Michael Köhlmeiers »Joel Spazierer«

aus Sezession 62 / Oktober 2014

Man neigt dazu, die Werkliste des österreichischen Schriftstellers Michael Köhlmeier »unermeßlich« zu nennen. Köhlmeier, studierter Philosoph und Mathematiker, veröffentlicht im Akkord. Jedes Jahr ein Buch, im Schnitt, und das seit Jahrzehnten.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Neben sei­nen Roma­nen wur­de er durch Nach­er­zäh­lun­gen klas­si­scher Sagen­stof­fe popu­lär. Gera­de ist mit Zwei Her­ren am Strand ein wei­te­res Buch aus sei­ner Feder erschie­nen, das auf die Aus­wahl­lis­te zum Deut­schen Buch­preis gesetzt wur­de. Man liest die­se Sachen gern, Köhl­mei­er ver­steht sein Handwerk.

War­um hat man mit Ver­spä­tung zu den Aben­teu­ern des Joel Spa­zie­rer gegrif­fen? Weil der Buch­rü­cken zu pink, der Titel gra­phisch abschre­ckend erschien? Weil Köhl­mei­er kurz vor­her schon mal (mit sei­ner Gat­tin) eine »jüdi­sche Geschich­te« ver­faßt hat­te, ein Kin­der­buch, das man als miß­lun­gen emp­fun­den hat­te? Oder weil der kilo­schwe­re Spa­zie­rer all­zu dick­lei­big erschien? Bes­ser spät als nie: Die­ses Buch – just als Taschen­buch­aus­ga­be erschie­nen – ist nichts weni­ger als ein Meis­ter­werk der Erzähl­kunst, hin- und mit­rei­ßend von der ers­ten bis zur letz­ten Zeile.

So schrei­ben Kön­ner: ohne jedes Arbeits­ge­räusch, dabei span­nend, anspruchs­voll und enorm ein­falls­reich. Ver­stie­gen? Ja, das durch­aus, aber wie soll­te es anders gehen ange­sichts des laby­rin­thi­schen Daseins die­ses Prot­ago­nis­ten? Joel Spa­zie­rer wur­de vom renom­mier­ten Schrift­stel­ler Sebas­ti­an Lukas­ser ange­regt, sein Leben auf­zu­schrei­ben. Den Lukas­ser ken­nen wir aus ande­ren Köhl­mei­er-Roma­nen, es ist ein Alter ego des Autors selbst. Auch ande­ren Figu­ren, wie dem bele­se­nen Ehe­paar Leno­bel mit sei­nen gewag­ten jüdi­schen Wit­zen, begeg­nen wir erneut.

Spa­zie­rer ist ein aus­ge­dach­ter Name. Als Kind hieß er erst András Fülöp, spä­ter And­res Phil­ip, kurz­zei­tig Robert Rosen­ber­ger, dann Ernst-Thäl­mann Koch, kein Tipp­feh­ler: Thäl­mann ist der zwei­te Teil des Vor­na­mens. »Spa­zie­rer« wur­de zur Iden­ti­täts­ver­schleie­rung von einem ver­trau­ten lin­ken Pfar­rer für gut befun­den: »Es ist nicht schlecht, wenn die Leu­te mei­nen, es sei ein jüdi­scher Name. Dann fra­gen sie nicht. … Viel­leicht wäre es nicht schlecht, wenn du das Jüdi­sche mit einem jüdi­schen Vor­na­men betonst.«

Unser Held hat allen Grund, sei­ne Iden­ti­tät zu ver­heh­len. Er ist ein Mör­der und ein Lüg­ner. Ange­sichts des­sen – er hat zusätz­lich gedealt, er hat sich pro­sti­tu­iert, hat Ehen und Dut­zen­de Geset­ze gebro­chen – grenzt es an ein Wun­der, daß wir Hun­der­te Sei­ten mit ihm hof­fen und ban­gen. Sol­len wir Joel Spa­zie­rer einen schlech­ten Men­schen nen­nen? Fie­bern wir aus Mit­leid mit ihm? Nein, nein. Es ist viel komplizierter.

Als er ein Kind war, in Buda­pest, hol­te die Staats­si­cher­heit sei­ne Groß­el­tern, bei denen er auf­wuchs. Sta­lins Scher­gen, die die Groß­el­tern mal­trä­tie­ren und ver­ge­wal­ti­gen (ein Miß­ver­ständ­nis, wie sich her­aus­stel­len wird), über­sa­hen András, der nun tage­lang in der Woh­nung auf sich gestellt war – als Drei­jäh­ri­ger. »Ein Mensch mit drei Jah­ren fühlt sich nicht als Kind«. Die­ser hier fühl­te sich als König von Xan­ten. Die Geschich­te war ihm vor­ge­le­sen wor­den. »Ich habe mich nie erwach­se­ner gefühlt als damals, war nie ver­nünf­ti­ger gewe­sen, nie lebens­fä­hi­ger – näm­lich in der Lage, mich anzu­pas­sen. Kei­ne Wei­ner­lich­keit. Kei­ne Angst. Kei­ne Abschwei­fung. Kei­ne Empa­thie. Kei­ne Wahr­heit, kei­ne Lüge. Ich hät­te mir zuge­traut, einen Staat zu lenken.«

Die Tie­re, die auf sei­ne Decke gestickt sind, wer­den dem klei­nen András leben­dig, sie wer­den ihm über Jahr­zehn­te hel­fen. Sie exis­tie­ren, sie haben Ver­nunft. Spä­ter keh­ren die Groß­el­tern zurück, auch die blut­jun­ge Mut­ter und ein soge­nann­ter Vater. Man flieht aus Ungarn nach Wien, doch András bleibt gewis­ser­ma­ßen obdach­los, zumin­dest halt­los in tran­szen­den­ta­ler Hin­sicht. Es gibt kei­ne Erzie­hung, sei­ne Leu­te haben ande­re Sor­gen und Lüs­te. Bereits das Kind gerät auf Abwege.

Man darf den Lebens­weg des spä­te­ren Spa­zie­rer als ein »aus sich selbst rol­len­des Rad« ver­ste­hen, als Weg eines Über­men­schen im zara­thus­tri­schen Sin­ne: »Sei­ne Welt gewinnt sich der Welt­ver­lo­re­ne« (Nietz­sche). András ali­as Joel ist dabei kein Gott­su­cher. Nicht das »cre­do ut intel­li­gam« beglei­tet sei­nen Weg, son­dern umge­kehrt: Unser Held glaubt nicht an Gott, kei­nes­wegs tut er das (er wird in der DDR als cha­ris­ma­ti­scher Pro­fes­sor E.-T. Koch einen Lehr­stuhl für wis­sen­schaft­li­chen Athe­is­mus inne­ha­ben), er weiß, daß es ihn gibt, denn er ist ihm zwei­fel­los begegnet.

Es gibt einen Unter­schied zwi­schen Wahr­heit und Wirk­lich­keit! Man könn­te ihn kom­pli­ziert sezie­ren. Ähn­lich ver­hält es sich mit der Tren­nung zwi­schen Gut und Böse. Es gibt unge­zähl­te Trak­ta­te dar­über, eben­so zum aus mit­tel­al­ter­li­cher Zeit stam­men­den Streit zwi­schen Uni­ver­sa­lis­mus und Nomi­na­lis­mus. All die­se Erwä­gun­gen ver­ei­ni­gen sich im aben­teu­er­li­chen Leben des Joel Spa­zie­rer, die­sem von aller Welt gelieb­ten Nar­ren in Chris­to. Sel­ten erscheint ein Buch von sol­cher Welt­hal­tig­keit. Dies hier ist Weltklasse.

Micha­el Köhl­mei­er: Die Aben­teu­er des Joel Spa­zie­rer, Mün­chen 2013. 653 S., 24,90 €.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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