Vor dem Bücherschrank (I)

55pdf der Druckfassung aus Sezession 55 / August 2013

von Michael Rieger

Heinrich von Kleists Hermannsschlacht, Annette von Droste-Hülshoffs Geistliches Jahr, Peter Roseggers Jakob der Letzte, Ernst Wiecherts Das einfache Leben, Hans Grimms Heynade und England ... Sie alle haben ihren Platz in der deutschen konservativen Literatur. Beim Stöbern im Bücherschrank erinnern auch die verstaubten Titel, den andernorts üblichen Vereinheitlichungen und Banalisierungen zum Trotz, an eine viel weitere und tiefere Wirklichkeit.

Wie etwa Achim von Arnims Die Kro­nen­wäch­ter (1817), ein ver­ges­se­nes Geflecht bibli­scher und mit­tel­al­ter­li­cher Moti­ve, das so »nur in Deutsch­land mög­lich« und für Nicht­deut­sche »voll­kom­men unbe­greif­lich« gewe­sen sei, wie Georg Her­wegh anmerk­te. Dabei besitzt der Hin­ter­grund des Romans nichts Kryp­ti­sches: 1806 mar­kier­te das Ende des tau­send­jäh­ri­gen Hei­li­gen Römi­schen Rei­ches Deut­scher Nati­on, und als kurz dar­auf Napo­le­on nie­der­ge­kämpft war, blieb die deut­sche Nati­on zer­split­tert zurück, auf der Suche nach ihrer poli­ti­schen Form. In die­sem Zusam­men­hang erin­nert Achim von Arnim an »gro­ße Hoff­nun­gen aus frü­he­ren Tagen«, an das »hei­li­ge Geschlecht« der Hohen­stau­fen. Zwi­schen 1475 und 1519, als »das Himm­li­sche … noch nicht so weit der Erde ent­rückt« war, läßt Arnim mit der Figur des Bert­hold einen Nach­fah­ren der Stau­fer auf­tre­ten. Doch deren Herr­schaft ende­te schon 1254 – seit­her sit­zen ande­re auf dem Kai­ser­thron, wie der Habs­bur­ger Maxi­mi­li­an I.

Der fühlt sei­ne Macht aber von dunk­len Mäch­ten bedroht: Denn der skru­pel­lo­se, vor Mord nicht zurück­schre­cken­de Geheim­bund der Kro­nen­wäch­ter, »zwölf alte, star­ke, gehar­nisch­te Män­ner«, will die Stau­fer zurück auf den Thron heben, sie allein sei­en als legi­ti­me Nach­fah­ren zur Herr­schaft übers Reich beru­fen. »Es gehe schon lan­ge die Sage von Spröß­lin­gen der Hohen­stau­fen, die in einem unzu­gäng­li­chen Schlos­se der Zeit war­te­ten, den Kai­ser­thron zu erstrei­ten.« Dort blin­ke »in einer kris­tal­le­nen, matt geschlif­fe­nen Scha­le« die Kro­ne, »ein schlech­ter gold­ner Rei­fen über einen eiser­nen Ring geschmie­det«, Sym­bol der alten Ein­heit des Rei­ches, die auch eine von Glau­ben und Macht war. Und so läßt sich Bert­hold, des­sen Her­kunft bis zu Karl dem Gro­ßen zurück­reicht, mit den wahr­lich schrä­gen Kro­nen­wäch­tern ein.

Malt Arnim eine Uto­pie mit­tel­al­ter­li­cher Restau­ra­ti­on? Der Roman sträubt sich, vol­ler iro­ni­scher Brü­che, gegen jede ein­deu­ti­ge Inter­pre­ta­ti­on. Daß Bert­hold auf die aus­ge­brann­ten »Über­bleib­sel« von Bar­ba­ros­sas Palast stößt, deu­tet zwar Nach­fol­ge an; daß er dar­auf aber eine Tuch­fa­brik errich­tet, weist ihn als Krä­mer­see­le aus. Poli­tisch ist mit Bert­hold so wenig los wie mit dem Kai­ser selbst, den ver­bohr­ten Kro­nen­wäch­tern und den ande­ren edlen Nach­fah­ren, die in ver­fal­len­den Bur­gen hau­sen. Vom Blitz getrof­fen, stirbt Bert­hold in der Staufer­gruft des Klos­ters Lorch, wo in Mar­mor gehau­en steht: »Daß ein Geschlecht ver­ge­he und das and­re kom­me, und die Erde indes­sen unbe­weg­lich blei­be und ein jeg­li­ches Ding sei­ne Zeit und alles unter dem Him­mel sei­ne Stun­de habe, des­sen geden­ket man nicht«.

Die alte Zeit ist längst dahin, alle sind abge­fal­len vom Glau­ben an die alten Wer­te vom Reich; das Ver­gan­ge­ne zurück­zu­zwin­gen, wie die Kro­nen­wäch­ter es erträu­men, muß als Far­ce enden. Das Ide­al der Kro­ne aber, ewig gül­ti­ges Mus­ter wah­rer Rit­ter­lich­keit und Gol­de­ner Zeit, geht nicht ver­lo­ren, nur weil die Men­schen ungläu­big oder schul­dig gewor­den sind oder unfä­hig, ihre eige­nen Schät­ze als sol­che zu erken­nen. Mögen die Hei­li­gen der Erde »ent­zo­gen« sein und die Engel sich »ver­ste­cken«, den »hei­li­gen Dich­tun­gen« gleich ist es die Auf­ga­be der Lite­ra­tur, das Erbe fortzuschreiben.

Für Ema­nu­el Gei­bel war Arnim somit selbst »der treue Kro­nen­wäch­ter / Alt­deut­scher Got­tes­furcht und edler Sit­te«. Für den Kro­nen­wäch­ter des 20. Jahr­hun­derts, Rein­hold Schnei­der, ver­fehl­ten Arnims Cha­rak­te­re »die Ver­ei­ni­gung des Alten mit dem Neu­en, die Bewah­rung, Wie­der­ge­win­nung des Erbes durch des­sen rech­te Wand­lung«, da ihnen der eigent­li­che, der inne­re Adel abhan­den gekom­men sei. Weder im fort­schritt­li­chen Fabrik­bau noch im okkul­ten, eiser­nen Behar­ren lebe das kost­ba­re Erbe wei­ter, son­dern allein in Arnims aktu­el­ler Ahnung, »daß die Kro­ne Deutsch­lands nur durch geis­ti­ge Bil­dung erst wie­der errun­gen werde.«

Als Adal­bert Stif­ter die Bun­ten Stei­ne (1853) ver­öf­fent­lich­te, waren sei­ne libe­ra­len Illu­sio­nen von 1848 dahin. Ihn inter­es­sier­ten immer weni­ger die Kräf­te, »die nach dem Bestehen des Ein­zel­nen zie­len«, als jene, »die nach dem Bestehen der gesam­ten Mensch­heit hin­wir­ken, die durch die Ein­zel­kräf­te nicht beschränkt wer­den dür­fen, ja im Gegen­tei­le beschrän­kend auf sie sel­ber ein­wir­ken«. Stif­ters Absa­ge an Indi­vi­dua­lis­mus und »Selbst­sucht« führ­te ihn zur Erkennt­nis vom »sanf­ten Gesetz …, wodurch das mensch­li­che Geschlecht gelei­tet wird«.

In den all­täg­lichs­ten Momen­ten und zwi­schen­mensch­li­chen Bezie­hun­gen hat Stif­ter die­ses Gesetz eben­so gefun­den wie »in der Ord­nung und Gestalt, womit gan­ze Gesell­schaf­ten und Staa­ten ihr Dasein umge­ben«. Über­all wirkt es, ver­bor­gen, still, sanft. Wie die Natur­ge­set­ze die Welt erhal­ten, so erhält das sanf­te Gesetz die Men­schen: »Es ist das Gesetz die­ser Kräf­te das Gesetz der Gerech­tig­keit, das Gesetz der Sit­te, das Gesetz, das will, daß jeder geach­tet geehrt unge­fähr­det neben dem andern bestehe, daß er sei­ne höhe­re mensch­li­che Lauf­bahn gehen kön­ne, sich Lie­be und Bewun­de­rung sei­ner Mit­men­schen erwer­be, daß er als Klein­od gehü­tet wer­de, wie jeder Mensch ein Klein­od für alle andern Men­schen ist. Die­ses Gesetz liegt über­all, wo Men­schen neben Men­schen woh­nen, und es zeigt sich, wenn Men­schen gegen Men­schen wirken.«

Was Stif­ter hier for­mu­liert, ist das Bild eines ewi­gen Gefü­ges und Maßes: Nur in ihm ist das »Recht des Gan­zen ver­eint mit dem des Tei­les«. Und so sieht Stif­ter auch sehr genau vor­aus, was zu erwar­ten ist, soll­te die­ses Gesetz ver­nach­läs­sigt wer­den: »Der ein­zel­ne ver­ach­tet das Gan­ze, und geht sei­ner Lust und sei­nem Ver­der­ben nach, und so wird das Volk eine Beu­te sei­ner inne­ren Zer­wir­rung oder die eines äuße­ren wil­de­ren aber kräf­ti­ge­ren Fein­des«. Quod erat demonstran­dum. Daß Stif­ter so akri­bisch Bäu­me, Sträu­cher und Wald­we­ge beschreibt, die­ses ganz neue, ganz alte Sehen, ver­weist auf die unend­lich ver­zweig­te, über­in­di­vi­du­el­le Ord­nung – mit Gra­nit, Turm­a­lin, Berg­kris­tall woll­te Stif­ter »ein Körn­lein Gutes zum Bau des Ewi­gen« bei­tra­gen. Sein legi­ti­mer Erbe, Peter Hand­ke, ver­or­te­te Stif­ters Werk zu Recht in der Tra­di­ti­on der Geor­gi­ca des Ver­gil. So weit reicht die­se Wahr­neh­mung der Welt zurück, und nichts könn­te weni­ger modisch, weni­ger belie­big sein als Stif­ters Tex­te, denn »die Lang­sam­keit der stil­len und sanf­ten Pro­zes­si­on sei­ner Din­ge, Land­schaf­ten, Hel­den«, so Hand­ke, sei eine Lite­ra­tur des »Rechen­schaft­ge­bens«.

Noch vor den gro­ßen Theo­rie­wer­ken wie Oth­mar Spanns Der wah­re Staat (1921) oder Moel­ler van den Brucks Das drit­te Reich (1923) war es ein lite­ra­ri­scher Text, wel­cher der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on eine spe­zi­fi­sche Kon­tur ver­lei­hen soll­te: Ernst Jün­gers In Stahl­ge­wit­tern (1920). Schon der Titel deu­tet den Krieg als Natur­ge­walt: Der Autor setz­te sich den Ele­men­ten aus. Der Ästhet an der Front. Krieg wur­de hier als über­mäch­ti­ge Wucht erfah­ren, nicht geprägt von per­sön­li­cher Feind­schaft, son­dern »sports­män­ni­scher Ach­tung«, nicht mora­lisch ver­wor­fen, son­dern unsen­ti­men­tal und in aller Klar­heit beschrie­ben. Alle Aspek­te die­ser Hal­tung muß­ten den Bür­ger damals wie heu­te befrem­den, das Archai­sche, das Heroi­sche, Todes­mut und Todes­nä­he. »Unver­geß­lich sind sol­che Augen­bli­cke auf nächt­li­cher Schlei­che. Auge und Ohr sind bis zum äußers­ten gespannt … Der Atem geht stoß­wei­se; man muß sich zwin­gen, sein keu­chen­des Wehen zu dämp­fen. Mit klei­nem, metal­li­schem Knacks springt die Siche­rung der Pis­to­le zurück; ein Ton, der wie ein Mes­ser durch die Ner­ven geht. Die Zäh­ne knir­schen auf der Zünd­schnur der Hand­gra­na­te. Der Zusam­men­prall wird kurz und mör­de­risch sein. Man zit­tert unter zwei gewal­ti­gen Gefüh­len: der gestei­ger­ten Auf­re­gung des Jägers und der Angst des Wil­des. Man ist eine Welt für sich, voll­ge­so­gen von der dunk­len, ent­setz­li­chen Stim­mung, die über dem wüs­ten Gelän­de lastet.«

Adre­na­lin­schub und Grenz­erfah­rung führ­ten Jün­ger weit hin­aus in die Ver­wüs­tung, in die unbe­herrsch­ba­re Mate­ri­al­schlacht, ins apo­ka­lyp­ti­sche Sze­na­rio eines »unge­heu­ren Getö­tes«: »Mit trä­nen­den Augen stol­per­te ich zum Vaux-Wald zurück, indem ich, durch die beschla­ge­nen Fens­ter der Gas­mas­ke geblen­det, aus einem Trich­ter in den ande­ren stürz­te. Die­se Nacht war, mit der Wei­te und Unwirt­lich­keit ihrer Räu­me, von gespens­ti­scher Ein­sam­keit. Wenn ich in die­ser Fins­ter­nis auf Pos­ten oder umher­ir­ren­de Ver­spreng­te stieß, hat­te ich das eisi­ge Gefühl, daß ich mich nicht mehr mit Men­schen, son­dern mit Dämo­nen unter­hielt. Man schweif­te wie auf einem rie­si­gen Schutt­platz jen­seits der Rän­der der bekann­ten Welt.«

In Reg­nié­ville wur­de Jün­ger mit einer »gewalt­sa­men Auf­klä­rung« beauf­tragt: Ein­drin­gen in feind­li­che Grä­ben, Gefan­ge­ne neh­men. Am 23. Sep­tem­ber 1917 zieht Jün­ger mit vier­zehn Mann los, das Unter­neh­men beginnt mit einem Hand­gra­na­ten­kampf, es geht kreuz und quer durch Lauf­grä­ben, vor Jün­gers Augen ver­schwin­den »schat­ten­haf­te Gestal­ten« – wie sie auch Odys­seus und Äne­as bei ihrem Gang in die Unter­welt begeg­nen. Eine Gra­na­te geht hoch, Jün­ger wird leicht ver­wun­det, immer tie­fer geht es »in die öden, pul­ver­dampf­ver­han­ge­nen Grä­ben hin­ein«, die Sol­da­ten ver­lau­fen sich und tau­chen plötz­lich nicht mehr auf, nie­mand weiß mehr, wo er eigent­lich ist, unter wei­te­ren Angrif­fen aus dem Dun­kel ver­stri­cken sich die Res­te von Jün­gers Trupp »immer tie­fer in das Gra­ben­ge­wirr«, bis das Schei­tern des Ein­sat­zes nur noch den Rück­zug erlaubt, unter Gewehr­sal­ven geht die Flucht übers Nie­mands­land zurück, zehn Mann sind ver­schwun­den, gefal­len, wur­den gefan­gen­ge­nom­men, mit nur vier Mann kehrt Jün­ger zurück. »Ich habe im Krieg man­ches Aben­teu­er bestan­den, doch keins war unheim­li­cher. Noch immer gera­te ich in eine beklom­me­ne Stim­mung, wenn ich an unse­ren Irr­weg durch die unbe­kann­ten, vom kal­ten Früh­licht erhell­ten Grä­ben zurück­den­ke. Es war wie in einem laby­rin­thi­schen Traum.«

Manch­mal stößt man auf einen Text, des­sen star­ker Reiz in einer merk­wür­di­gen Fer­ne, ja Fremd­ar­tig­keit liegt. So ging es mir vor 20 Jah­ren mit der Sil­ber­dis­tel­klau­se (1947) von Fried­rich Georg Jün­ger. Goe­thisch-ana­chro­nis­tisch war hier ein eige­ner, schlich­ter Ton ange­schla­gen, skep­tisch, sper­rig, hei­ter, heil: »Was denn hilfts dem ste­ten Fra­ger, / Daß er einen Baum ent­rin­det, / Wenn er hin­ter jeder Fra­ge / Eine neue Fra­ge fin­det. // Gib es auf, den Grund des Grun­des / Mit der Nadel zu ergrün­den. / Glaubst du hin­ter jeder Türe / Eine neue Tür zu finden?«

Solch unmo­der­ne Abge­klärt­heit kommt nicht von unge­fähr, sie hat ihre Vor­ge­schich­te. Mit dem älte­ren Bru­der Ernst war auch Fried­rich Georg Jün­ger aus den Stahl­ge­wit­tern von 1914/18 her­vor­ge­gan­gen, schwer ver­wun­det; als kon­ser­va­tiv-revo­lu­tio­nä­rer Publi­zist über­trumpf­te er Ernst bis­wei­len in ver­ba­lem Radi­ka­lis­mus: »Wäre es nicht ein furcht­ba­rer Gedan­ke, die Demo­kra­ten mit Knüp­peln tot­schla­gen zu müs­sen? Wohin soll­ten so frucht­lo­se Anstren­gun­gen füh­ren. Die wach­sen­de Oeko­no­mie des moder­nen Lebens ver­langt Prä­zi­si­ons­in­stru­men­te der Ver­nich­tung.« Als dann die prä­zi­se Ver­nich­tungs­ma­schi­ne­rie des Natio­nal­so­zia­lis­mus ihre Arbeit tat, hat­ten die Brü­der schon den Rück­zug ange­tre­ten, ihren Weg vom pole­mi­schen Aktio­nis­mus zur Kon­tem­pla­ti­on, der sich bei Fried­rich Georg als bis zur welt­an­schau­li­chen Iden­ti­fi­ka­ti­on gehen­de Aneig­nung der grie­chi­schen Mytho­lo­gie darstellte.

Bei Besu­chen in einem abge­le­ge­nen Vor­arl­ber­ger Bau­ern­haus ent­stan­den fili­gra­ne Dia­lo­ge mit der Natur, geschrie­ben, wäh­rend alles drum her­um kaputt­ging, wie auch nach dem Zwei­ten Welt­krieg. So hat die­se vita con­tem­pla­ti­va die Erfah­rung, die his­to­ri­schen Extre­me aus­ge­lo­tet zu haben, als Vor­aus­set­zung. Ent­spre­chend geht es wie­der­um um einen gereif­ten, aber nicht weni­ger radi­ka­len Gegen­stand­punkt, um eine Anti­the­se der zeit­lo­sen Ruhe »in einer ruhe­lo­sen Zeit«. Weil die Gegen­wart von büro­kra­ti­schem Zwang beherrscht ist und der ein­zel­ne mit der Mas­se ver­schwimmt, sich alles dem »Zweck« und einem ver­ab­so­lu­tier­ten Ver­stand zu fügen hat, der schon oft genug »in Grä­ben« gelan­det ist, bleibt dem »geis­ti­gen Men­schen«, selbst wenn »›der Wind die Hüt­te biegt‹«, nur noch der Rück­zug ins »Ver­steck«, um zu »ent­wei­chen«, sich jenen Köp­fen zu ent­zie­hen, »wel­che die­se Welt ver­nut­zen«. Hier klingt auch Jün­gers schon vor Aus­bruch des Welt­kriegs ent­wi­ckel­te Tech­nik­kri­tik an: »Wollt ihr aber statt der Flüs­se / Durch das Land Kanä­le trei­ben, / So gelüs­tets mich nicht län­ger, / Hier in die­sem Land zu bleiben.«

Die Absa­ge an eine nur noch »ver­nutz­te«, ver­wal­te­te Welt gleicht der Über­sied­lung ins Land der Dich­ter, wo man nicht »mit Scharf­sinn aus­beu­tet«, son­dern »in Bil­dern deu­tet«. Kon­kre­ter Rück­zugs­raum ist die Vor­arl­ber­ger Abge­schie­den­heit, wo auf den Wie­sen rund ums Haus Sil­ber­dis­teln wach­sen, die zur sym­bo­li­schen Aus­deu­tung ein­la­den: Die mön­chi­sche »Klau­se« steht fern­ab vom Trei­ben, ganz wie die wider­spens­tig-wider­stän­di­ge Dis­tel sich unan­tast­bar von der Außen­welt abkap­selt. Kon­se­quent erhebt Jün­ger sie zum Wap­pen­zei­chen eines »frei­en Bett­ler­or­dens«, auf die his­to­ri­schen Vor­bil­der anspie­lend, die in ihrer Karg­heit, Welt­ab­ge­wandt­heit, Natur­nä­he, in der Medi­ta­ti­on auch Vor­bild für die Dich­ter sind – die gleich­falls einen ver­streu­ten, schlecht­be­zahl­ten, »frei­en Bett­ler­or­den« bil­den, wie auch die Vögel, die hier und da her­um­flie­gend, Nah­rung suchend ihre Lie­der sin­gen. So wer­den Reli­gi­on, Natur und Lite­ra­tur ver­knüpft; was die Ratio aus­ein­an­der­reißt, wird von Jün­ger poe­tisch zusam­men­ge­führt, »mit dem Mut des Lie­ben­den«. Damit erweist sich Jün­gers Gegen­bild zum Mit­tun im kor­rup­ten Welt­ge­schie­be als dich­te­ri­sche Sezes­si­on: »Damals fand ich als ein Zei­chen, / Dass der Dich­ter anders lebe.« 

»Anders«: Einem Mönch, einem indi­schen Aske­ten ver­wandt, strebt Jün­ger »eine ande­re Ele­men­ta­ri­tät« an, wie es zeit­gleich in einem Brief heißt. Außer­halb von Orga­ni­sa­tio­nen und Zwän­gen ste­hend, wer­den ganz ande­re Ener­gien spür­bar, eben jene der Natur, des Mythos, der Tra­di­ti­on, der Ewig­keit. Auf sie ver­trau­end, bleibt eine »freie Bewe­gung« mög­lich. Die­se zu gewin­nen ist glei­cher­ma­ßen Zivi­li­sa­ti­ons­kri­tik und Selbst­ver­tei­di­gung, denn »der Mensch ist nicht so abhän­gig von den mecha­ni­schen und his­to­ri­schen Bedin­gun­gen, daß er ihnen im Gang der Amei­se zu fol­gen hätte«. 

Über Nova­lis wäre noch zu spre­chen, über Ricar­da Huch, über Wil­helm Schä­fer, auch über … – doch der kur­ze Blick auf die Kro­nen­wäch­ter und Krie­ger, Gesetz­ge­ber und Dich­ter­mön­che macht schon deut­lich, daß kon­ser­va­ti­ve Lite­ra­tur nur dort ent­steht, wo man sich dem Unver­bind­li­chen ent­zieht. Sie ver­bin­det uns mit den Bil­dern der Ver­gan­gen­heit, mit der Natur und mit dem, was hin­ter der Natur liegt. Es ist eine Lite­ra­tur des Primären.

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