Avantgarde, Ästhetik, Revolution

53pdf der Druckfassung aus Sezession 53 / April 2013

von Alex Kurtagic

In jeder Bewegung, die angesichts eines unreformierbaren, bröckelig gewordenen Systems fundamentale Änderungen fordert und nach neuen Grundlagen sucht, spielt der Avantgardismus eine Schlüsselrolle.

Er braucht zum Main­stream kei­nes­wegs in einem aus­schlie­ßen­den Ver­hält­nis zu ste­hen: Es ist mög­lich, ja sogar ein Vor­zug, bei­de Ansät­ze zu einer kohä­ren­ten Stra­te­gie zu bündeln.

Zual­ler­erst möch­te ich mein Ver­ständ­nis der poli­ti­schen Begrif­fe »rechts« und »links« erläu­tern. Als »Lin­ke« ver­ste­he ich die Anhän­ger der Ideo­lo­gie der Gleich­heit und des Fort­schritts, die mit dem Libe­ra­lis­mus und der Moder­ne ver­knüpft ist. »Rech­te« hin­ge­gen sind die Ver­tre­ter eli­ta­ris­ti­scher und zykli­scher Welt­an­schau­un­gen, die mit dem Tra­di­tio­na­lis­mus (im Sin­ne Evo­las) ver­knüpft sind. Damit mei­ne ich nicht die Kon­ser­va­ti­ven, die ich als klas­si­sche Libe­ra­le mit sozi­al­kon­ser­va­ti­ven Vor­stel­lun­gen betrachte.

Die Autoren der Rech­ten ste­cken den Groß­teil ihrer Ener­gie in die Ana­ly­se und Kri­tik des moder­nen Dys­to­pi­as. Das ist zwar not­wen­dig, aber nicht aus­rei­chend: Fest­zu­stel­len, daß wir auf dem fal­schen Bahn­hof gelan­det sind und eigent­lich woan­ders sein soll­ten, ohne gleich­zei­tig zu sagen, wohin die Rei­se gehen soll, schafft noch kei­ne Bewe­gung, son­dern zeigt nur ihr Feh­len auf. Damit die Din­ge in Gang kom­men, damit eine Idee Anhän­ger fin­det, die ein­an­der in einem kol­lek­ti­ven Akt in Bewe­gung set­zen, bedarf es eines vor­for­mu­lier­ten und kom­mu­ni­zier­ba­ren Ziels. Die­ses Ziel ist das Uto­pia der Bewe­gung: die voll­kom­me­ne Ver­wirk­li­chung ihrer Vorstellungen.

Uto­pien exis­tie­ren nur in der Vor­stel­lungs­kraft. Zumeist wer­den sie durch phan­tas­ti­sche Kunst oder Lite­ra­tur ver­mit­telt. Bes­ten­falls wer­den sie nur teil­wei­se und/oder auf unvoll­kom­me­ne Wei­se ver­wirk­licht. Schlimms­ten­falls sind sie extrem unrea­lis­tisch und unprak­tisch – was auf die meis­ten von ihnen zutrifft. Das bedeu­tet nicht, daß sie unnütz wären: Viel­mehr sind sie eine not­wen­di­ge Vor­aus­set­zung, damit etwas in Bewe­gung kommt. Ihr zün­den­des Ele­ment ist nicht ihre wis­sen­schaft­li­che Exakt­heit, son­dern ihre Fähig­keit, in aus­rei­chend gro­ßen Kol­lek­ti­ven eine enor­me emo­tio­na­le Kraft frei­zu­set­zen. Ihre Kon­zep­ti­on ist die Her­aus­for­de­rung für den Avant­gar­dis­ten, den intel­lek­tu­el­len Außen­sei­ter, den Pio­nier, den Träu­mer, den Künst­ler. Sie sind die Indi­vi­du­en oder die Grup­pen von Indi­vi­du­en, deren Auf­ga­be es ist, uns aus den kogni­ti­ven Käfi­gen zu befrei­en, in denen uns das herr­schen­de Sys­tem gefan­gen­hält, und sei­ne Hyp­no­se zu bre­chen, die uns glau­ben machen will, daß alles, was es mit Tabus belegt hat, nicht denk­bar ist.

Die Befür­wor­ter des Wegs über den Main­stream ver­zwei­feln manch­mal an die­sen Träu­mern, weil sie ihnen als unprak­tisch, exzen­trisch und unver­nünf­tig erschei­nen. Das Pro­blem ist, daß die­se Vor­wür­fe in der Tat oft auf Inno­va­to­ren und Iko­no­klas­ten zutref­fen: schöp­fe­ri­sche Typen sind ein ganz eige­nes Völk­chen, und die­je­ni­gen, die wirk­lich inno­va­tiv, wirk­lich avant­gar­dis­tisch und weni­ger an die Fes­seln der Kon­ven­ti­on gebun­den sind, las­sen ihre weni­ger krea­ti­ve Umwelt oft geschockt, besorgt oder fas­sungs­los zurück. Das hat zwei­fel­los gute wie schlech­te Sei­ten, ver­min­dert aber nicht den Wert des krea­ti­ven Pro­zes­ses an sich, auch wenn vie­le sei­ner Pro­duk­te wie­der ver­wor­fen wer­den. Die Auf­ga­be des Ver­mitt­lers, der zwi­schen Avant­gar­de und Main­stream steht, ist der wohl­kal­ku­lier­te Zugriff auf jenes Mate­ri­al des Avant­gar­dis­ten, das es ihm ermög­licht, die Gren­zen des Main­streams wei­ter aus­zu­deh­nen, mit dem lang­fris­ti­gen Ziel, ihn eines Tages von Grund auf zu transformieren.

Obwohl sie die Wis­sen­schaft, die Daten und die logi­schen Argu­men­te auf ihrer Sei­te hat, befin­det sich die Rech­te seit vie­len Jahr­zehn­ten auf dem Rück­zug. Das allein soll­te genü­gen, um deut­lich wer­den zu las­sen, daß die Men­schen mehr als nur Daten, Argu­men­te und Fak­ten benö­ti­gen, um zu einer Ände­rung ihres Ver­hal­tens bewo­gen zu wer­den. Den­noch geben sich vie­le, die sich auf der Sei­te der Rech­ten sehen, der Illu­si­on hin, daß ledig­lich mehr Auf­klä­rung nötig sei. Dabei haben wir tag­täg­lich das denk­bar schla­gen­ds­te Gegen­bei­spiel vor Augen, das uns zeigt, war­um die­ser Ansatz fehl­schla­gen muß: die Kon­sum­ge­sell­schaft, die nicht auf einer uti­li­ta­ris­ti­schen Logik basiert, son­dern auf Roman­tik und Tag­träu­me­rei, Sta­tus­geh­abe und uto­pi­schen Vor­stel­lun­gen. Man kann des­halb mit eini­ger Berech­ti­gung sagen, daß der Tag­träu­mer, der die Fähig­keit hat, ande­re mit sei­nen Träu­men anzu­ste­cken, ein grö­ße­rer Prag­ma­ti­ker ist als der selbst­er­nann­te, prag­ma­tisch ori­en­tier­te Ratio­na­list, der ande­re über die Ver­nunft zu über­zeu­gen sucht. Der ers­te­re ver­steht näm­lich die Irra­tio­na­li­tät der mensch­li­chen Natur, und spielt mit ihr (wie die Kat­ze mit der Maus?), wäh­rend letz­te­rer von abs­trak­ten Men­schen träumt, die stets aus ratio­nal begrün­de­ten Eigen­in­ter­es­sen her­aus handeln.

Aber die Men­schen wer­den viel stär­ker von dem Bedürf­nis nach Selbst­ach­tung und Zuge­hö­rig­keits­ge­fühl ange­trie­ben als durch abs­trak­te Ver­nunft. Wer­den sie mit Flu­ten von ein­an­der wider­spre­chen­den und schwer ver­dau­li­chen Daten und Argu­men­ten kon­fron­tiert, die alle­samt das Mono­pol auf die Wahr­heit gepach­tet haben wol­len, dann ent­schei­den sie sich meis­tens für den leich­te­ren Weg und die emo­tio­nal und sozi­al bequems­te Opti­on. Für die Mehr­heit der Men­schen bedeu­tet das jene Wahr­heit, die das kul­tu­rel­le Estab­lish­ment anbie­tet, denn sie ver­spricht ihnen leich­te­re sozia­le Inte­gra­ti­on und höhe­re Beloh­nung. Wer sich für eine Wahr­heit ent­schei­det, die vom kul­tu­rel­len Estab­lish­ment geäch­tet wur­de, muß auf alter­na­ti­ve Netz­wer­ke und oft sogar unkon­ven­tio­nel­le Metho­den zurück­grei­fen, um in einem Sys­tem zu über­le­ben, das danach trach­tet, Abweich­ler zu besei­ti­gen. So wird die Fra­ge nach der Wahr­heit zur Fra­ge nach der Lebens­ge­stal­tung schlecht­hin, was wohl beson­ders in einer mate­ria­lis­ti­schen Gesell­schaft der Fall ist.

Aus die­sen Grün­den ist eine Stra­te­gie, die sich aus­schließ­lich auf Inhal­te kon­zen­triert, zum Schei­tern ver­ur­teilt. Eine effek­ti­ve Stra­te­gie muß daher nicht anders als die Kon­sum­psy­cho­lo­gie sys­te­ma­tisch dar­auf abzie­len, die vor­ra­tio­na­len Antrie­be des mensch­li­chen Ver­hal­tens anzu­spre­chen. Die Kon­sum­psy­cho­lo­gie zeigt uns, wie man Stil und Ästhe­tik gezielt anwen­det, um per­ma­nent das in der Kon­sum­ge­sell­schaft erwünsch­te Ver­hal­ten (also Kon­sum) zu erzeu­gen. Die Auf­ga­be von Wer­be­agen­tu­ren ist die Nut­zung von Stil und Ästhe­tik, um die Öffent­lich­keit zum Kon­sum zu mobi­li­sie­ren, oder sie dazu zu bewe­gen, eine Kam­pa­gne zu unter­stüt­zen oder einen poli­ti­schen Kan­di­da­ten zu wählen.

Zumin­dest die wei­ßen Wäh­ler haben Oba­ma wohl vor allem aus Grün­den des guten Stils gewählt: Er hat eine gute Stim­me, er ist tele­gen und sein »Schwarz­sein« gab Mil­lio­nen von Wei­ßen die Chan­ce, zu bewei­sen (vor allem sich sel­ber), daß sie kei­ne Ras­sis­ten sei­en. Slo­gans wie »Hope« und »Chan­ge« hat­ten null Inhalt und dien­ten nur dazu, die »Oba­miko­nen« zu ver­zie­ren; und doch weck­ten sie bei den Wäh­lern das Bedürf­nis nach »Hoff­nung« und »Ver­än­de­rung«, tra­fen also den rich­ti­gen Nerv. Fern­seh­de­bat­ten über Poli­tik setz­ten auf kna­cki­ge Optik und ein­gän­gi­gen Sound; es ging mehr dar­um, ob die Kan­di­da­ten gut aus­sa­hen, wäh­rend sie angeb­lich »wich­ti­ge« The­men dis­ku­tier­ten, als um die wich­ti­gen The­men selbst. Das nervt? Gewiß. Aber es ist kein Kraut dage­gen gewach­sen. Es funktioniert.

Selbst­ver­ständ­lich zählt auch der Inhalt. Eine Stra­te­gie, die sich rein auf äußer­li­che Rei­ze stützt, ohne ein Min­dest­maß an Inhalt zu besit­zen, wird irgend­wann schei­tern. Eine erfolg­rei­che Stra­te­gie muß also sowohl Stil als auch Inhalt haben – einen Inhalt, der dem Stil Sub­stanz gibt, und einen Stil, der dem Inhalt eine Form gibt. Eine Stra­te­gie also, die sowohl einen Inhalt als auch die Natur des Inhalts ver­mit­telt. Das ist alles nichts Neu­es, aber es ist trotz­dem ver­wun­der­lich, wie vie­le Men­schen hart­nä­ckig die Bedeu­tung von Stil und Ästhe­tik unter­schät­zen. Hat das mit einem instink­ti­ven Wider­wil­len gegen ein Zeit­al­ter zu tun, das so pene­trant das Design über das Sein stellt?

Meta­po­li­tisch gese­hen, kön­nen wir also von einer Bewaff­nung der Ästhe­tik spre­chen: Das bedeu­tet, Ideo­lo­gie in (höhe­re oder nie­de­re) Kunst zu über­set­zen, um mit deren Hil­fe die Gesell­schaft und ihre Kul­tur in eine vor­be­stimm­te Rich­tung zu lei­ten, damit sie grund­le­gend ver­än­dert wer­den kann.

Wie läuft das ab? Zunächst lernt ein Indi­vi­du­um über Kon­takt mit einer peer group eine bestimm­te Sze­ne ken­nen. Die Reak­ti­on kann nega­tiv oder posi­tiv aus­fal­len, ist meis­tens direkt und instink­tiv, als Fol­ge bestimm­ter Fak­to­ren wie bio­lo­gi­scher Dis­po­si­ti­on, per­sön­li­cher Bio­gra­phie und sozio­lo­gi­scher Umstän­de. Je nach Beschaf­fen­heit die­ser Sze­ne unter­lie­gen ihre Mit­glie­der einem radi­ka­len Bewußt­seins­wan­del, der sich mit­un­ter in stolz beton­tem Außen­sei­ter­tum äußert und auch dann noch in ihnen fort­wirkt, wenn sie über ihre Sze­ne hin­aus­ge­wach­sen sind. Auch wenn sie eines Tages ihre Kluft able­gen und ein nor­ma­les Leben als nor­ma­le Arbeit­neh­mer füh­ren, wird ihre Bin­dung anhal­ten – manch­mal viel­leicht nur als scham­haft bewahr­tes Geheim­nis, obgleich Spu­ren ihrer Ver­gan­gen­heit sich wei­ter­hin in ihren Denk­mus­tern, ihrem Lebens­stil, ihrem Voka­bu­lar, ihrer Zim­mer­aus­stat­tung oder ihrem sozia­len Umgang fin­den. Dar­über hin­aus füh­len sich ehe­ma­li­ge Mit­glie­der noch nach Jahr­zehn­ten ein­an­der ver­bun­den und wit­tern ein­an­der schnell am Habitus.

All dies wur­de auf allein ästhe­ti­schem Wege, also durch Kunst, erreicht. Noch­mals: Die Inten­si­tät, mit der Wer­te ver­in­ner­licht wer­den, hat über­haupt nichts mit logi­scher oder wis­sen­schaft­lich kor­rek­ter Prä­sen­ta­ti­on zu tun, son­dern allein mit kunst­vol­len, attrak­ti­ven und ästhe­tisch anspre­chen­den For­men der Ver­mitt­lung, die bei den Rezi­pi­en­ten star­ke emo­tio­na­le Bewe­gun­gen aus­zu­lö­sen imstan­de sind. Und jeder, der ein Gespür für Popu­lär­kul­tur hat, weiß, daß ihre Macht, extre­me Gefüh­le aus­zu­lö­sen und die Mas­sen zu mobi­li­sie­ren – bis zu einem Gra­de, an dem sie gewalt­tä­tig, irra­tio­nal und wider ihre ver­nunft­ge­mä­ßen Eigen­in­ter­es­sen han­deln –, nicht unter­schätzt wer­den darf.

Natür­lich ist Mas­sen­mo­bi­li­sie­rung in der Popu­lär­kul­tur nur dann mög­lich, wenn das frag­li­che Pro­dukt oder Ereig­nis gän­gi­ge Wer­te des kul­tu­rel­len Main­streams ver­packt. Je weni­ger die­se Wer­te Teil des Main­streams sind, um so gerin­ger das Mobi­li­sie­rungs­po­ten­ti­al. Den­noch ist es im Zeit­al­ter der mecha­ni­schen Pro­duk­ti­on mög­lich, mit den syn­er­ge­tisch-ästhe­ti­schen Mit­teln der Popu­lär­kul­tur auch radi­kal sys­tem­feind­li­che Posi­tio­nen und Ideo­lo­gien zu ver­brei­ten – die wie­der­um unter den pas­sen­den Umstän­den imstan­de sind, aus­rei­chend gro­ße Grup­pen zu mobi­li­sie­ren oder sogar eine neue poli­ti­sche Ord­nung her­bei­zu­füh­ren: Die Bewaff­nung der Ästhe­tik bedeu­tet nichts ande­res als die Schaf­fung von Berüh­rungs­flä­chen, die die Über­set­zung des Meta­po­li­ti­schen ins Poli­ti­sche, der Avant­gar­de in den Main­stream ermöglichen.

Ein wei­te­rer Grund, war­um ich die Rol­le der Ästhe­tik in meta­po­li­ti­schen Fra­gen mit sol­chem Nach­druck beto­ne, ist die Tat­sa­che, daß ein wohl­for­mu­lier­tes und voll­endet aus­ge­führ­tes ästhe­ti­sches Sys­tem der schnells­te Weg ist, um Glaub­wür­dig­keit zu erlan­gen, also ein Bedeu­tungs­feld aus Wer­ten und Idea­len zu schaf­fen, das auch unpo­li­ti­schen Betrach­tern als glaub­wür­dig erscheint. Bei poli­ti­schen Beob­ach­tern mag es, je nach ihrer Aus­rich­tung, Stolz oder Furcht erwe­cken. Beur­tei­len wir Bücher nicht doch nach ihrem Ein­band? Beur­tei­len wir Men­schen nicht doch nach ihrem Äußeren?

Ich behaup­te, daß die man­geln­de Glaub­wür­dig­keit unse­rer Wer­te und Idea­le außer­halb unse­res unmit­tel­ba­ren Milieus zum Teil mit dem Man­gel an pro­fes­sio­nell aus­ge­führ­ten ästhe­ti­schen Kon­zep­ten zu tun hat, die unse­ren meta­po­li­ti­schen Ideen eine adäqua­te Form geben und unse­re Ideen auf eine leben­di­ge, zeit­ge­mä­ße und (da die Men­schen Hoff­nung und Ver­än­de­rung brau­chen) vor allem zukunfts­ge­rich­te­te Wei­se neu for­mu­lie­ren. Man muß wohl nicht noch dazu sagen, daß ande­re wich­ti­ge Fak­to­ren, wie der Druck der öko­no­mi­schen Zwän­ge, eine erheb­li­che Rol­le spie­len. Aber ohne ein opti­ma­les ästhe­ti­sches Sys­tem ist es schwie­rig, effek­ti­ve Poli­tik zu betrei­ben. Man kann kei­ne Idee ohne Mar­ke­ting ver­kau­fen. Und man kann vor allem kein Eli­te­pu­bli­kum ohne das rich­ti­ge Mar­ke­ting ansprechen.

Ein chao­ti­sches Zeit­al­ter bie­tet Mög­lich­kei­ten für die­je­ni­gen, die das Talent haben, einen neu­en Traum zu »ver­kau­fen«. Obwohl das gegen­wär­ti­ge libe­ra­le, ega­li­tä­re, pro­gres­si­ve Estab­lish­ment gera­de­zu unbe­sieg­bar erscheint, steht doch kei­ne ein­heit­li­che, mono­li­thi­sche, tota­li­tä­re Ord­nung dahin­ter. Es han­delt sich eher um eine Art Regen­bo­gen­ko­ali­ti­on aus wider­strei­ten­den und manch­mal wider­sprüch­li­chen Frak­tio­nen, die gewis­se Grund­über­zeu­gun­gen tei­len. Sie wir­ken sich dege­ne­ra­tiv und des­in­te­grie­rend aus, und die logi­sche Fol­ge ihres Pro­jekts wäre letzt­end­lich der Zusam­men­bruch der Gesell­schaft. Seit der Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus zur offi­zi­el­len Regie­rungs­po­li­tik und der Glo­ba­lis­mus zum Para­dig­ma des moder­nen Kapi­ta­lis­mus gewor­den ist, zeich­net sich das immer deut­li­cher ab.

Da die­se Din­ge der Natur zuwi­der­lau­fen, erzeu­gen sie per­ma­nent Streß und Anspan­nung. Auf­split­te­rung, Dege­ne­ra­ti­on, Des­in­te­gra­ti­on und Erschöp­fung machen sich breit. Das Ende des Wohl­stands im Wes­ten wird die Befrie­dung sozia­ler und kul­tu­rel­ler Erhe­bun­gen zusätz­lich erschwe­ren. Im Zustand des eska­lie­ren­den Durch­ein­an­ders wird sich auch der unpo­li­ti­sche Durch­schnitts­bür­ger neu­en, exo­ti­schen, sogar qui­chot­ti­schen Ideen öff­nen. Wenn das Cha­os eines Tages groß genug ist, wird das Bedürf­nis nach radi­ka­len Ideo­lo­gien, stren­gen Reli­gio­nen, nach einem auto­ri­tä­ren star­ken Mann oder Cäsa­ren wachsen.

Man wird nach sinn­stif­ten­den Sym­bo­len suchen, nach uto­pi­schen Tag­träu­men, nach neu­en For­men der Roman­tik, nach etwas, das Ord­nung und Kraft aus­strahlt, das sich aus dem Cha­os her­aus­hebt und dem ein­zel­nen das Gefühl gibt, Teil von etwas Kraft­vol­lem und Mäch­ti­gem zu sein. Die­se Visi­on mag nun über­trie­ben gran­di­os klin­gen, aber ihre Anfän­ge lie­gen näher, als man glaubt: In der Tat begin­nen sie mit Stift und Papier, mit Pin­sel und Lein­wand, mit Gitar­re und Plek­trum; sie grün­den auf der Phan­ta­sie, die die­se Uten­si­li­en mit Leben erfüllt.

Wenn Revo­lu­tio­nen mit Krit­ze­lei­en begin­nen, dann begin­nen Krit­ze­lei­en mit Tag­träu­men. Und wenn das in den Ohren har­ter poli­ti­scher Prag­ma­ti­ker vage und nebu­lös klingt, dann soll­ten wir uns dar­an erin­nern, daß Wahr­hei­ten wie die­se nach lan­gen Peri­oden des mate­ri­el­len Wohl­stands und der poli­ti­schen Sta­bi­li­tät immer schwach aus­se­hen, wäh­rend das Sys­tem der Mehr­heit stark und fest­ge­mau­ert erscheint. Wenn sich aber nach kata­stro­phi­schen Umwäl­zun­gen die Sozio­lo­gen ver­sam­meln, um ihre Aut­op­sie­be­rich­te zu schrei­ben und lan­ge Ursa­chen­ka­ta­lo­ge des Kol­lap­ses zu erstel­len, dann sehen die besag­ten Wahr­hei­ten nicht mehr ganz so nebu­lös aus. Im Gezei­ten­wech­sel der Kul­tur begin­nen einst irre­al anmu­ten­de Tag­träu­me neue Gestalt anzu­neh­men. Wie lan­ge wird es noch dauern?

Wir kön­nen es nicht wis­sen. Aber wenn wir nicht jetzt damit begin­nen, die meta­po­li­ti­sche Basis unse­rer neu­en Ord­nung zu gestal­ten, wenn wir nicht jetzt eine viri­le Gegen­kul­tur errich­ten, die die­se Ord­nung errich­ten kann, dann könn­te es pas­sie­ren, daß uns eines Tages, nach dem Wech­sel der Gezei­ten, ande­re weit vor­aus sind, weil wir zu lan­ge dar­an gezwei­felt haben, ob er jemals kom­men wird.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)

Für diesen Beitrag ist die Diskussion geschlossen.