Zweimal Notre-Dame

55pdf der Druckfassung aus Sezession 55 / August 2013

Am 21. Mai 2013 erschoß sich der 79jährige Historiker Dominique Venner in der Kathedrale Notre-Dame zu Paris, im sakralen Herzen Frankreichs, »um die trägen Geister aus ihrem Dämmerschlaf zu wecken«, jene gelähmten Zeugen der Zerstörung seines »französischen und europäischen Vaterlandes«. Äußerer Anlaß waren die Proteste gegen die Einführung der »Homo-Ehe«, die Hunderttausende Menschen auf die Straßen von Paris trieben. Venners Anliegen ging jedoch weit darüber hinaus.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

In sei­nem letz­ten, nun pos­tum erschei­nen­den Buch Un samou­raï d’Occident (»Ein Samu­rai des Abend­lan­des«) zog er noch ein­mal das Resü­mee sei­nes Lebens und Den­kens: Das­sel­be Euro­pa, des­sen jahr­tau­sen­de­al­te Kon­ti­nui­tät er in so vie­len sei­ner Wer­ke dar­zu­stel­len ver­such­te, befän­de sich heu­te in einer bei­spiel­lo­sen Kri­se, einem »Win­ter­schlaf« viel­leicht nur, des­sen Aus­gang noch unge­wiß sei. Getrennt von sei­ner Geschich­te und sei­ner Iden­ti­tät, sei Euro­pa heu­te sei­nen inne­ren und äuße­ren Fein­den hilf­los preis­ge­ge­ben. Schon ist ein gro­ßer »Bevöl­ke­rungs­aus­tausch« im Gan­ge, der die euro­päi­schen Völ­ker inner­halb weni­ger Jahr­zehn­te zu Min­der­hei­ten in ihren eige­nen Län­dern machen wird. 

»Nur noch ein Gott kann uns ret­ten«, sag­te Mar­tin Heid­eg­ger 1966 im Gespräch mit dem Spie­gel. »Mys­tik zuerst, dann Poli­tik«, so for­mu­lier­te es Ven­ner. Er erkann­te, daß jede Kul­tur mit ihren meta­phy­si­schen Fun­da­men­ten ste­he und fal­le. Doch wo eine sol­che »Mys­tik« suchen und fin­den? Im heu­ti­gen säku­la­ren Euro­pa scheint weit und breit kei­ne zur »Ver­tei­di­gung des Eige­nen« geeig­ne­te Reli­gi­on in Sicht zu sein. In einem sei­ner letz­ten Inter­views drück­te Ven­ner die Hoff­nung aus, daß unse­re meta­phy­si­schen Quel­len nicht ver­siegt sei­en: »Eben­so wie ande­re sich als Söh­ne von Shi­va, von Moham­med, von Abra­ham oder von Bud­dha wie­der­erken­nen, ist es nicht ver­kehrt, sich als Söh­ne und Töch­ter von Homer, von Odys­seus und von Pene­lo­pe zu wis­sen.« Die Gestalt hin­ge­gen, in der sich das Abend­land fast zwei Jahr­tau­sen­de lang wie­der­erkannt hat, unter deren Zei­chen es eine bei­spiel­lo­se, tri­um­pha­le Blü­te erlebt hat, fehlt: Jesus Chris­tus. Zu Unrecht? Nur schwer kann man sich Chris­tus heu­te als zen­tra­le Figur einer »iden­ti­tä­ren« Reli­gi­on vor­stel­len, wie sie Ven­ner vor­schweb­te. Fern sind die Zei­ten, in denen Hilai­re Bel­loc sagen konn­te: »Der Glau­be ist Euro­pa«, ja: »Die Kir­che ist Europa.«

Ven­ner war ein ein­ge­fleisch­ter, ein nietz­schea­ni­scher Hei­de, der zeit­le­bens min­des­tens in Distanz zum Chris­ten­tum stand, bei gleich­zei­ti­gem Respekt vor sei­nen Kul­tur­leis­tun­gen. In einem wei­te­ren Inter­view erklär­te er, daß man zwar durch­aus Christ und Tra­di­tio­na­list zugleich sein kön­ne. Er beschul­dig­te jedoch die Kir­che Frank­reichs, der Isla­mi­sie­rung des Lan­des durch Unter­stüt­zung und Beschleu­ni­gung der »afro-maghre­bi­ni­schen Ein­wan­de­rung« erheb­li­chen Vor­schub geleis­tet zu haben. Vor allem müs­se man sehen, »daß eine uni­ver­sa­lis­ti­sche, anti­ras­sis­ti­sche und gewalt­lo­se Reli­gi­on, in deren Zen­trum das Bewußt­sein der eige­nen Schuld steht, ange­sichts der Pro­ble­me unse­rer Zeit wie der afro-mos­le­mi­schen Ein­wan­de­rung einen schwa­chen Halt bil­det.« Statt des­sen emp­fahl er eine Rück­kehr zu den »Fun­da­men­ten aus Gra­nit«, den »grund­le­gen­den Dich­tun­gen« Homers, jener wah­ren »Bibel Euro­pas«, mit der »Natur als Sockel«, der »Exzel­lenz als Prin­zip« und der »Schön­heit als Horizont«.

Hier sprach aller­dings ein Athe­ist, dem die home­ri­schen Göt­ter vor allem als »Alle­go­rien der Mäch­te des Lebens und der Natur« erschie­nen. Auch an ein Leben jen­seits die­ser Welt glaub­te Ven­ner nicht. »Die Essenz des Men­schen«, schrieb er, lie­ge »in sei­nem Dasein und nicht in einer ›ande­ren Welt‹. Es ist im Hier und Jetzt, wo sich unser Schick­sal bis zur letz­ten Sekun­de erfüllt.« An einem hoch­sa­kra­len Ort der Chris­ten­heit ent­schied sich Ven­ner für eine nicht­christ­li­che Ges­te in der Tra­di­ti­on der anti­ken Stoiker. 

Für kur­ze Zeit loder­te das Fanal in den Schlag­zei­len der fran­zö­si­schen Pres­se. Eini­ge weni­ge Sym­pa­thi­san­ten und Weg­ge­fähr­ten zogen respekt­voll den Hut; die katho­lisch-kon­ser­va­ti­ven Ver­an­stal­ter der Pro­tes­te gegen die »Homo-Ehe« hin­ge­gen gaben zu erken­nen, daß sie in Ven­ner einen »tol­len Men­schen« sahen, der nichts mit ihnen zu tun habe. Ähn­lich fiel die Reak­ti­on man­cher deut­scher Kon­ser­va­ti­ver aus. Ein exem­pla­ri­scher Ther­si­tes schrieb von einer »gewalt­sa­men und schlim­men Ges­te eines Gestör­ten«, der unter gar kei­nen Umstän­den »ein Vor­bild« sein kön­ne. »Rech­ter Autor bringt sich aus Schwu­len­haß um« titel­te die Welt, und in die­sem Tenor erle­dig­ten die meis­ten deut­schen Medi­en den Fall. 

Der Schrift­stel­ler Richard Mil­let mein­te, es wäre ange­brach­ter gewe­sen, sich vor dem Pari­ser Rat­haus zu erschie­ßen. Aber die Wahl Not­re-Dames zielt auf eine tie­fe­re Sym­bo­lik. Staat und Kir­che sind heu­te besetz­tes Gelän­de, okku­piert von den Fein­den der euro­päi­schen Kul­tur und der euro­päi­schen Völ­ker. Hat Ven­ners Tat also fri­sches Blut in alte Kathe­dra­len flie­ßen las­sen, auf daß sich neue Göt­ter auf ihre ver­öde­ten Altä­re nie­der­las­sen? Die Dome Frank­reichs, Deutsch­lands und Ita­li­ens gehö­ren in der Tat zu den herr­lichs­ten Zeu­gen des euro­päi­schen Geis­tes. Aber sie schei­nen heu­te nur mehr als tou­ris­ti­sche Schau­stü­cke wei­ter­zu­be­stehen, nicht anders als die zwar impo­san­te, aber kei­nen Gott mehr prei­sen­de Hagia Sophia. 

II.

Am Mor­gen nach Ven­ners Frei­tod traf bei mir eine Buch­be­stel­lung ein, die ich eine Woche zuvor getä­tigt hat­te. Ein nur mehr anti­qua­risch erhält­li­cher Band, erschie­nen 1954 in einem katho­li­schen Ver­lag: Gott ist tot?, die Auto­bio­gra­phie eines 1928 in der fran­zö­si­schen Pro­vinz gebo­re­nen jun­gen Man­nes namens Michel Mour­re. Die­ser hat­te am Oster­sonn­tag des Jah­res 1950 in Not­re-Dame zu Paris einen außer­or­dent­li­chen Skan­dal pro­vo­ziert. Im Habit eines Domi­ni­ka­ner­mön­ches hat­te er sich an das Lese­pult gestellt und einen Text im Geis­te Nietz­sches, eher im Ton­fall Zara­thus­tras als des »tol­len Men­schen«, ver­le­sen: »Wahr­lich, ich sage euch: Gott ist tot. / Wir spei­en die Lau­heit eurer Gebe­te aus, / Denn eure Gebe­te waren der schmie­ri­ge Rauch über den Schlacht­fel­dern unse­res Euro­pa. / Geht fort in die tra­gi­sche und erha­be­ne Wüs­te einer Welt, in der Gott tot ist, / bis die Erde erneu­ert ist mit euren blo­ßen Hän­den, / Mit euren stol­zen Hän­den, / Mit euren Hän­den, die nicht beten. / Heu­te, Ostern des Hei­li­gen Jah­res, / hier unter dem Zei­chen von Not­re-Dame de Paris, / Ver­kün­den wir den Tod des Chris­ten­got­tes, auf daß der Mensch lebe zuletzt.«

Mour­re und sei­ne Spieß­ge­sel­len wur­den umge­hend ver­haf­tet und einer psych­ia­tri­schen Unter­su­chung unter­zo­gen. Der Eklat wur­de zum Gegen­stand mona­te­lan­ger, ernst­haf­ter Debat­ten in den fran­zö­si­schen Feuil­le­tons. Denn schon bald wur­de erkannt, daß Mour­re nicht bloß als pöbeln­der Iko­no­klast gehan­delt hat­te. Sei­ne »Pre­digt« hat­te sich expli­zit an die »Lau­war­men« gerich­tet, die nach dem berühm­ten Wort aus der Johan­nes­of­fen­ba­rung »weder heiß noch kalt« sind, und die der Herr aus sei­nem Mund »aus­spei­en« wird. Mour­re selbst hat­te zu die­sem Zeit­punkt bereits einen aben­teu­er­li­chen geis­ti­gen Lebens­weg hin­ter sich, in dem sich auf schil­lern­de Wei­se die The­men eines gan­zen Jahr­hun­derts bündeln. 

Das Leit­mo­tiv von Mour­res Leben war die Erfah­rung der Ent­wur­ze­lung und der Brü­chig­keit der mensch­li­chen Gewiß­hei­ten. Die ent­schei­den­de Figur in sei­ner Fami­lie war sein Vater gewe­sen, Archi­tekt von Beruf, bür­ger­li­cher Sozia­list, Frei­mau­rer und Anti­kle­ri­ka­ler, der »am Tage der Jung­frau von Orlé­ans« die rote Fah­ne hiß­te und des­sen Arbeits­zim­mer die Bild­nis­se des »Volksfront«-Idols Léon Blum und der spa­ni­schen Kom­mu­nis­tin »Pas­sio­na­ria« schmückten.

Der ers­te Schock in Mour­res Kind­heit war der frü­he Krebs­tod sei­ner Mut­ter, der zwei­te der kurz dar­auf erfolg­te Zusam­men­bruch Frank­reichs im Juni 1940. Die Drit­te Repu­blik war unter dem Ansturm des Faschis­mus ein­ge­stürzt wie ein Kar­ten­haus, und mit ihr die über den Vater ver­mit­tel­ten »Göt­zen­bil­der«. Eines davon war die Vor­stel­lung des all­mäch­ti­gen Volks­wil­lens, der Men­schen­men­gen, die »immer schön« sei­en und unent­wegt »sän­gen und sieg­ten«. Der Anblick von Flücht­lings­mas­sen auf dem Bahn­hof von Lyon, einer Men­ge »ohne Mut und Hoff­nung, weil ihr ein Kopf fehl­te«, kurier­te Mour­re »wohl für immer« von »dem Glau­ben an die schö­nen Träu­me der Demo­kra­tie«. »Das Volk – Gott Volk – ver­ging vor Angst, weil es ver­las­sen war, und fluch­te der Frei­heit, die es ins Unglück gestürzt hat­te.« Er beob­ach­te­te, wie rasch sich die poli­ti­schen Idea­le der Men­schen ange­sichts der neu­en Macht­ver­hält­nis­se ver­flüch­tig­ten, wie schmieg­sam sie sich der neu­en Lage füg­ten. Auch sein Vater »ver­gaß« schnell gro­ße Tei­le sei­ner Bio­gra­phie, und fand her­aus, daß er viel­leicht doch nicht so ein über­zeug­ter Repu­bli­ka­ner war, wie er bis­her gedacht hat­te, und daß der Natio­nal­so­zia­lis­mus doch auch ein Sozia­lis­mus sei – ein Phä­no­men, das sich nach der »Libé­ra­ti­on« mit umge­kehr­ten Vor­zei­chen wiederholte.

Der jun­ge Michel Mour­re war auch in der Zeit der Vichy-Regie­rung welt­an­schau­lich indif­fe­rent geblie­ben und weit ent­fernt davon, ein »natio­na­les« Bewußt­sein zu ent­wi­ckeln. Der Wunsch, »etwas zu leis­ten«, brach­te ihn im Früh­jahr 1944 dazu, sich ohne poli­ti­sche Über­zeu­gung einer »kol­la­bo­ra­tio­nis­ti­schen« Jugend­or­ga­ni­sa­ti­on anzu­schlie­ßen, die Bom­ben­op­fer ver­sorg­te. Inter­es­san­ter­wei­se begeg­ne­te Mour­re der Faschis­mus zuerst als »inter­na­tio­na­lis­ti­sche« Idee. »Ich kann­te damals kein Vater­lands­ge­fühl. Die väter­li­che Erzie­hung hat­te nichts getan, es in mir zu wecken. Von Kind­heit auf stand es für mich fest, daß es kein Frank­reich mehr gab, daß die Vater­län­der tot waren. Vater träum­te nur von der Inter­na­tio­na­le. Und war es nicht eine Inter­na­tio­na­le, die der Faschis­mus zu schaf­fen unternahm?«

Mour­re stell­te im Rück­blick fest, daß die­se Dis­po­si­ti­on nicht sel­ten war. Vie­le, die sich als Frei­wil­li­ge an die Ost­front gemel­det hat­ten, such­ten »ein Erleb­nis, das ihnen den Weg zu sich sel­ber wies. Ande­re Lebens­um­stän­de hät­ten sie ver­mut­lich in die Wider­stands­be­we­gung ver­schla­gen. Die Zeit zwang den ein­zel­nen, selbst Hand anzu­le­gen und den Boden zu berei­ten, auf dem er ande­ren zu begeg­nen hoff­te. Alle die­se jun­gen Leu­te, zu denen ich gehört hät­te, wäre ich etwas älter gewe­sen, fühl­ten sich ihrer hei­mat­li­chen Erde, ihrem geis­ti­gen Nähr­bo­den ent­frem­det, weil man es unter­las­sen hat­te, sie die Hei­mat und ihre Kul­tur lie­ben zu leh­ren. Des­halb hoff­ten sie, auch ihre Gemein­schaft nicht auf die Wirk­lich­keit zu grün­den – die man ihnen nie gezeigt hat­te –, son­dern auf ein hel­di­sches Traum­bild.« Die Ankla­ge des »Ver­rats«, die nach der Befrei­ung auch gegen ihn erho­ben wur­de, konn­te Mour­re kaum nach­voll­zie­hen, weil ihm jeg­li­che vater­län­di­schen Bin­dun­gen fehlten.

Es ist bezeich­nend für sei­nen Cha­rak­ter, daß er sich erst in der Stun­de ihrer Nie­der­la­ge besieg­ten Kräf­ten wie der eben­falls in das Netz der Kol­la­bo­ra­ti­on ver­strick­ten Action fran­çai­se zuwand­te. Nach einer kur­zen Haft­stra­fe geriet der 17jährige Her­um­trei­ber in roya­lis­tisch-katho­li­sche Krei­se und ver­schlang gie­rig die Schrif­ten des nun­mehr grei­sen Charles Maur­ras, des­sen Unbeug­sam­keit ihn begeis­ter­te. Über Maur­ras ent­deck­te Mour­re end­lich den Anschluß an das »ewi­ge Frank­reich«: »Dank ihm ging mir der Sinn mei­ner Geburt auf. Beglückt erkann­te ich das mir Auf­ge­ge­be­ne, Natur­not­wen­di­ge, weil ich auf fran­zö­si­schem Boden gebo­ren war, weil ich, inso­fern ich leb­te, teil­hat­te an einem Schatz von Über­lie­fe­run­gen, Denk­nor­men und Bräu­chen, die sich im Lau­fe von Jahr­hun­der­ten her­aus­ge­bil­det hat­ten. Nicht sich sel­ber schenk­te da Maur­ras, nein, das gesam­te geschicht­li­che, geis­ti­ge, see­li­sche Erbe Frank­reichs, des latei­ni­schen, des ›römi­schen‹ Abend­lan­des schloß er auf.« Dazu gehör­te auch die »Begeg­nung mit der Ord­nung«, die »Sehn­sucht nach Eben­maß«, der »Hun­ger nach Wahrheit«. 

Mour­re fühl­te sich wie eine heim­ge­kehr­te Wai­se, glaub­te nun sei­ne »Ein­wur­ze­lung«, sei­ne Hei­mat, gefun­den zu haben. »Jeden Tag erleb­te ich die Freu­de, eine neue Bin­dung an Frank­reichs Geist und Boden auf­zu­spü­ren.« Er ver­kehr­te mit mon­ar­chis­ti­schen Split­ter­grup­pen, wur­de zum Wahl­kampf­hel­fer der gemä­ßigt rech­ten »Repu­bli­ka­ni­schen Frei­heits­par­tei«, prü­gel­te sich mit Kom­mu­nis­ten, träum­te von der Her­aus­ga­be einer eige­nen Zeit­schrift. Mour­res wach­sen­de Begeis­te­rung für den Katho­li­zis­mus ging nun weit über Maur­ras hin­aus – die­sen Athe­is­ten, der die Kir­che in ers­ter Linie als natio­na­le Ord­nungs­macht pries. Er begeis­ter­te sich für ihre »tau­send­jäh­ri­gen Gebär­den« und ihre alt­ehr­wür­di­ge Geschich­te. Selbst bei dem ungläu­bi­gen Maur­ras hat­te er Sät­ze gele­sen wie: »Ohne Anru­fung Got­tes, der die Fran­zo­sen liebt, wäre Frank­reich ein ent­ar­te­ter Begriff.« Nun war ein noch grö­ße­rer Hun­ger in Mour­re ent­facht, der Hun­ger nach dem Abso­lu­ten, nach Gott, der zum uni­ver­sa­lis­ti­schen Feu­er auf­lo­der­te: Nicht eher soll­te die Kir­che ruhen, »bis die gan­ze Erde in eine ein­zi­ge rie­si­ge Kir­che ver­wan­delt war und Gott je und je ver­herr­licht und geprie­sen wur­de im Leben eines jedes ein­zel­nen Menschen«. 

Mit acht­zehn Jah­ren ließ Mour­re sich tau­fen, ein Jahr spä­ter trat er als Novi­ze in das Domi­ni­ka­ner-Klos­ter zu Saint-Maxi­min in der Pro­vence ein. Dazwi­schen lag ein Inter­mez­zo als Besat­zungs­sol­dat in Deutsch­land, das ihn fremd­ar­tig fas­zi­nier­te. Er erleb­te gar den Schmerz, »das Volk der Rit­ter mei­ner Träu­me uns küm­mer­li­chen Sie­gern gefü­gig zu sehen.« Der Geist Deutsch­lands drück­te sich ihm vor allem in dem Dürer-Stich »Rit­ter, Tod und Teu­fel« aus, dem auch Domi­ni­que Ven­ner ein gan­zes Kapi­tel in Un samou­raï d’Occident gewid­met hat. Mour­re füg­te sich ein hal­bes Jahr lang in die Klos­ter­dis­zi­plin und unter­warf sich dem Mönchs­le­ben außer­halb von Geschich­te und Welt. Doch bald schon mach­ten sich die alte Rast­lo­sig­keit und das Gefühl des Unge­nü­gens bemerk­bar. Er ver­ließ das Klos­ter und kehr­te nach Paris zurück. Die Hoch­span­nung sei­ner mys­ti­schen Pha­se fiel schlag­ar­tig ab, und bald schwand auch der Glau­be. Erneut fand er sich unter Bohe­mi­ens, Tag­löh­nern und ver­krach­ten Exis­ten­zen wie­der, erneut bin­dungs­los, ziel­los, ohne einen erkenn­ba­ren Lebenssinn. 

Mit Gott hat­te er den Zugriff auf die Welt, das Leben und die Mit­men­schen wie­der ver­lo­ren. Nun erleb­te er sich in einer radi­ka­len Ent­frem­dung und Iso­la­ti­on, nicht anders als die Roman­fi­gu­ren von Sart­re und Camus. Aber eine Rech­nung war noch offen. »Über­druß und Miß­ver­gnü­gen« ver­wan­del­ten sich in einen »hys­te­ri­schen, über­spann­ten Haß gegen Gott« und die katho­li­sche Kir­che. Im Zustand einer beses­se­nen Ange­spannt­heit voll­zog er den Eklat von Not­re-Dame. Rück­bli­ckend ver­warf er sei­ne Tat und sah sei­ne Geschich­te als »Geschich­te eines Schei­terns«. »Außer­halb Got­tes erlan­gen wir nichts. Gott wal­tet fort und fort, am Born unse­res Lebens und zu unse­rem Heil. … Gott bleibt als rei­ne Hoff­nung, die kein Schmutz, kei­ne mensch­li­che Schnö­dig­keit zuschan­den machen kann.« Mour­re geriet nun in Ver­ges­sen­heit und wähl­te die Kon­tem­pla­ti­on des Gelehr­ten, unter ande­rem als Autor eines mehr­bän­di­gen Lexi­kons der Uni­ver­sal­ge­schich­te. Er starb 1977, nach einem rast­lo­sen, exzen­tri­schen Leben. 

III.

Zurück zu Domi­ni­que Ven­ner, der nach einer Pha­se als jugend­li­cher, mili­tant-natio­na­lis­ti­scher Akti­vist eben­falls zum »medi­ta­ti­ven His­to­ri­ker« wur­de: Die Lek­tü­re von Michel Mour­res Auto­bio­gra­phie erin­nert uns, daß zwi­schen dem »Tod Got­tes« und dem Tod Euro­pas und Frank­reichs ein enger Zusam­men­hang besteht. Sowohl Mour­re als auch der nur sie­ben Jah­re jün­ge­re Domi­ni­que Ven­ner haben sich vor dem jahr­hun­der­te­al­ten Altar Not­re-Dames, im Abstand von über sechs Jahr­zehn­ten, ein- und der­sel­ben Kri­se gestellt, mit der Glut eines Geis­tes, den die meis­ten Nomi­nal­chris­ten heu­te nicht mehr ken­nen. Die gro­ße, kri­ti­sche Fra­ge nach der »Ein­wur­ze­lung« des post­christ­li­chen Men­schen bleibt wei­ter­hin offen. 

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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