Heilige Tiefe und geistiger Überblick: die Zeitschrift Antaios (1959–1971)

pdf der Druckfassung aus Sezession 16/Februar 2007

sez_nr_163von Alexander Pschera

Mircea Eliade und Ernst Jünger trafen sich erstmals 1957. Doch beinahe wären sie sich bereits fünfzehn Jahre zuvor, 1942, im Berliner Haus Carl Schmitts über den Weg gelaufen. Mircea Eliade hatte in Dahlem Station gemacht, um den Autor der Politischen Romantik und des Begriffs des Politischen kennenzulernen - Schriften, die Eliades eigenen politischen Weg begleiteten. Ihre Unterhaltung kreiste, wie Eliades Tagebuch zeigt, auch um das Thema maritimer Zivilisationen: Eliade lebte zu dieser Zeit in Lissabon, und Carl Schmitt schloß gerade die Arbeit an seinem Buch Land und Meer ab. Nur wenige Monate später, im November 1942, machte Ernst Jünger auf dem Weg an die Ostfront bei Carl Schmitt halt. Schmitt berichtete Jünger von seiner Bekanntschaft mit Eliade und gab ihm ein Exemplar der religionswissenschaftlichen Zeitschrift Zalmoxis zu lesen, die Eliade seit 1939 herausgab.


In sei­nem Tage­buch Strah­lun­gen notiert Ernst Jün­ger am 15. Novem­ber 1942 sei­ne Lek­tü­re­ein­drü­cke: „Lek­tü­re der Zeit­schrift Zalm­oxis, die sich nach einem von Hero­dot erwähn­ten sky­thi­schen Hera­kles benennt. Ich las dar­in zwei Auf­sät­ze, einen über die Bräu­che, unter denen die Wur­zel der Man­dra­go­ra aus­ge­gra­ben und ver­wen­det wird, und einen zwei­ten über den Sym­bo­lis­me Aqua­tique, der die Bezie­hun­gen zwi­schen dem Mon­de, den Frau­en und dem Meer bespricht. Bei­de stam­men von Mir­cea Elia­de, dem Her­aus­ge­ber, über den, sowie über sei­nen Meis­ter René Gué­non, Carl Schmitt mir Nähe­res berich­te­te. … Der Plan, der sich in die­ser Zeit­schrift aus­weist, ist viel­ver­spre­chend; statt der logi­schen spinnt sich eine Bil­der­schrift in ihr an. Das macht den Ein­druck von Kavi­ar, von Fisch­ro­gen. In jedem Sat­ze steckt Frucht­bar­keit.” Dies liest sich bereits wie eine aes­the­ti­ca in nuce der Zeit­schrift Antai­os, die Jün­ger gemein­sam mit Elia­de in den Jah­ren 1959 bis 1971 im Klett-Ver­lag her­aus­ge­ben würde.
Was für ein Pro­jekt war Zalm­oxis? Zalm­oxis ist ein thra­ki­scher Gott, genau­er: ein Gott der Geten in Thra­ki­en. Man nimmt heu­te an, daß sein Cha­rak­ter dem des Got­tes Dio­ny­sos ähnel­te, der auch thra­ki­schen Ursprungs war. Sei­ne Ver­eh­rer glaub­ten, nach ihrem Tod Unsterb­lich­keit bei Zalm­oxis zu erlan­gen. Daher schick­ten sie alle vier Jah­re einen Boten zu ihm, der durch Los gewählt wur­de. Die­sen Mann war­fen sie über drei auf­ge­rich­te­ten Speer­spit­zen in die Luft. Starb der Bote, so nahm man an, Zalm­oxis habe die Wün­sche sei­ner Ver­eh­rer erhört. Blieb er am Leben, so deu­te­te man dies als Zei­chen dafür, daß er ein schlech­tes Leben geführt habe und des Got­tes nicht wür­dig sei. Indem Elia­de sei­ner Zeit­schrift den Namen Zalm­oxis gab, setz­te er einen natio­na­len Akzent. Denn Zalm­oxis wirk­te in der Anti­ke auf dem Gebiet, das spä­ter Rumä­ni­en ein­nahm. In der Tat lag es in Elia­des Absicht, mit Zalm­oxis die rumä­ni­sche Reli­gi­ons­wis­sen­schaft zu begrün­den. Die Zeit­schrift ver­stand Elia­de als ein „Enga­ge­ment für die rumä­ni­sche Kul­tur”, „das sich auf euro­päi­scher Ebe­ne aus­wir­ken” soll­te. Sein Vor­bild war der ita­lie­ni­sche Reli­gi­ons­for­scher Raf­fae­le Pet­ta­zo­ni. Wie Pet­ta­zo­ni in Ita­li­en, so plan­te auch Elia­de, die Zeit­schrift durch eine Buch­edi­ti­on, die den Titel „Biblio­thek der Reli­gi­ons­for­schung” tra­gen soll­te, zu ergän­zen. Nach Finan­zie­rungs­schwie­rig­kei­ten erschien die ers­te von ins­ge­samt nur drei Num­mern von Zalm­oxis Anfang April 1939. Als Autoren für die Zeit­schrift konn­te Elia­de nam­haf­te Reli­gi­ons­for­scher gewin­nen, dar­un­ter Jean Przylu­ski, Carl Hent­ze und Anan­da Coomaraswamy.

Ein Exem­plar die­ser Zeit­schrift bekam Ernst Jün­ger also 1942 in die Hand und er begriff ihren Plan: „ … statt der logi­schen spinnt sich eine Bil­der­schrift in ihr an”. Dies ist eine für Jün­ger typi­sche For­mu­lie­rung. Sie baut eine grund­sätz­li­che Gegen­über­stel­lung auf, deren begriff­li­che Anti­po­den „logi­sche (Schrift)” und „Bil­der­schrift” aller­dings sehr vage blei­ben. Sie blei­ben des­halb so vage, weil ihr Ziel- und Ruhe­punkt das Bild des nächs­ten Sat­zes ist: „Das macht den Ein­druck von Kavi­ar, von Fisch­ro­gen. In jedem Satz steckt Frucht­bar­keit”. Wie so oft, ver­läßt sich Jün­ger nicht auf die Unter­schei­dungs­kri­te­ri­en begriff­li­chen Den­kens und For­mu­lie­rens, son­dern streift die­se nur, um das, was er eigent­lich sagen will, in einem Bild aus­zu­drü­cken, auf des­sen Erkennt­nis­kraft er setzt. Er selbst resti­tu­iert hier­mit auf der Stil­ebe­ne die vor­sprach­li­che, vor­lo­gi­sche „Bil­der­schrift”, die er an den in Zalm­oxis beschrie­be­nen und ana­ly­sier­ten Mythen bewun­dert. Was ihn an Zalm­oxis fas­zi­niert, ist das, was man die Rück­über­schrei­tung des Logos hin zum Mythos, zum Prä­ko­gni­ti­ven, zum Bild­haf­ten nen­nen könn­te. Die Bei­trä­ge der Zeit­schrift ver­fol­gen nicht die Geschich­te von Ideen, son­dern die Geschich­te von Mythen und Sym­bo­len in einer Welt vor der Geschich­te. Dahin­ter steht Elia­des Denk­an­satz, von einer mytho­lo­gi­schen Visi­on und einer ursprüng­li­chen Sym­bol­spra­che aus­zu­ge­hen, die allen tra­di­tio­nel­len Gesell­schaf­ten eigen sei. In Zalm­oxis fin­det Jün­ger Anklän­ge an sein eige­nes Den­ken, das auf der Suche ist nach der ursprüng­li­chen Ein­heit der Erde.
Im Herbst 1952 las Elia­de Jün­gers Tage­bü­cher und stieß dort auf das Lek­tü­re­no­tat zu Zalm­oxis. Dar­auf­hin sand­te er Jün­ger ein Exem­plar sei­nes Buches Ewi­ge Bil­der und Sinn­bil­der, das eine Neu­fas­sung des Zalm­oxis-Auf­sat­zes zur Sym­bo­lik der Muscheln (Sym­bo­lis­me Aqua­tique) ent­hielt, den Jün­ger in den Strah­lun­gen erwähnt. Jün­ger ant­wor­tet am 26. Novem­ber 1952: Die­se Zeit­schrift „war der bes­te Ver­such die­ser Art, von dem ich bis heu­te Kennt­nis habe. Ich wür­de die Mög­lich­keit begrü­ßen, daß Sie ein­ver­stan­den wären, von neu­em etwas Ähn­li­ches in Angriff zu neh­men.” Doch erst 1957 nahm die­ses Vor­ha­ben kon­kre­te Gestalt an, nicht zuletzt auf Betrei­ben des Ver­le­gers Ernst Klett, des­sen Haus Ernst Jün­ger sei­ne Wer­ke ab den Glä­ser­nen Bie­nen (1957) anver­trau­te, nach­dem sich in den Jah­ren zuvor die Ver­la­ge Klett und Klos­ter­mann das Opus Jün­gers tei­len mußten.
Plä­ne für eine Zeit­schrift exis­tier­ten zwi­schen Ernst Klett und Jün­ger bereits seit Ende der vier­zi­ger Jah­re. In den Jah­ren des Neu­an­fangs nach 1945 spiel­ten Zeit­schrif­ten eine wich­ti­ge publi­zis­ti­sche Rol­le im poli­ti­schen und geis­ti­gen Dis­kurs. Klett woll­te mit einer eige­nen Zeit­schrift ein Zei­chen set­zen, die tra­di­ti­ons­ori­en­tier­ten Kräf­ten zusam­men­füh­ren und eine Platt­form für das kon­ser­va­ti­ve Den­ken schaf­fen. Neben der Zeit­schrift dach­te Ernst Klett auch an eine Kon­fe­renz, an der neben Ernst Jün­ger vor allem Mar­tin Heid­eg­ger, Wer­ner Hei­sen­berg, Fried­rich Georg Jün­ger, Carl Schmitt, Hans Spei­del und Ger­hard Nebel teil­neh­men soll­ten. Im Brief­wech­sel zwi­schen Ger­hard Nebel und Ernst Jün­ger las­sen sich zwi­schen Anfang und Mit­te 1949 die Über­le­gun­gen zu Zeit­schrift und „Kon­si­li­um” en détail ver­fol­gen – vor allem auch die ableh­nen­de Hal­tung erst Hei­sen­bergs, dann Heid­eg­gers, der im Plan für die­se Zeit­schrift, die Pal­las hei­ßen soll­te, ein poli­ti­sches Risi­ko witterte.

Die Zeit­schrift kam eben­so­we­nig zustan­de wie das Gre­mi­um. Hei­sen­berg, Heid­eg­ger und Fried­rich Georg Jün­ger begeg­ne­ten sich dann bei der Vor­trags­rei­he Die Küns­te im tech­ni­schen Zeit­al­ter vom 16. bis 20. Novem­ber 1953 im Audi­max der TU Mün­chen. Zum Plan der Zeit­schrift faßt Ernst Jün­ger am 25. Juni 1949 an Nebel zusam­men: „Ich hal­te es … für not­wen­dig, zum min­des­ten ein bis zwei Jah­re zu war­ten und die Kräf­te zu beob­ach­ten, die, wie ich hof­fe, auf­tau­chen.” Es dau­er­te dann jedoch etwas län­ger, bis sich die von Jün­ger beschwo­re­nen „Kräf­te” kon­so­li­dier­ten und zwi­schen Jün­ger und Klett erneut ein Zeit­schrif­ten­pro­jekt kon­kret wur­de. Zu die­sem stieß nun auch Elia­de hin­zu. Am 11. Dezem­ber 1957 schreibt Jün­ger an Elia­de: „Wenn Sie sich bei Gele­gen­heit über­le­gen, in wel­chem Umfang eine Zeit­schrift wie Zalm­oxis heu­te noch erschei­nen könn­te, wer­den Ihre Über­le­gun­gen gewiß nicht auf unfrucht­ba­ren Boden fal­len.” Ein Jahr spä­ter kam es, ver­mit­telt durch Ernst Klett, im ita­lie­ni­schen Asco­na zu einer erneu­ten Begeg­nung zwi­schen Jün­ger und Elia­de. Jün­ger beschreibt sie in sei­nen vor weni­gen Jah­ren erst­mals ver­öf­fent­lich­ten Rei­se­no­ti­zen Sar­di­ni­en 1958: „Luga­no, 22. Juli 1958… Fand im ‚Dan­te‘ ein Tele­gramm von Klett vor, in dem er mir Mir­cea Elia­des Adres­se mit­teil­te. Rief dort gleich an; es ant­wor­te­te Frau Frö­be, die die Eranos-Tagun­gen zu ver­an­stal­ten scheint. Ver­ab­re­dung auf einen Anruf mor­gen um neun Uhr … Sin­gen, 23. Juli 1958. Nach­dem ich mich mit Elia­de ver­ab­re­det hat­te, fuhr ich nach Asco­na und besprach dort die ‚Antäus‘-Angelegenheit mit ihm. Fand ihn auf­ge­schlos­sen dafür … Gespräch über Zalm­oxis, Stein­zeit, Hux­leys Buch über Mes­ca­lin – wozu Elia­de mein­te, die Dro­ge füh­re nicht auf den ‚Urgrund zurück‘ … Gegen elf Uhr fuhr ich nach Luga­no zurück, rief dort Klett an, der nicht erreich­bar war, dik­tier­te sei­ner Sekre­tä­rin einen Bericht über die Abma­chun­gen mit Eliade.”
In die­sen „Urgrund” ein­zu­drin­gen, sei­nen Mythen und Sym­bo­len inter­dis­zi­pli­när nach­zu­spü­ren, soll­te die Auf­ga­be von Antai­os. Zeit­schrift für eine freie Welt wer­den. Die ers­te Num­mer der Zwei­mo­nats­schrift erschien im Som­mer 1959. Unter der Schrift­lei­tung von Phil­ipp Wolff-Wind­egg, des­sen Buch über das König­tum in die­sen Jah­ren im Klett-Ver­lag erschien und in dem er im Rück­gang auf Urbil­der des sakra­len König­tums eine Resti­tu­ti­on der Reichs­idee unter­nahm, ent­wi­ckel­te sich Antai­os bald zu einem Sam­mel­be­cken kon­ser­va­ti­ver Autoren. Unter ande­rem publi­zier­te in Num­mer 5 Juli­us Evo­la sei­nen ers­ten Auf­satz im Nach­kriegs­deutsch­land (Das Sym­bol, der Mythos und der irra­tio­na­lis­ti­sche Irr­weg).
Wie eng die Zusam­men­ar­beit zwi­schen Ernst Jün­ger und Mir­cea Elia­de tat­säch­lich war, läßt sich schwer beur­tei­len. Die Auf­nah­me von Autoren wie Roger Cail­lois, Mar­cel Jou­han­deau und Johann Georg Hamann ver­dankt sich natür­lich dem Ein­fluß Jün­gers, die zahl­rei­chen eth­no­lo­gi­schen und reli­gi­ons­wis­sen­schaft­li­chen Bei­trä­ge gehen sicher­lich auf Elia­des Ver­mitt­lung zurück. Aller­dings ist anzu­neh­men, daß die Fäden bei Wolff-Wind­egg zusam­men­lie­fen und die bei­den pro­mi­nen­ten Autoren – der eine im ober­schwä­bi­schen Wilf­lin­gen, der ande­re an der Uni­ver­si­tät von Chi­ca­go – nicht wirk­lich inten­siv an der Gestal­tung der ein­zel­nen Num­mern arbeiteten.

Aller­dings ließ es sich Jün­ger nicht neh­men, Antai­os pro­gram­ma­tisch sein Sie­gel auf­zu­drü­cken. In einem Ver­lags­pro­spekt erläu­tert Jün­ger das „Pro­gramm” der Zeit­schrift, und die­ser Text ist Jün­ger pur. Zunächst: die Frei­heit. Sie wird gleich im ers­ten Satz nicht ohne Pathos ange­ru­fen: „Die Zeit­schrift, die wir her­aus­zu­brin­gen beab­sich­ti­gen und der wir den Namen ANTAIOS geben, will der Frei­heit in der Welt die­nen.” Und dann schreibt Jün­ger Sät­ze, die cha­rak­te­ri­sie­ren, wel­che Art der Frei­heit er anspricht. Es ist kei­ne poli­ti­sche Frei­heit, die anzu­ru­fen vor dem Hin­ter­grund des Kal­ten Krie­ges durch­aus nach­zu­voll­zie­hen wäre, son­dern die Frei­heit „als geis­ti­ge Macht”: „Eine freie Welt kann nur eine geis­ti­ge Welt sein. Die Frei­heit wächst mit dem geis­ti­gen Über­blick, mit der Gewin­nung fes­ter, erhöh­ter Stand­or­te. Dort wer­den die Tat­sa­chen erkannt und wie­der­erkannt, und damit wird es mög­lich, sie zu benen­nen, zu ord­nen und in ihrem Gang zu bän­di­gen. Dort und von dort aus nimmt auch die Sicher­heit zu. Die Frei­heit folgt nicht der Sicher­heit, sie geht ihr als geis­ti­ge Macht vor­aus.” Frei­heit erscheint als Ein­sicht in Not­wen­dig­kei­ten, in Gesetz­mä­ßig­kei­ten des Erd­gan­ges, als Befrei­ung von blin­der Schick­sals­ver­fal­len­heit. Und doch ist es nicht Frei­heit durch Erkennt­nis, die Jün­ger meint – auch wenn der Drei­schritt von „Benen­nen – Ord­nen – Bän­di­gen” in die­se Rich­tung zu wei­sen scheint. Hier sei noch­mals an den „Plan” von Zalm­oxis erin­nert, der Jün­ger so beein­druckt hat­te: „statt der logi­schen spinnt sich eine Bil­der­schrift in ihr an.” Frei­heit grün­det also nicht auf den Abs­trak­tio­nen, die das Erken­nen des Men­schen unse­res Zeit­al­ters leis­tet. Die­se Abs­trak­tio­nen schwä­chen die Mythen und Bil­der der Vor­zeit ab, indem sie die­se ins All­ge­mei­ne über­hö­hen. Ech­te mensch­li­che Frei­heit dage­gen ist als geis­ti­ge Potenz nur dort denk­bar, wo die Mythen, auf denen der Logos grün­det und aus denen er sich ent­wi­ckel­te, zum Spre­chen gebracht werden.
Für die­se Erdung, die­se Ver­wur­ze­lung des Den­kens der Frei­heit, fin­det Jün­ger als „heral­di­sche Figur” (Karl Korn) den Rie­sen Antai­os. Es ist auch sei­ne Frei­heit, sei­ne Unbe­siegt­heit, die der Unter­ti­tel anspricht: Antai­os war ein Sohn des Mee­res­got­tes Posei­don und Gai­as, der Göt­tin der Erde, die die Römer Ter­ra oder Telus nann­ten. Antai­os, der in Liby­en leb­te und als der kräf­tigs­te und geschick­tes­te Kämp­fer der grie­chi­schen Sagen­welt galt, erhielt sei­ne Kraft aus der Berüh­rung mit sei­ner Mut­ter, der Erde. Frem­de pfleg­te er zum Ring­kampf auf­zu­for­dern. Wur­de er zu Boden gewor­fen, so erneu­er­te sich sei­ne Stär­ke durch den Kon­takt mit der Erde. Die Schä­del sei­ner Opfer ver­wen­de­te er als Dach­zie­gel für den Tem­pel sei­nes Vaters. Hera­kles, der im Auf­trag des Eury­stheus in Liby­en unter­wegs war, um die Rin­der des Geryon zu holen, begeg­ne­te dort dem Rie­sen. Antao­is bewarf sich mit Sand und ver­dop­pel­te dadurch sei­ne Kraft. Hera­kles bestrich sich nach grie­chi­scher Sit­te mit Öl. Er besieg­te den Rie­sen Antai­os, indem er ihn von der Erde empor­hob, so von der Erde trenn­te und sei­ne Rip­pen zer­drück­te. Antai­os ist Sym­bol für eine Kraft, die, so Jün­ger im Pro­gramm der Zeit­schrift, „stets erneut” wird, „doch stets die­sel­be” bleibt – „einer der Wider­sprü­che von Man­nig­fal­tig­keit und Ein­heit, auf denen die Dau­er in der Zeit beruht. Antai­os berührt den gemein­sa­men Grund, aus dem die Völ­ker in ihrer Viel­zahl als Brü­der erwach­sen sind.”

Da ist er wie­der, der „Urgrund”, der Urmy­thos, den Jün­ger und Elia­de in Asco­na bespra­chen und dem sowohl der Reli­gi­ons­for­scher Elia­de nach­forsch­te wie der Dich­ter Jün­ger nach­dich­te­te. Jün­ger deu­te­te den Sieg des Hera­kles über Antai­os als einen Sieg der Tech­nik über die Urkräf­te der Erde, als einen Schritt in die Unfrei­heit und damit als einen Schritt der Mensch­heit weg von ihrer Kraft­quel­le, von ihrem Ursprung. Die­se Deu­tung läßt sich aus der Inter­pre­ta­ti­ons­ge­schich­te des Antai­os-Mythos ablei­ten, wen­det die­se jedoch in ihr Gegen­teil. So erscheint bei Dio­dor die Unter­wer­fung des Antai­os durch Hera­kles als ein Gleich­nis für die Stif­tung von Kul­tur, als die Kul­ti­vie­rung eines bar­ba­ri­schen Land­strichs – eine Dar­stel­lung, die auch vor dem Hin­ter­grund der Besied­lung Nord­afri­kas durch grie­chi­sche Sied­ler ver­stan­den wer­den muß: „Nach die­ser Groß­tat unter­warf er Liby­en, das voll wil­der Tie­re war, sowie zahl­rei­che Wüs­ten­ge­bie­te und kul­ti­vier­te sie, so daß sich das gesam­te Land mit Äckern und sons­ti­gen Pflan­zun­gen füll­te, die Früch­te her­vor­brin­gen; … Über­haupt wur­de Liby­en, das wegen der Unzahl ein­hei­mi­scher wil­der Tie­re nicht bewohn­bar war, von Her­ku­les kul­ti­viert und er erreich­te damit, daß es an Wohl­stand hin­ter kei­nem ande­ren Land zurück­blieb” (Dio­do­rus Sicu­lus, Biblio­the­ca His­to­ri­ca, 17,4).
Auch Pla­ton sieht im Sieg des Hera­kles über Antai­os einen Fort­schritt zu einem höhe­ren Grad an Kul­ti­vie­rung. In den Nomoi stellt er das unsport­li­che, „ung­rie­chi­sche” Rin­gen des Antai-os dem kor­rek­ten Wett­kampf­ver­hal­ten des Hera­kles gegen­über, der ja die Olym­pi­schen Spie­le begrün­de­te. Maß­stab der ethi­schen Beur­tei­lung des sport­li­chen Ver­hal­tens ist die Rol­le, die die Lei­bes­übung als Vor­be­rei­tung für die Kriegs­füh­rung spielt: „Was sodann das Rin­gen anlangt, so sind die Knif­fe, die Antai­os oder Ker­kyon in ihren Küns­ten aus nutz­lo­sem Ehr­geiz erfun­den haben …, da sie für die krie­ge­ri­sche Begeg­nung nicht brauch­bar sind, es nicht wert, mit Wor­ten geprie­sen zu wer­den; aber die Kunst­grif­fe, die vom Rin­gen in auf­rech­ter Stel­lung her­stam­men, vom Her­aus­win­den des Nak­kens, der Arme und der Flan­ken, … die­se dür­fen wir, da sie zu jedem Zweck brauch­bar sind, nicht über­ge­hen, …” (Pla­ton, Nomoi, 79, 5a‑b).
Hera­kles begrün­de­te Geschich­te, nach Pla­ton sogar bür­ger­li­che Geschich­te. Er berei­te­te den Boden für eine geord­ne­te Gesell­schaft, die das Sta­di­um der Wild­nis und der Wild­heit ver­läßt und sich Regel­wer­ke und tech­ni­sche Vor­schrif­ten gibt. In Jün­gers Per­spek­ti­ve ist jene uralte Über­win­dung des Rie­sen Antai­os ein Gleich­nis für die Abtren­nung des Men­schen von der Erde, ein Gleich­nis für die fata­le Inkraft­set­zung der Auto­no­mi­sie­rung des mensch­li­chen Den­kens und Han­delns, das sich außer­halb des „Nomos der Erde” stellt. Die­ses Den­ken und Han­deln mün­det, so Jün­ger, in die Tech­nik und in unse­rer Zeit in eine Zuspit­zung der tech­ni­schen All­macht, in die tech­ni­sche Per­fek­ti­on (Fried­rich Georg Jün­ger: Die Per­fek­ti­on der Tech­nik), die jede Erdung ver­lo­ren hat. Auch dies cha­rak­te­ri­siert die Zei­ten­schwel­le, die Jün­ger in sei­nem Buch An der Zeit­mau­er beschrie­ben hat, das in jenen Jah­ren erschien (1959).

Im Antai­os-Pro­gramm heißt es hier­zu: „Die­se Berüh­rung ist, als Sym­bol gese­hen, stets die glei­che, und doch ver­schie­den im zeit­li­chen Gewan­de, beson­ders in einer Wen­de, an der nicht nur die Erde vom mensch­li­chen Bewußt­sein auf eine neue Wei­se tech­nisch, öko­no­misch, poli­tisch begrif­fen und umspannt wird, son­dern in der auch geis­tig und phy­sisch gewal­ti­ge Zurüs­tun­gen, sich von ihr abzu­lö­sen, im Gan­ge sind.” Hier­in nun sieht Jün­ger die Auf­ga­be sei­nes Den­kens der Frei­heit und mit­hin auch die Auf­ga­be der neu­en Zeit­schrift: „Auf­gang und Unter­gang, Licht und Schat­ten” nicht zu tren­nen, son­dern gemein­sam ins Auge zu fas­sen, eine, wie es hier etwas eso­te­risch heißt, „neue Ein­heit, Welt­ein­heit”, ein „kos­mi­sches Bewußt­sein …, dem Erde als sol­che Hei­mat wird”, zu begrün­den. Antai­os, der Sohn der Erde, tritt an, dem Zuwachs an Macht und Raum, den die Welt der Tech­nik eröff­net, „in der alten, hei­li­gen Tie­fe ein Gegen­ge­wicht” zu schaffen.
Jün­ger und Elia­de nah­men mit Figur und Namen des Antai­os die Gestalt des Zalm­oxis wie­der auf und for­mu­lier­ten ein anspruchs­vol­les Pro­gramm: Antai­os soll „fes­te, erhöh­te Stand­or­te” begrün­den, und zwar „theo­lo­gisch und phi­lo­so­phisch als auch durch das Kunst­werk, das geis­ti­ge Hei­mat schafft. All die­se Wege füh­ren auf ein gemein­sa­mes Pla­teau, auf dem die Dis­zi­pli­nen und Ideo­lo­gien als Hilfs­mit­tel erkannt wer­den. Man legt sie ab wie Krü­cken, die man an den Wän­den der Hei­lig­tü­mer sieht.” Ver­wirk­li­chung von Frei­heit als Auf­lö­sung von Denk­dis­zi­pli­nen ist denn auch das ers­te, was einem bei kur­so­ri­scher Sich­tung der Antai­os-Hef­te ins Auge fällt. Allein die sechs ers­ten Aus­ga­ben ent­hal­ten – unter ande­rem – Bei­trä­ge zur Musik im alten Grie­chen­land, zu Goe­the als Alchi­mis­ten, zur Sym­bo­lik Gior­gio­nes, zur mensch­li­chen Rechts­ord­nung, zu vor­ge­schicht­li­chen Fisch­gra­vie­run­gen in Japan, zu Daph­nis und Chloe, zum reli­giö­sen Ele­ment im Mar­xis­mus, zum Stif­tungs­ge­dan­ken, zu Sym­bol und Uto­pie der Staats­ver­fas­sung oder zum Pen­ta­gramm in Kroa­ti­en. Dane­ben ste­hen Tex­te von Elia­de (Der magi­sche Flug) sowie von Ernst (Sgraf­fi­ti, Vier­blät­ter, An der Zeit­mau­er) und von Fried­rich Georg Jün­ger (Antai­os). Und noch im letz­ten, zwölf­ten Jahr­gang (1971) fin­det man die­se Mischung aus ent­le­ge­ner Sym­bol­for­schung, hete­ro­do­xer Volks­kun­de, ver­glei­chen­der Mythen­be­trach­tung und dich­te­ri­schem Ver­such: Neben ande­ren schrei­ben Ger­hard Nebel über Ams­ter­dam als Biber­burg, der Mär­chen­for­scher Max Lüthi über Rum­pel­stilz­chen und der Sino­lo­ge Jan Ulen­brook über die Bedeu­tung der Nord-Süd-Rich­tung im alten China.
Nur am Ran­de sei bemerkt: 1971, im Jahr der Ein­stel­lung von Antai­os, grün­den Fried­rich Georg Jün­ger und Max Him­mel­he­ber im Ver­lag von Vitto­rio Klos­ter­mann die Schei­de­we­ge. Vier­tel­jah­res­schrift für skep­ti­sches Den­ken, deren Schrift­lei­ter der Antai­os-Mit­ar­bei­ter Franz Von­es­sen wur­de. Zwi­schen 1975 und 1982 erschei­nen die Schei­de­we­ge dann im Ver­lag Ernst Klett. Es wäre eine inter­es­san­te Auf­ga­be, genau­er zu unter­su­chen, inwie­weit die Schei­de­we­ge mit ihrem skep­ti­schen, öko­lo­gi­schen Ansatz, der zunächst ein­deu­tig kon­ser­va­tiv fun­diert war, den eigen­tüm­li­chen Blick, den Antai­os auf die Welt der Mythen und Sym­bo­le warf, fort­setz­ten und aktualisierten.

Die „Eigen­art des Bli­ckes” (Jün­ger), der hier auf die Welt gerich­tet wird, macht die Ein­heit der hete­ro­ge­nen Antai­os-Bei­trä­ge aus. Die­ser Blick erschließt sich bei der Lek­tü­re der für sich betrach­tet frag­los inter­es­san­ten Zeit­schrif­ten­bei­trä­ge nicht ohne wei­te­res, aber er wird erkenn­bar, wenn man aber­mals Jün­gers Pro­gramm zu Rate zieht. Hier unter­streicht Jün­ger, daß das, was auf den ers­ten Blick als Will­kür erscheint, begrenzt wird „durch die Wor­te Mythos und Sym­bol”. Auch dies ist zunächst wie­der ein typisch Jün­ger­scher Begriffs­pfahl, der vor dem Leser unver­mit­telt in den Boden gerammt wird. Was Jün­ger hier meint, ist: In der Viel­falt der his­to­ri­schen, poli­ti­schen, reli­giö­sen und ästhe­ti­schen Erschei­nun­gen suchen die Bei­trä­ge von Antai­os das immer Wie­der­keh­ren­de, die „Macht, die die Geschich­te grün­det und, … den Strom des Gesche­hens durch­bricht”. Zum Sym­bol wird ein sol­cher Mythos, wenn er sich emble­ma­tisch kon­kre­ti­siert. Die Erd­be­rüh­rung des Antai­os ist ein sol­ches Sym­bol. Die­se Suche nach mythi­schen Kom­ple­xen und Kon­stan­ten, nach „Urmy­then”, wenn man so will, ist nicht auf die Ver­gan­gen­heit beschränkt, son­dern greift auch auf Gegen­wart und Zukunft aus. Dies ist eben die Eigen­art des erhöh­ten Blicks, man könn­te auch sagen: des distan­zier­ten Betrach­ters. Wie ein roter Faden zieht sich die­se Suche nach den Urmy­then, die dem gemein­sa­men Urgrund ent­stei­gen, durch Antai­os. Die Zeit­schrift ist damit ein Zei­chen der Sehn­sucht nach einer ursprüng­li­chen Ein­heit und zugleich, so zumin­dest die Hoff­nung Jün­gers und Elia­des, Ankün­di­gung einer neu­en Welteinheit.

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