelingt es Tobin und dem Jun­gen zu ent­kom­men. Obwohl sich dem Jun­gen in der Fol­ge die Gele­gen­heit eröff­net, Hol­den zu erschie­ßen, unter­läßt er es, als sich ihre Wege kreu­zen. Geret­tet wer­den Tobin und der Jun­ge von India­nern, die sie wie­der gesund­pfle­gen. Bei­den gelingt es, sich nach San Die­go durchzuschlagen.

Vie­le Jah­re spä­ter stößt der Jun­ge, der nun »der Mann« genannt wird, in Fort Grif­fin in Texas wie­der auf Rich­ter Hol­den, der ihn anspricht: »Außer dir und mir dürf­ten wohl alle unter­ge­gan­gen sein.« Er sei von ihm, »damals wie heu­te«, ent­täuscht. In sei­nem Her­zen hät­te er, der Mann, Barm­her­zig­keit für die Hei­den bewahrt. Der Rich­ter gibt ihm zu ver­ste­hen, daß er den Saloon betre­ten habe, um zu tan­zen, und zwar den Tanz der Gewalt, des Krie­ges, des Blutvergießens:

»Wenn der Krieg nicht mehr in Ehren gehal­ten wird und sei­ne Wür­de in Fra­ge gestellt wird, sind die Red­li­chen, die die Hei­lig­keit des Blu­tes aner­ken­nen, vom Tanz aus­ge­schlos­sen; da aber der Tanz die urei­ge­ne Sache des Krie­gers ist, gerät der Tanz ohne ihn zu einem fal­schen Tanz …« Aus­sa­gen wie die­se las­sen Asso­zia­tio­nen mit Fried­rich Nietz­sches »Anmer­kun­gen über die Natur des Tan­zes« in der Fröh­li­chen Wis­sen­schaft [2. Buch, 84. Apho­ris­mus] auf­kom­men, in denen davon die Rede ist, daß »längst bevor es Phi­lo­so­phen« gab, man der »Musik die Kraft zu[gestand], die Affek­te zu ent­la­den, die See­le zu rei­ni­gen, die fero­cia ani­mi [Wild­heit der See­le] zu mil­dern, und zwar gera­de durch das Rhyth­mi­sche in der Musik. Wenn die rich­ti­ge Span­nung und Har­mo­nie der See­le ver­lo­ren­ge­gan­gen war, muß­te man tan­zen … das war das Rezept die­ser Heil­kunst … mit ihr nahm man auch die wild­ge­wor­de­nen rach­süch­ti­gen Göt­ter in Kur. Zuerst dadurch, daß man den Tau­mel und die Aus­ge­las­sen­heit ihrer Affek­te aufs Höchs­te trieb, also den Rasen­den toll, den Rach­süch­ti­gen rache­trun­ken mach­te – alle orgi­as­ti­schen Kul­te wol­len die fero­cia einer Gott­heit auf ein­mal ent­la­den und zur Orgie machen, damit sie hin­ter­her sich frei­er und ruhi­ger füh­le und den Men­schen in Ruhe las­se.« Hol­den indes bleibt bei der fero­cia ani­mi ste­hen: »Nur wer sich dem Blut des Krie­ges voll­stän­dig erge­ben hat«, so der Rich­ter, »wer am Boden der Höl­le gele­gen, das Grau­en rings­um gese­hen und schließ­lich begrif­fen hat, daß dies alles zutiefst sei­ne See­le anspricht, nur der kann wirk­lich tanzen.«

Man­cher Kri­ti­ker mein­te, in Aus­sa­gen wie die­sen Anklän­ge an Ernst Jün­ger her­aus­le­sen zu kön­nen. In der Tat drän­gen sich hier bei­spiels­wei­se bestimm­te Pas­sa­gen aus Jün­gers 1922 publi­zier­ter Schrift Der Kampf als inne­res Erleb­nis auf, in der davon die Rede ist, daß der Krieg dem Kämp­fer »den Stem­pel des Tie­ri­schen« auf­drückt, ihn ins »Gemet­zel«, in »Orgi­en der Wut« treibt. Bezeich­nen­der­wei­se beginnt Jün­gers Buch mit einem Kapi­tel über »Blut«; Jün­ger-Bio­graph Hel­muth Kie­sel ver­merkt hier­zu, daß im »Blut« die »tie­ri­sche und früh­mensch­lich wil­de Erb­schaft des heu­ti­gen Men­schen« ste­cke; in ihm sei­en immer noch »›Blut­durst‹ und Ver­nich­tungs­lust«. Jün­ger schreibt: Im Krieg »schäu­me [das Blut = die mensch­li­che Natur] auf« und las­se vom »Grun­de der See­le« »das Tier« aufsteigen.

McCar­thys Roman endet bezeich­nen­der­wei­se auf dem Abort, wo der Rich­ter den Jungen/den Mann umbringt – zumin­dest legt McCar­thy das nahe. Die letz­ten Wor­te des Rich­ters an die Adres­se des Jun­gen lau­ten: »Auf der Büh­ne ist nur Platz für ein ein­zi­ges Tier. Die übri­gen müs­sen zurück in die Nacht, in die ewi­ge, anony­me Nacht. Nach­ein­an­der stei­gen sie hin­ab ins Dun­kel hin­ter dem Ram­pen­licht.« An die­ser Stel­le wird deut­lich, wie McCar­thy sei­nen Roman gele­sen haben will, näm­lich als eine Art Toten­tanz, der die über­ra­gen­de Gewalt des Todes zum Aus­druck brin­gen will. Der mit­tel­al­ter­li­che Todes­tanz war ein Reflex auf den Ein­druck des Mas­sen­ster­bens an der Pest Mit­te des 14. Jahr­hun­derts. Er nahm volks­tüm­li­che Vor­stel­lun­gen vom nächt­li­chen Tanz der Toten als Fege­feu­er­qual auf und stellt tan­zen­de Tote oder den Tanz von Toten und Ster­ben­den dar. Daß Rich­ter Hol­den – Rich­ter über Leben und Tod – stell­ver­tre­tend für den »gro­ßen Gleich­ma­cher« Tod steht, dar­an kann am Ende des Romans kein Zwei­fel mehr bestehen: »Er [der Rich­ter] schwenkt den Hut … er wir­belt her­um … Sei­ne Füße bewe­gen sich leicht und behen­de. Er schläft nie. Er sagt, er wird nie­mals ster­ben. Er tanzt im Licht und im Schat­ten … Er tanzt und tanzt. Er sagt, er wird nie­mals sterben.«

Legt man einen der Ansät­ze zugrun­de, von denen der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Peter-André Alt aus­geht, näm­lich daß sich die »Ästhe­tik des Bösen« jen­seits aller Wer­te offen­ba­re, dann hat McCar­thy mit sei­ner Abend­rö­te ein Stück unmo­ra­li­scher Lite­ra­tur vor­ge­legt, deren Tie­fen­aus­lo­tung mensch­li­cher Mög­lich­kei­ten in der moder­ne­ren Lite­ra­tur ihres­glei­chen sucht.

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