Die Dichter und das Augusterlebnis 1914

Schwerpunkt der aktuellen Druckausgabe der Sezession ist das "Augusterlebnis" des Jahres 1914.

Dessen verschiedene Facetten  - historische, philosophische, künstlerische  - beleuchten Martin Grundweg, Frank Lisson und Benjamin Jahn Zschocke. Am eindrücklichsten fand ich jedoch den Beitrag "Der Krieg und die Schriftsteller" von Günter Scholdt.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Die Band­brei­te der Köp­fe, die sich schier vor­be­halts­los dem patrio­ti­schen Rausch hin­ga­ben, der im August 1914 ganz Deutsch­land durch­schau­er­te, ist ver­blüf­fend, zumal gera­de die Kunst und Lite­ra­tur der bei­den Jahr­zehn­te vor dem Krieg eher durch “Oppo­si­ti­on gegen das Eta­blier­te” gekenn­zeich­net war. Nun schien die inner­lich viel­fach gespal­te­ne Nati­on über alle Klassen‑, Kon­fes­si­ons- und Par­tei­en­schran­ken hin­weg mit einem Schlag durch ein gro­ßes, erha­be­nes Schick­sal geeint. Kaum einer konn­te sich die­sem Sog ent­zie­hen. Den kon­ge­nia­len “Slo­gan” hat­te Kai­ser Wil­helm II. aus­ge­ge­ben: “Ich ken­ne kei­ne Par­tei­en mehr, ich ken­ne nur noch Deutsche.”

Frank Lis­son sieht in der Tie­fen­di­men­si­on der Gescheh­nis­se die “Geis­tes­kri­se” der Zeit, die aus His­to­ris­mus, Rela­ti­vis­mus und dem Nihi­lis­mus der Moder­ne erwach­sen war – nun soll­te ein “apo­ka­lyp­ti­sches Gegen­feu­er” wie­der rei­nen Tisch machen, die Ver­wir­rung auf­lö­sen und wie­der zu Taten führen.

Und tat­säch­lich hob das August­er­leb­nis wenigs­tens kurz­zei­tig alle poli­ti­schen, sozia­len, geis­ti­gen Sor­gen und Nöte auf und brach­te end­lich die ersehn­te Ein­heit von Den­ken, Han­deln und Leben.

Noch nach 1945 schrieb der libe­ra­le His­to­ri­ker Fried­rich Meine­cke (zitiert in dem Bei­trag von Mar­tin Grundweg):

Die Erhe­bung der August­ta­ge 1914 gehört für alle, die sie mit­er­lebt haben, zu den unver­lier­ba­ren Erin­ne­rungs­wer­ten höchs­ter Art – trotz ihres eph­eme­ren Cha­rak­ters. Alle Ris­se, die im deut­schen Men­schen­tum sowohl inner­halb des Bür­ger­tums wie zwi­schen Bür­ger­tum und Arbei­ter­schaft bestan­den hat­ten, über­wölb­ten sich plötz­lich durch die gemein­sa­me Gefahr, die über uns gekom­men war und uns aus der Seku­ri­tät mate­ri­el­len Gedei­hens herausriß.

Hier eini­ge von Gün­ter Scholdt zitier­te Zeugnisse:

Der Best­sel­ler­au­tor Emil Lud­wig notier­te am 4. August 1914 in sei­nem Tage­buch: “Ein Pathos, das gan­ze drei gan­ze Tage währt? Ein unend­li­ches Pathos! In die­sen Tagen war jeder ein­zel­ne zugleich das Gan­ze, jeder trug die deut­sche Kro­ne, jeder war Michael.”

Der Bild­hau­er Ernst Bar­lach sprach von “einem gro­ßen Lie­bes­aben­teu­er” und “Glücks­ge­fühl”.

Geor­ges Lieb­lings­jün­ger Fried­rich Gun­dolf froh­lock­te, “eine sol­che Ein­heit zu erle­ben”, sei “schon einen Welt­krieg wert”.

Har­ry Graf Kess­ler mein­te, aus dem “in eine neue Form” gegos­se­nen deut­schen Volk sei etwas aus “unbe­wuß­ten Tie­fen” empor­ge­stie­gen, “das ich nur mit einer Art Hei­lig­keit ver­glei­chen kann”.

Richard Deh­mel sprach von einem an Pfings­ten erin­nern­den “see­li­schen Flammenwunder”.

Alfred Döb­lin ver­kün­de­te noch im August 1917: “Der Krieg hat eine Volks­ge­mein­schaft geschaf­fen, wie die lan­gen Frie­dens­jah­re nicht”, erho­ben über “Kas­ten und Stän­de” mit “von Stun­de zu Stun­de” wach­sen­der Kraft.

Robert Musil erfuhr die Mobil­ma­chung in Ber­lin als “gro­ßes Erleb­nis”, “das Gott nahe­bringt”, die Todes­furcht zurück­drän­ge oder das Gefühl erwe­cke, Goe­the “zu verteidigen”.

Carl Zuck­may­er beschrieb im Rück­blick den Sol­da­ten­dienst ange­sichts des Ernst­falls als “gewal­ti­ges, berau­schen­des Aben­teu­er, für das man das biß­chen Zucht und Kom­miß­kram gern in Kauf nahm. Wir schrien ‘Frei­heit’, als wir uns in die Zwangs­ja­cke der preu­ßi­schen Uni­form stürzten.”

Sig­mund Freud (!) jubel­te bei Kriegs­aus­bruch, seit 30 Jah­ren gehö­re Öster­reich-Ungarn erst­mals wie­der sei­ne “gan­ze Libido”.

An den patrio­ti­schen Bekennt­nis­sen und der Apo­lo­gie der Kriegs­jah­re betei­lig­ten sich unter ande­rem Tho­mas Mann, Rai­ner Maria Ril­ke, Frank Wede­kind, Arnold Zweig, Gus­tav Frens­sen, Her­mann Suder­mann, Ernst Tol­ler, Her­mann Hes­se, Alfred Kerr oder ein jun­ger Gym­na­si­ast namens Ber­tolt Brecht – also auch eine erkleck­li­che Anzahl von Autoren, die nach 1918 radi­ka­le Kehrt­wen­dun­gen machen soll­te. Auch die Frau­en stan­den nicht nach: die Begeis­te­rung ergriff etwa Else Ury (“Trotz­kopf”), Ina Sei­del oder Thea von Har­bou, die spä­ter die Dreh­bü­cher für Fritz Langs monu­men­ta­le Stumm­fil­me schrieb.

Wie ein Who is Who liest sich auch die Lis­te der Kriegs­frei­wil­li­gen: Oskar Kokosch­ka, Ernst und Fried­rich Georg Jün­ger, Kla­bund, Joseph Roth, Alex­an­der Ler­net-Holenia, August Stramm, Lud­wig Tho­ma, Lud­wig Gang­ho­fer, Ernst Wie­chert, Wal­ter Hasen­cle­ver, Wal­ter Flex…

Auf uns Nach­ge­bo­re­ne und aus der Distanz der Zeit “Bes­ser­wis­sen­de” wirkt all dies eben­so selt­sam wie auf tra­gisch ergrei­fend. Über­ein­stim­mend beschrie­ben die Zeit­zeu­gen das “August­er­leb­nis” als eine Art kol­lek­ti­ves “Gip­fel­er­leb­nis”, durch­aus im Sin­ne des Psy­cho­lo­gen Abra­ham Maslow. “Peak expe­ri­en­ces” sind nach Maslow jähe Augen­bli­cke der Eksta­se und Freu­de, die einen Men­schen unwill­kür­lich über­kom­men, und mit einem Schlag die Bedeu­tungs­lo­sig­keit und Zufäl­lig­keit sei­nes eige­nen Lebens auf­zu­he­ben scheinen.

Sie sind häu­fig gekenn­zeich­net durch das Gefühl, end­lich die ulti­ma­ti­ve Wahr­heit, das Geheim­nis des Daseins selbst zumin­dest annä­hernd berührt zu haben. Wer sie erlebt, ver­spürt die Gewiß­heit: Das ist es also! Alle Fil­ter und Schlei­er fal­len von den Din­gen, an die man sich zu sehr gewöhnt hat, und sie erschei­nen nun in neu­em Licht, in der vol­len Fri­sche ihres So-Seins, durch­drun­gen von einem tief­grei­fen­den Sinn. Viel­leicht hat­te Heid­eg­ger ähn­li­ches im Sinn, wenn er von der “Ent­ber­gung des Seins” sprach.

Im Fal­le des August­er­leb­nis war das Gefühl vor­herr­schend, Teil eines gro­ßen, leben­di­gen, schick­sals­er­füll­ten Gan­zen zu sein. Gera­de die Gefahr ent­hüll­te sei­nen Wert, sei­ne Ein­zig­ar­tig­keit und sei­ne Bestimm­mung. Was nach­her geschah, ließ die­se nahe­zu reli­giö­se Epi­pha­nie als Trug­bild und Illu­si­on erschei­nen: als hät­te sich Gott in all sei­ner Glo­rie gezeigt, nur um die­je­ni­gen, denen er sich offen­bart hat­te, zu nar­ren und in den Abgrund zu führen.

Ent­täu­schun­gen wie die­se, die man auch im Klei­nen und Pri­va­ten erle­ben kann, füh­ren oft dazu, daß man im Nach­hin­ein am Cha­rak­ter der Wahr­heit selbst ver­zwei­felt, allen Glau­ben und alle Hoff­nung ver­liert: wie kann es sein, daß etwas, das so groß und wahr und gött­lich erschien, zu einem solch furcht­ba­ren Ende führ­te? Kann man etwa sei­nen Gefüh­len, und sei­en sie noch so erhe­bend und gran­di­os, nicht ver­trau­en? Sind das Hei­li­ge und Erha­be­ne über­haupt nur sub­jek­ti­ve Emp­fin­dun­gen ohne objek­ti­ven Gegen­wert? Was für ein Kri­te­ri­um hat man dann noch, um das Wah­re vom Fal­schen zu schei­den, Gott vom Teu­fel, die Wahr­heit von der Lüge, den Sinn vom Unsinn?

Die Deut­schen haben im Lau­fe der Geschich­te des 20. Jahr­hun­derts der­ar­ti­ge “Gip­fel­er­leb­nis­se” teu­er bezahlt. Ihre Fol­gen sind ihnen trau­ma­tisch in die Kno­chen gebrannt; heu­te miß­trau­en sie sich und ihren Eksta­sen und ihrer Begeis­te­rungs­fä­hig­keit zutiefst. Allen­falls im Rah­men von Fuß­ball­meis­ter­schaf­ten wer­den die Zügel wie­der etwas gelo­ckert; und selbst dann fin­det sich immer wie­der ein Anlaß, den Sta­chel im Fleisch zu beschwö­ren, um jeg­li­che Selbst­über­he­bung zu bremsen.

Dem Rausch von 1914 stan­den kom­ple­men­tär und wohl als direk­te Fol­ge die hef­ti­gen Ver­wer­fun­gen, Über­spannt­hei­ten und Radi­ka­lis­men der Nach­kriegs­zeit gegen­über, die schon wie­der eine Vor­kriegs­zeit war. Dazwi­schen lag eine bei­spiel­lo­se Höl­len­fahrt, in der neu­ar­ti­ge apo­ka­lyp­ti­sche Untie­re ihre Häup­ter erho­ben, die Schre­cken des moder­nen, tech­ni­sier­ten Massenzeitalters.

Deutsch­land war nach der Kata­stro­phe inner­lich zer­split­ter­ter als je zuvor. Die Beschwö­rung der natio­na­len Ein­heit und des monu­men­ta­len Schick­sals durch die poli­ti­sche Reli­gi­on des Natio­nal­so­zia­lis­mus erscheint heu­te als eher gespens­ti­sche Neu­auf­la­ge des “August­er­leb­nis­ses” von 1914 in dämo­ni­sier­ter, zuge­spit­zer, radi­ka­li­sier­ter, letzt­lich patho­lo­gi­scher Form; sie hat­te auch bei wei­tem nicht sei­ne umfas­sen­de Reichweite.

Die “Volks­ge­mein­schaft” des Natio­nal­so­zia­lis­mus blieb weit­ge­hend ein par­tei­ideo­lo­gi­sches Kon­strukt, das zuvie­le Tei­le des Vol­kes aus­schloß oder gar als Fein­de mar­kier­te. Ein erheb­li­cher Teil des auf die­se Jah­re zurück­ge­hen­den deut­schen Trau­mas ver­dankt sich nicht nur den Schand­ta­ten des Regimes, son­dern auch den posi­ti­ven Gefüh­len und Impul­sen, der Hoff­nung und dem Glau­ben, die es zu mobi­li­sie­ren und zu benut­zen verstand.

Wer heu­te, wie wir Sezes­sio­nis­ten etwa, das Pathos des “ego non” pflegt, mag sich fra­gen, wie er damals, im August 1914, reagiert hät­te. Es gibt nicht nur Zei­ten, in denen es eine Fra­ge der Ehre und Inte­gri­tät ist, sich abseits zu hal­ten – es gibt auch Zei­ten, in denen die Ver­wei­ge­rung der Anteil­nah­me schä­big, ego­is­tisch, eng­her­zig und klein­lich schmeckt. Gewiß erschien das vie­len durch­aus edlen Köp­fen so im August 1914: nun, da es um das Gan­ze der Nati­on, um Sein oder Nicht­sein ging, woll­te kei­ner fehlen.

Es gibt eine berühm­te Pro­pa­gan­da-Zeich­nung von Jac­ques-Lou­is David, die eine sol­che Sze­ne zeigt. Ergrif­fen von den “Ideen von 1789” ver­sam­meln sich die Abge­ord­ne­ten des Drit­ten Stan­des im Juni des Revo­lu­ti­ons­jah­res in der Ball­sport­hal­le von Ver­sailles, um gemein­sam den fei­er­li­chen Schwur zu leis­ten, Frank­reich eine neue Ver­fas­sung zu geben. Mei­ne Lieb­lings­fi­gur auf die­sem Bild ist der Abge­ord­ne­te Joseph Mar­tin-Dauch am unte­ren rech­ten Rand (har­har!), der sich mit gesenk­tem Kopf stör­risch ein­igelt und trotz enthu­si­as­ti­scher Auf­for­de­run­gen der Umste­hen­den als ein­zi­ger den Schwur ver­wei­gert, wäh­rend sich die gan­ze Hal­le in brü­der­li­cher und frei­heit­li­cher Eksta­se in die Arme fällt.

Die Wei­ge­rung Mar­tin-Dauchs ist his­to­risch ver­bürgt. David, ein enthu­si­as­ti­scher Anhän­ger der Revo­lu­ti­on, hat ihn offen­bar als Kon­trast­fi­gur zu den heh­ren, ergrif­fe­nen, vor noblem Idea­lis­mus aus allen Näh­ten plat­zen­den Abge­ord­ne­ten kon­zi­piert, als gran­ti­gen Reak­tio­när, der sich krampf­haft dem neu­en, fri­schen Wind der Frei­heit, Gleich­heit und Brü­der­lich­keit ver­wei­gert.  Das Bild ent­stand 1791, nur ein Jahr, bevor die Revo­lu­ti­on end­gül­tig zum blu­ti­gen, tota­li­tä­ren Ter­ror­re­gime aus­ar­te­te. Mar­tin-Dauch selbst ent­kam nur knapp dem Tod unter der Guillotine.

Die Geschich­te scheint also dem knor­ri­gen Spiel­ver­der­ber im Nach­hin­ein recht­zu­ge­ben; den­noch fällt es schwer, sich der Sug­ges­tiv­kraft des Bil­des und der von David inten­dier­ten Wir­kung zu ent­zie­hen.

Ein deut­scher Dich­ter übri­gens, einer der Größ­ten, war im Chor der Kriegs­be­geis­te­rung von 1914 nicht zu ver­neh­men: Ste­fan Geor­ge. Er blieb der stoi­sche Soli­tär inmit­ten des all­ge­mei­nen Geju­bels der Kol­le­gen sei­ner Zunft. Obwohl ihm der heroi­sche Ton bekannt­lich kei­nes­wegs fremd war, blieb er bemer­kens­wert zurückhaltend.

In sei­nem Gedicht “Der Krieg”, ent­stan­den zwi­schen 1914 und 1916, fäll­te er schließ­lich ein uner­bitt­li­ches Urteil:

Zu jubeln ziemt nicht: kein tri­umf wird sein ·
Nur vie­le unter­gän­ge ohne würde..
Des schöp­fers hand ent­wischt rast eigenmächtig
Unform von blei und blech · gestäng und rohr.
Der selbst lacht grimm wenn fal­sche heldenreden
Von vor­mals klin­gen der als brei und klumpen
Den bru­der sin­ken sah · der in der schandbar
Zer­wühl­ten erde haus­te wie geziefer..
Der alte Gott der schlach­ten ist nicht mehr.
Erkrank­te wel­ten fie­bern sich zu ende
In dem getob. Hei­lig sind nur die säfte
Noch makel­frei ver­sprizt – ein gan­zer strom.

Der Krieg ver­schlang vie­le idea­lis­ti­sche Jüng­lin­ge und jun­ge Män­ner, die Geor­ges Gedich­te wie Nek­tar auf­ge­so­gen hat­ten und von gro­ßen Schick­sa­len träum­ten, dar­un­ter eini­ge sei­ner her­vor­ra­gends­ten Schü­ler, etwa der Wie­der­ent­de­cker Höl­der­lins Nor­bert von Hellingrath.

Auch Ezra Pound haß­te die­sen Krieg aus tiefs­ter See­le. 1915 fiel sein enger Freund, der fran­zö­sisch-pol­ni­sche Bild­hau­er Hen­ri Gau­dier-Breszka, 1917 der sei­nem Umkreis nahe­ste­hen­de genia­li­sche Phi­lo­soph und Dich­ter T. E. Hulme.

Pound schrieb die mei­ner beschei­de­nen Mei­nung nach groß­ar­tigs­ten Zei­len über die Frei­wil­li­gen des Welt­kriegs; sie ste­hen in sei­nem Gedicht “Hugh Sel­wyn Mau­ber­ley” aus dem Jahr 1920. Wann immer ich die Ton­auf­nah­me höre, in der Pound die­se Ver­se liest, kann ich mich der Gän­se­haut kaum erwehren.

The­se fought, in any case,

and some belie­ving, pro domo, in any case..
Some quick to arm,
some for adventure,
some from fear of weakness,
some from fear of censure,
some for love of slaugh­ter, in imagination,
lear­ning later…

some in fear, lear­ning love of slaughter;
Died some pro patria, “non dul­ce non et decor”…

The­re died a myriad,
And of the best, among them,
For an old bitch gone in the teeth,
For a bot­ched civilization…

(Kurio­sum: Pound hat auch ein­mal die deut­sche Über­set­zung von Eva Hes­se eingesprochen.)

Buch­tip: Mobil­ma­chung 1914. Ein lite­ra­ri­sches Echolot
Sezes­si­on 61 (mit dem Text von Gün­ter Scholdt)
Sezes­si­on 58 (The­men­heft 1914)

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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Kommentare (29)

Ein Fremder aus Elea

20. August 2014 09:51

"nun, da es um das Ganze der Nation, um Sein oder Nichtsein ging, wollte keiner fehlen."

So ist's schlicht. Die Führung hat's verbockt, das Volk muß es ausbaden, aber ausbaden muß es es, denn schließlich hat's an das geglaubt, worum gekämpft wurde: Deutschlands Souveränität.

Man kann natürlich sagen, wie ich es ja auch tue, daß Deutschlands Souveränität bereits mit der Annäherung an Großbritannien verlorenging, welche dem Deutschen Reich seine Besitztümer in der Südsee bescherte, aber aus der Sicht des Volks, und faktisch vollzogen, war's nicht so, da mußten noch die Waffen sprechen.

Die eigene Souveränität ist heilig, die Täuschung lag woanders.

Gold Eagle

20. August 2014 14:43

Meines Wissens war Stefan George auch grundsätzlich ein Kritiker Preußens und der wilhelminischen Gesellschaft. Das ist ja ein Dilmma des Konservativen in einer nicht-konservativen Gesellschaft, soll er in forderster Front die Gesellschaftsordnung mit seinem Leben verteidigt, die er eigentlich verachtet. Da war George wahrscheinlich einfach konsequenter als andere. Ich frage mich, wie das heute wäre, wenn die Bundesrepublik in einen ernsthaften militärischen Konflikt verwickelt werden würde, würden dann die Konservativen auch brav zu den Waffen laufen, um die rotgrüne Republik zu verteidigen.

Jan

20. August 2014 16:20

Die anderen Nationen hatten schon viele "Augusterlebnisse", aus welchen sich nationale Identität überhaupt erst speist. Die Marseillaise z.B. ist ja reinster Ausdruck dessen.

Das emotionale Potential des Krieges von 1870/ 71 ("Sedan") war demgegenüber für den Großteil des Volkes nicht sehr gewaltig, das war keine Erhebung, die preußischen Uniformen waren übergesteift worden, eben ohne "Freiheit" zu schreien. In dem Sinne ist Schwarz-Rot-Gold m.E., jedenfalls bis 1914, auch viel "identitärer" als Schwarz-Weiß-Rot. 1914 erst kam die Idee einer einigen Nation in den Köpfen und Herzen des gesamten Volkes an.

Und deshalb auch das Dilemma der verspäteten Nation, daß unser "Ballhausschwur", unsere "Glorious Revolution" mit dieser Katastrophe so unheilvoll verbunden ist.

P.S. Nichts über Ferguson und das verlogene Buß- und Bezichtigungsritual der Berichterstattung ?? Schade, wer soll es sonst auf den Punkt bringen ?

Harald de Azania

20. August 2014 20:01

Interessant vor allem die ( mir bis dato unbekannte ) radikal ablehnende Haltung EZRA POUNDS .... und dann ein Anhaenger Mussolinis und des (italienischen) Faschismus... Wie das, Travnicek? Wie wir gelernten Oesterreicher sagen .... dabei war Mussolini als radikaler Sozialist wie auch Lenin absoluter Befuerworter und Antreiber dieses Krieges!

.. " for a botched civilization" moeglicherweise der Schluessel >>> Kaempfen fuer ein als verkommen empfundenes System ist falsch, die Hoffnung liegt in der kriegerischen Ueberwindung dessen oder falls dies gelungen scheint ( siehe Machtergreifungen des Faschismus oder des Bolschewismus) in den neuen Regenten, Diktoren, Gestaltern, Tyrannen wie auch immer ....

Mein Fazit: Juli/August 1914 eine totale Hirn- und Nervenkrise des alten Europa bei der kaum jemand den kulturellen Selbstmord gesehen hat oder sehen wollte.

Ergebnis: Antiweisse Agression ( beginnend mit Japan - von wegen Ehrenarier - ( auch so eine Dummheit!) und Liquidation der europaeischen Ordnungsysteme >> Kemal Atatuerk, Gandhi und Nehru, Bandung Konferenz, Frantz Fanon ( kein Hund wuerde nach dem pfeifen ohne 1. WK!!) etc etc pp

Dumm gelaufen .... aber "little Europe' zu erhalten ohne dasz ein aggressive hereingesteuertes Lumpenproletariat uns den Rest gibt, sollte doch noch moeglich sein ?? Oder ? Bei dem jetzigen politischen Ppersonal ?

Hostis intra muros et magistrati sunt amici hostes et coniuncti in debellare Europae ( fuer Fallfehler bitte ich um Entschuldigung).

Harald Sitta

Nils Wegner

20. August 2014 21:47

Travnicek läßt ausrichten, daß der Faschismus eine maßgebliche Voraussetzung im italienischen vittoria mutilata nach dem Ersten Weltkrieg und dem daraus erwachsenden Irredentismus hatte. Im übrigen hält er die Einstellung zum europäischen Krieg und die zum Amalgam aus radikaler Politik und radikaler Ästhetik für vollkommen unabhängig voneinander, weil auch unter gänzlich unterschiedlichen Bedingungen und Zeitumständen manifestiert.

Orlando Furioso

21. August 2014 17:30

Großartige Zusammenfassung! Wie immer, meine Verehrung, Herr Lichtmesz!

Sara Tempel

21. August 2014 19:54

„Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen macht er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien.“ (Heraklit) -
Seit dem 1. Weltkrieg gibt es allerdings eine neue Dimension von „Krieg“, keine archaischen Kämpfe – Mann gegen Mann - mehr! Doch Kriegs-Helden wird es immer geben, selbst unter den Verlierern.

Zadok Allen

21. August 2014 20:12

So sehr ich Pound aus inhaltlichen Gründen schätze, so wenig kann ich seine Werke als Lyrik empfinden. Es sind philosophische Essays im Zeilenstil. Mit Eliot geht es mir genauso.

Fast will es scheinen, als sei die Ursache darin zu suchen, daß die englische Sprache des 20. Jahrhunderts keines genuinen Gedichts mehr fähig ist:

There died a myriad,
And of the best, among them,
For an old bitch gone in the teeth,
For a botched civilization…

Das ist unpoetisch. Zum Teil eines Gedichts wird es erst in der deutschen Übersetzung:

Es starben Millionen,
darunter die Besten,
für eine alte Sau mit Zahnfäule,
eine verfahrene Zivilisation.

Wem geht es ähnlich mit der angelsächsischen Lyrik des 20. Jahrhunderts?

@ Harald Sitta

Wenn ich den intendierten Sinn recht verstehe, müßte Ihr Satz in etwa lauten:

Hostes intra muros et magistratus sunt amici hostium coniuratique Europam debellare.

Ellen Kositza

21. August 2014 21:20

Zadok Allen, mir geht´s genauso betreffs der poetischen Potenz der englischen Sprache! Bei T.S. Eliot bevorzuge ich die Übersetzungen, und just habe ich in Crossing the Water/Übers Wasser der Amerikanerin Sylvia Plath gestöbert. Dort fehlen zwar naturgemäß die Abgefucktheiten von Pound und Eliot, Plath pflegt eine schöne und zarte Sprache; und dennoch erscheint mir die deutsche Übersetzung oft lyrischer. Einmal ist bspw. von der "Lady oft the Shipwrecked" , "three times life size" und mit "lips sweet" die Rede: auf deutsch heißt es viel schöner "Unsere Liebe Frau der Schiffbrüchigen", die ist "dreimal lebensgroß" und hat "Lippen lieblich...".

Nach meinem Empfinden ist es die Kompromittierung durch die Popkultur, die uns die Schönheit der englischen Sprache versaut hat. Mir jedenfalls sausen dann immer omnipräsente & banale englische Songtexte durch den Kopf, es ist manchmal direkt abstoßend....

Martin Lichtmesz

21. August 2014 22:13

Oha, also diese Einwürfe überraschen mich etwas, mir persönlich geht es überhaupt nicht so mit englischer Lyrik. Vielleicht hat es damit zu tun, wie sehr einem die Sprache ins Blut übergegangen ist. Ich lese generell so gut wie nie Übersetzungen (ob Prosa oder Lyrik), mag auch die gewiß ausgezeichneten Eva-Hesse-Übertragungen nicht leiden und kann mir auch keine synchronisierten Filme ansehen (egal in welcher Sprache). Einige Aufnahmen, in denen Eliot und Pound selbst lesen, finde ich grandios (etwa von "Hugh Selwyn Mauberely", "With Usura..." und "Waste Land"), da kommt der poetische "Sound" vielleicht besser zur Geltung. Eliot ist im allgemeinen ziemlich trocken, und in "Waste Land" ist auch absichtlich Alltagssprache und Triviales hineingewoben... Umgekehrt stellt's mir alle Haare auf oder ich muß richtig lachen, wenn ich Nietzsche-, Rilke-, oder Goethe-Übersetzungen auf englisch lese. Oder gar Hölderlin...

Nils Wegner

21. August 2014 23:28

Ich bin da ganz uneingeschränkt bei Lichtmesz. Bei Übersetzungen geht immer etwas verloren, das läßt sich schlicht nicht unterbinden (von Schauerlichkeiten wie Übersetzungen aus Übersetzungen – vgl. »Die Vierte Politische Theorie« – ganz zu schweigen...). Natürlich ist von niemandem zu erwarten, unzählige Sprachen lesen zu können, aber zumindest in denen, die man beherrscht, sollte man sich für die Originale nicht zu schade sein. Wenn die dann nicht gefallen, ist das eine andere Sache.

Gern würde ich aber noch die Kriterien dafür hören, was poetische von "unpoetischen" Zeilenfolgen scheidet.

Raskolnikow

22. August 2014 07:50

Jeder,

vernünftige Mensch will glauben. Augusterlebnis und Weihnachtsmann sind Erscheinungen eines gesunden Geistes. Nur perverse Seelenkrueppel wollen nicht belogen werden. Die Gedanken der Eltern in der Nacht unserer Zeugung gehören hierher, wie auch die Superioritaet meines Volkes...

Lichtmesz und Wegener, man kann alle Sprachen sprechen, aber Lieder versteht man nur in einer. (Emil wird mir die Verballhornung seiner Sentenz verzeihen.) Das durch Übersetzungen Verlorene zu bewahren, bedeutet keinesfalls "im Original"! Man bleibt Fremdsprachiger, gerade in der Poesie. Es gibt keine Kosmolyriker. Filme im Original anschauen? Ihr seid ja so verdorben...

Paka,

R.

M.L.: Die Kunst des Schauspielers drückt sich ja auch in der Stimme aus, und die Sprache hat Einfluß auf die Gestik und Körperhaltung. Deutsch synchronisierte Japaner oder Italiener etwa, das ist ein besonders unerträgliches Unding. "Sieben Samurai" oder "Accattone" im Original, das hat soviel mehr Kraft und Wirklichkeit. Oder umgekehrt, wer kann Peter Lorre in "M" oder Hans Albers in "Große Freiheit Nr. 7" synchronisieren, ohne dass wesentliches verlorengeht? Noch dazu werden auch die Tonspuren oft auf Studiosterilität eingeplättet.

Zadok Allen

22. August 2014 09:21

@ Lichtmesz & Wegner

Es wird Sie vielleicht überraschen, aber auch ich gehöre zu den Puristen, die sich keinen englischsprachigen Film in der (oft grauenhaften) deutschen Synchronfassung ansehen können.

Ich stimme Ihnen sofort zu, daß belletristische und poetische Texte nach Möglichkeit in der Ursprungssprache rezipiert werden sollten. Auch daß Lyrik in ganz besonderem Maße unübersetzbar ist, steht ja außer Frage.

Tatsächlich handelt es sich bei der angelsächsischen Lyrik des 20. Jahrhunderts um einen absoluten Ausnahmefall. Ich kenne kein anderes Beispiel, wo ich die Übersetzungen als Lyrik empfinden kann, das Original aber nicht.

Was poetische und unpoetische Zeilenfolgen unterscheidet, wer könnte das angeben. Es ist eine Frage des persönlichen ästhetischen Urteils. Poetische Texte zeichnen sich für mich durch Wittgensteinsche Familienähnlichkeit aus; eine ästhetische Theorie als Generalschlüssel wird ohnehin Utopie bleiben.

Familienähnlichkeit verbindet etwa das Nomos-Fragment Pindars

Νόμος ὁ πάντων βασιλεὺς
θνατῶν τε καὶ ἀθανάτων
ἄγει δικαιῶν τὸ βιαιότατον
ὑπερτάτᾳ χειρί

mit Hölderlins "Patmos"

Voll Güt ist; keiner aber fasset
Allein Gott.
Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.
Im Finstern wohnen
Die Adler und furchtlos gehn
Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg
Auf leichtgebaueten Brücken.

und der "Fedra" Josef Mandelstams, den ich für den größten Dichter des 20. Jahrhunderts halte, dessen Sprachgewalt sich übrigens auch nur im russischen Original entfaltet.

— Как этих покрывал и этого убора
Мне пышность тяжела средь моего позора!

— Будет в каменной Трезене
Знаменитая беда,
Царской лестницы ступени
Покраснеют от стыда
. . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . .
И для матери влюбленной
Солнце черное взойдет.

Aber bei den angelsächsischen Werken ist das anders. Fragen Sie mich nicht warum, aber das ist Prosa, in Zeilenform gebracht. Darin ist kein lyrischer "Schwung", es fehlt einfach die poetische Form, ich kann mir nicht helfen.

Und Frau Hesse hat im Zuge ihrer Übersetzung aus einem Prosa-Text einen lyrischen Text gemacht. Natürlich ist jede Übersetzung dichterischer Werke auch Neuschöpfung, aber hier ist sie das in so hohem Maße, daß für mein Empfinden ein Gattungswechsel stattfindet, so, wie man ja oft von Epen Prosa-Übertragungen anstellt, nur eben in umgekehrter Richtung.

M.L.: Ein russisches kann ich auch, ich habe es phonetisch gelernt, und lesen kann ich es auch nicht (leider auch kein Griechisch):

Предчувствиям не верю и примет
Я не боюсь. Ни клеветы, ни яда
Я не бегу. На свете смерти нет.
Бессмертны все. Бессмертно все. Не надо
Бояться смерти ни в семнадцать лет,
Ни в семьдесят.

(Arsenij Tarkowskij)

Ein Fremder aus Elea

22. August 2014 10:00

Gern würde ich aber noch die Kriterien dafür hören, was poetische von „unpoetischen“ Zeilenfolgen scheidet.

Der Unterschied liegt in den verwendeten Versfüßen. Wenn Sie Prosa lesen, verwenden Sie ausschließlich Pyrrhichios, Choreios und Prokeleusmatikos.

Achten Sie einfach mal drauf.

(Die Versfüße des letzten Satzes sind: Choreios, Pyrrhichios, Pyrrhichios, beispielsweise.)

There died a myriad,
And of the best, among them,
For an old bitch gone in the teeth,
For a botched civilization

würde ich so lesen:

Spondeios, Paion 1,
Paion 2, Amphibrachys,
Paion 4, Choriambos,
Anapaistos, Choreios, Trochaios.

ene

22. August 2014 14:10

Zadok Allen,

Was das Englische betrifft, sollte ich mich lieber zurückhalten, aber die Übersetzung, die Sie vorstellen, interessiert mich doch.

Für eine alte Sau mit Zahnfäule,
für eine verfahrene Zivilisation.

DAS ist ja der Kulminationspunkt, darauf läufts ja hinaus, der gegebene Zustand der Welt. Was aber wäre eine "verfahrene Zivilisation"? - Ich kenne nur eine "verfahrene Situation" - und dies ist eher eine distinguierte Ausdrucksweise.
Deshalb würde ich hier für eine "abgewirtschaftete Zivilisation" plädieren.
(Ob überhaupt "Zivilisation" die richtige Übersetzung von civilization ist, ist noch eine Sonderfrage.)

Und dann die "alte Sau". Wer oder was ist denn das?
Wie wäre es mit "Nutte" (etwas ordinär) , da haben wir das große Thema der "alten Hure". Und was die Zähne betrifft: "Zahnfäule" kennt nur der Zahnarzt! "Keinen Biß mehr haben", "zahnlos sein" - das sind ja gängige Bilder unserer Sprache. Kraftlosigkeit auch hier

Mein Vorschlag wäre:

Für eine alte Nutte mit Stummelzähnen ,
für diese abgewirtschaftete Zivilisation.

Rumpelstilzchen

22. August 2014 15:42

Herrje,
Ich bin immer wieder beeindruckt von den gebüldeten und polyflotten Mitgloristen. Ich kann leider nur Französisch und selbst da hapert es mit der Sprache.
Also, lassen wir den alten Lateiner mal zu Hause. Denn auch ein Hochgebildeter kann ein Flachdenker sein ( ein " terrible simplificateur"),
oder ?

Was will uns der ML -Text eigentlich sagen ?
Meine Frage ist einzig :

Was unterscheidet den Rausch vom August 1914 vom Rausch des August 2014 ? Als subjektives und kollektives Erlebnis ?
Konkret: Welcher Rausch durchschauert die Kämpfer des IS in Europa und in Syrien und im Irak ?

Da " bringen junge Deutsche Terror und Tod" :
https://www.welt.de/politik/ausland/article131294642/Warum-junge-Deutsche-Terror-und-Tod-bringen.html
weil sie die westliche Welt verabscheuen, als "einen verkommenen Ort ohne Moral und Werte" ( Hamza) ansehen und plötzlich wieder an " Himmel und Hölle, an Engel, das Jüngste Gericht und an eine bessere Welt glauben" und meinen, dass sie etwas Großartiges schaffen.
Und in dem Roman von Sherko Fatah "Der letzte Ort" sieht der muslimische Protagonist in der Gegenwart nur Beliebigkeit und Leere und stellt die auch für einen Rechten wichtige Frage :

" Das nennt ihr Freiheit. Jeder macht den Unsinn, der ihm gerade einfällt, und so werdet ihr alt. Und damit es hier genau so wird, schickt ihr eure Panzer her ."

Ja, liest man Texte der IS Führer, so sieht das doch irgendwie so aus wie
ein "kollektives Gipfelerlebnis" , ein " jäher Augenblick der Ekstase und Freude...der " mit einem Schlag die Bedeutungslosigkeit und Zufälligkeit des eigenen Lebens aufzuheben scheint"

Gewiss, , Dichter sind da nicht so vertreten, die das Augusterlebnis 2014 beschreiben. Aber das Buch des Deutschen Sherko Fatah beschreibt schon sehr sensibel den letzten Ort. Und dies wäre Europa, die europäische Idee, die neu erzählt werden muss. Ob es uns nun passt oder nicht:
Auch der Terrorist, der James Foley getötet hat, ist in Europa geboren, spricht den Akzent des Londoner Stadtteils East End.

"Sie sind wahrhaftig frei, so frei, dass sie sich verirren."
Sherko Fatah

Trifft manchmal auch auf die Foren zu.

Zadok Allen

22. August 2014 19:32

@ Fremder aus Elea

Höchste Anerkennung für Ihre umfassende Beherrschung der alten Metren, aber ich bin doch sehr skeptisch, ob man sie insbesondere für die englische Sprache in Ansatz bringen kann. Wie fast alle zeitgenössischen indogermanischen Sprachen besitzt das Englische eben keine quantitierende Metrik, hinzu kommt sein Sonderstatus als, wie es jemand einmal schön genannt hat, "konturlose Stummel- und Mummelsprache". (Das soll natürlich nicht heißen, daß es keine echte Lyrik in dieser Sprache gibt.)

@ Ene

Die Übersetzung stammt natürlich nicht von mir, es handelt sich um die deutsche Referenzübersetzung von Eva Hesse (aus den Suhrkamp-Ausgaben der Werke Pounds). Aber Sie haben völlig recht:

Für eine alte Nutte mit Stummelzähnen,
für diese abgewirtschaftete Zivilisation.

Das in etwa steht bei Pound da - die alte Nutte und die Zivilisation dürften identisch sein, wenn ich ihn richtig verstehe. Aber eben das meine ich: diese Verse sind für mich nicht lyrisch. Etwa das "gone in the teeth": eine idiomatische Wendung, die ob ihrer Umgangssprachlichkeit den literarischen Rahmen auflöst. "Zahnfäule" hat dagegen einen weiteren semantischen Resonanzraum, schon wegen der Fäule, die ja immer auch moralische Verderbnis meinen kann.

ene

22. August 2014 20:00

Korrektur zu 14.10

Keine "Stummelzähne" sondern "Zahnstummell". (Ein Schnellschuß, der danebenging.)

Ein Fremder aus Elea

23. August 2014 09:08

Zadok Allen,

ja, das hatte ich selbst auch gedacht, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger denke ich es, denn, was kann man schon an Sprache variieren?

Doch nur zwei Dinge: die Tonhöhe und die Länge der Silbe.

Theoretisch ginge auch noch die Lautstärke, aber das macht niemand.

Und die Variation der Tonhöhe wird im Deutschen und Englischen nicht benutzt, im Gegensatz zum Französischen.

Mithin ist "Akzentuierung" nur ein anderer Name für "Quantitierung", wobei sich allenfalls einwenden ließe, daß bei ersterer das Taktmaß fehlt und sie eher "frei" ist.

Aber, nun ja, selbst wenn, na und? Dann ist der Takt eben nicht ganz rein, sondern etwas freier, die Versfüße lassen sich trotzdem anwenden.

Ürigens gibt es dieses ganz vorzügliche Beispiel des Hexameters im Englischen, gefunden auf der englischen Wikipedia:

This is the forest primeval. The murmuring pines and the hemlocks

Viel Daktylos hier, am Ende ein Spondeios. Völlig natürlich! Kann man fast nicht anders lesen.

Kiki

23. August 2014 19:32

@Rumpelstilzchen

Endlich die Stimme eines Unbesoffenen! Genau dies war auch mein Gedanke bei Lesen der Kommentare.

Und zu den Ergüssen von vor hundert Jahren: mein Gott, welche Verblendung! Wenn diese armen Enthusiasten auch nur dumpf geahnt hätten, wessen Gewalt sie samt ihren unglücklichen Völkern mit diesem Krieg anheimfallen - sie wären auf der Stelle wahnsinnig geworden oder tot umgefallen.

Hundert Jahre später dürfte es ungleich schwerer sein, das zukünftige Kanonenfutter bzw. die abzuschreibenden Kollateralschäden in seelische Wallungen zu versetzen, schließlich sind die Leute im ruinierten Abendland inzwischen um einige böse Erfahrungen und unschöne Einsichten reicher.

Wenn der 3. Weltkrieg losgeht, würde ich mich höchstens darüber freuen, daß der Schlange endlich der Kopf zermalmt wird. Aber über nichts und niemanden sonst.

Th.R.

23. August 2014 21:11

Freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatte sich auch der Heidedichter und Autor vom "Wehrwolf", Hermann Löns. Damals übrigens schon 48 jährig!

Liest man die Schilderungen der Emotionen der 1914 ins Feld Gezogenen (auch A.H. äußert sich in M.K. diesbezüglich), so verfestigt sich der Eindruck, dass hier eine von einem mystischen Erweckungserlebnis zusammengeschweißte und getriebene Generation überzeugt war, eine heilige Pflicht tun zu müssen. Die damaligen vom Gott-ist-tot-Propheten Nietzsche beeinflußten Alterskohorten hatten in der Offenbarung vom August 1914 ein neues metaphysisches Obdach gefunden! Alle im Volk aufgestauten Energien hatten plötzlich ein Ziel, auf das hin sie sich entladen konnten. August 1914, das muß ein In-eins-sein-mit-Gott gewesen sein, ein mystisches Erlebnis im wahrsten Sinne des Wortes.

Für uns Nachgeborene (d.h. "die Nachhut") dürfte dieser Affekt nur mehr schwer verständlich sein. Unser heutiges Denken ist hier viel zu rational, unser Fühlen ohnehin tot, um diese emotionale Ausnahmesituation überhaupt nachvollziehen zu können.

Vom heutigen Standpunkt auf den Mythos 1914 zurückblickend, dabei die Entwicklung der letzten 100 Jahre im Blick habend, sollte man konstatieren dürfen:

Es war ein desaströses Verhängnis, durch das alle unsere - und damit meine ich nicht nur die deutschen, sondern die der weissen Rasse insgesamt - Perspektiven verspielt wurden. Ein Fehler und Irrtum, dessen Auswirkungen bis in unsere Tage hinein wirken, paradoxerweise mit zunehmender Stärke.

Man kann rückblickend nur ungläubig den Kopf schütteln in Anbetracht der biologisch-genetischen Substanz, die hier die weissen Völker auf ihren Altären geopfert haben - einfach ungeheuerlich! Und ich würde sagen: Verbrecherisch! Denn dieses Blut - und es war mit das Beste! - ist für immer verloren! 1914-1918, das war, von der heutigen Warte aus, ein blindwütiger Exzess der Selbstzerstörung an der weissen Rasse. Ein einziger unverzeihlicher Amoklauf!

Wenn es wirklich so gewesen sein sollte, dass Europa damals schon einem ekelhaft-widerlichen Hurenvieh mit zahnloser, nach Fäulnis stinkender Fresse glich, wie Pound meinte, ja dann ist der gute Mann zu beglückwünschen, dass ihm der hiesige trostlose Anblick dieser Bitch, die sich stolz rühmt, wirklich ALLE Völker der Welt als Freier zu haben, erspart blieb.

Ein Fremder aus Elea

24. August 2014 00:06

Th.R.

Wenn es wirklich so gewesen sein sollte, dass Europa damals schon einem ekelhaft-widerlichen Hurenvieh mit zahnloser, nach Fäulnis stinkender Fresse glich

Geschmäcker sind verschieden. Ganz buchstäblich stimmt es wohl auch. Heute ist die öffentliche Zahnpflege besser.

Rumpelstilzchen

24. August 2014 10:06

Man kann rückblickend nur ungläubig den Kopf schütteln in Anbetracht der biologisch-genetischen Substanz, die hier die weissen Völker auf ihren Altären geopfert haben – einfach ungeheuerlich! Und ich würde sagen: Verbrecherisch! Denn dieses Blut – und es war mit das Beste! – ist für immer verloren! 1914-1918, das war, von der heutigen Warte aus, ein blindwütiger Exzess der Selbstzerstörung an der weissen Rasse. Ein einziger unverzeihlicher Amoklauf!

Th. R.

Einige Anmerkungen zur "Opferung biologisch-genetischer Substanz":

1. 2012 wurden in Deutschland ca. 100.000 Kinder abgetrieben, d.s. die offiziellen Zahlen, geschätzt wird das Doppelte

2. nur 5 % des indianischen Urbevölkerung ( rote Rasse) haben den Einfall des christlichen weißen Mannes überlebt. Es sollen 100 Millionen Menschen ermordet worden sein.

3. Mao Zedong, der größte Massenmörder aller Zeiten soll den Tod von mindestes 45 Millionen gelben Menschen in nur vier Jahren ( 1958 - 62) zu verantworten haben. Nebenbei bemerkt: für die meisten heutigen Chinesen ist Mao immer noch ein Held. Aussage vieler Chinesen: dieser Massenmord war notwendig, um das Land aus der Rückständigkeit zu befreien,

4. Völkermord in Ruanda 1994 : 800 000 schwarze Tote in nur 3 Monaten,

Den niedergemetzelten Menschen dürfte es egal gewesen sein, welch "biologisch-genetische Substanz" da vernichtet wurde.
"Sic transit gloria mundi", würde der alte Lateiner sagen.

P.S. Die friedliche Revolution in der DDR 1989 war mein persönliches Augusterlebnis.

derherold

24. August 2014 14:27

ad Rausch: "Augusttage: Mythos Kriegsbegeisterung", Kapitel 8, Niall Ferguson, Der falsche Krieg

Zadok Allen

24. August 2014 18:58

@ Rumpelstilzchen, Sara Tempel, Kiki

Es war zu erwarten, daß eine exkursartige Debatte über literaturtheoretische Grundlagen Aggressionen auslösen würde.

Vielleicht verdeutlicht Ihnen dies die Relevanz: Es ist keineswegs gleichgültig, ob wir in einer Epoche leben, deren führende Sprache Lyrik (und Belletristik) von weltliterarischem Rang hervorbringt oder aber in einer solchen, in der dies nicht mehr der Fall ist.

Genau das wollte ich klären: ist die Lyrik der größten angelsächsischen Dichter des 20. Jahrhunderts noch Lyrik? Mit den im bröckelnden Imperium der Gegenwart wirksamen Dichtern kenne ich mich ohnehin viel zu wenig aus, um hier auch nur Mutmaßungen anzustellen.

Und mit Blick auf den sog. "Ersten Weltkrieg" scheint es mir ziemlich offensichtlich, daß er - ebenso wie der Rest der epochalen Umbrüche zwischen 14 und 45 - eben auf keiner Seite mehr in Kunstwerken der klassischen Gattungen verarbeitet wurde, die Anspruch auf mehr als bestenfalls den Rang eines Jahrhundertwerks machen könnten. (Der Film als genuine Gattung des 20. Jh. verdient gesonderte Behandlung.)

Der Gedanke mag auf den ersten Blick lächerlich, geradezu obszön klingen: dennoch überlege man einmal, welche Werke ein Dichter vom Rang eines Vergil, eines Shakespeare, eines Hölderlin aus den Ballungen von Katastrophen hätte formen können! Wie immer hätte die Kunst das aus der Welt Entschwundene für alle Zeiten bewahrt.

Daß sie es nicht mehr vermochte, gehört zu den vielen Anzeichen der völligen Erschöpfung der Lebenskraft der europäischen Völker. Vermutlich wurden schon im Auflodern von 1914 so viele Reserven verbrannt, daß nicht einmal mehr ein kläglicher Rest zu retten war.

Es war ein desaströses Verhängnis, durch das alle unsere – und damit meine ich nicht nur die deutschen, sondern die der weissen Rasse insgesamt – Perspektiven verspielt wurden.

Besser kann man es nicht zusammenfassen. Und, Frau Rumpelstilzchen, was nützen uns die "kollektiven Gipfelerlebnisse" der CIA-inspirierten IS-Kämpfer? Kollektive Gipfelerlebnisse wird es weiterhin geben, es sind nur nicht mehr die unseren.

Ein Fremder aus Elea

25. August 2014 01:01

Also wirklich, Herr Allen!

Ihre Betrachtungen zur Schwäche der Kunst zu Anfang des 20sten Jahrhunderts sind durchaus zutreffend, aber der Faszination für die Technik geschuldet.

Maschinen werden nicht besungen, oder können Sie sich eine Ode an die dicke Bertha vorstellen?

Es ist genau umgekehrt, die Kräfte waren praktisch gebunden, deshalb schwächelte die Reflexion und Kunst.

Ich habe mir auf YouTube eine Dokumentation über Ezra Pound angesehen. Er schwärmte darin für einen Bildhauer und die Idee, daß Kunst nicht Idee, sondern vielmehr eine Art Zauberspiegel wäre, in welchem Ideen aufstiegen.

Nun, zwei Büsten des Bildhauers wurden auch gezeigt. Und da paßte es jedenfalls. Denn diese Büsten waren in der Tat solche Zauberspiegel. Genauer gesagt vermittelten sie eine Stimmung irgendwo zwischen Rücksichtslosigkeit, Getriebenheit und Phantastik.

Selbstverständlich auch eine Reflexion. Aber eine sehr nahe, ja, die nächste überhaupt, Psychoanalyse, nicht wirklich starke Kunst, wenn auch faszinierend, und doch ja nur der Schatten der eigentlichen Faszination.

Die Videoaufnahmen von diesem Hundeexperiment in der Sowjetunion, also abgetrennter Kopf an Blutpumpe angeschlossen, kann man auch bei YouTube sehen, erzielen aber genau dieselbe Wirkung, obwohl sie rein dokumentarisch sind.

Viel war dazu also auch gar nicht nötig, um das festzuhalten, was da war.

Nun ja, und was verloren ging?

Ein Nachruf auf die Souveränität muß ein Nachruf auf das Wesen dessen sein, wer seine Souveränität verlor. Das Problem dabei besteht allerdings darin, daß es diesbezüglich keine zentralen tragischen Gestalten gibt. Es ist vielmehr das unbewußte Zusammenwirken der Menschen, welches sich wandelte, und dieses Zusammenwirken entzieht sich einzelnen Perspektiven.

Es kommt zu einer Art Fäule, und zu faulen Gegenreaktionen.

Aber da hat Pound schon Recht, die Menschen damals haben sich für all das nicht interessiert, sondern lediglich für die Wunderwelt der Technik, welche vor ihnen lag, und alles andere wirkte geradezu idiotisch.

Gold Eagle

25. August 2014 09:58

"Es sollen 100 Millionen Menschen ermordet worden sein." Die Zahl ist falsch. Soviele Menschen haben vor der Ankunft der Spanier auf dem Doppelkontinent gar nicht gelebt und die meisten starben an Krankheiten und dafür konnten die Spanier nichts. Die wussten ja nicht, dass sie Krankheiten einschleppen, da man über die Verbreitung von Viren und Bakterien noch keine Kenntnisse hatte.

Sara Tempel

26. August 2014 20:18

@Zadok Allen
Genau das wollte ich klären: "ist die Lyrik der größten angelsächsischen Dichter des 20. Jahrhunderts noch Lyrik?"
Wenn die Lyrik des Ezra Pound oder des Bob Dylan keine solche sein sollte, dann - fresse ich einen Besen! Das sagt mir mein Gefühl, nicht der Verstand. Dies flüstert mir ebenso: "Die Seelen unserer Dichter und Denker, unserer Helden und aller unschuldiger Kriegsopfer unseres christlichen Volkes sind nicht verloren!".

al-Muschrik

31. August 2014 03:52

There died a myriad,
And of the best, among them,
For an old bitch gone in the teeth,
For a botched civilization

Die Zahnfäule der modernen "Kultur" hat schon Nietzsche agnosziert:

Und damit ich keinen Zweifel darüber lasse, was ich verachte: der Mensch von heute ist es – ich ersticke an seinem unreinen Atem.
Gegen das Vergangene bin ich, gleich allen Erkennenden, von einer großen Toleranz. Aber mein Gefühl schlägt um, sobald ich in unsre Zeit eintrete.

Eine ganz eigene Sicht auf den Nationalismus und damit auch auf den ersten Weltkrieg, die ich mir (noch?) nicht habe zu eigen machen machen können, hat der katholische Reaktionär N. Gòmez:

No hablemos mal del nacionalismo. Sin la virulencia nacionalista ya regiría sobre Europa y el mundo un imperio técnico, racional, uniforme. Acreditemos al nacionalismo dos siglos, por lo menos, de espontaneidad espiritual, de libre expresión del alma nacional, de rica diversidad histórica. El nacionalismo fue el último espasmo del individuo ante la muerte gris que lo espera.

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