Skeptische Apologie des Stattdessen – Autorenporträt Odo Marquard

pdf der Druckfassung aus Sezession 67 / August 2015

von Julius Möllenbach

Wie es um einen Philosophen und seine Reputation jeweils bestellt ist, läßt sich an der Menge der Sekundärliteratur, die von den Zunftgenossen produziert wird, leicht ablesen. Evaluiert man mit diesem Maßstab den kürzlich verstorbenen Gießener Philosophen Odo Marquard (1928–2015), sieht es schlecht aus für ihn, sehr schlecht sogar.

Das gilt im Ver­gleich mit Jür­gen Haber­mas, der als »Bun­des­phi­lo­soph« (Nor­bert Bolz) schon seit vie­len Jah­ren das jus­te milieu mit der dazu­ge­hö­ri­gen poli­tisch kor­rek­ten Theo­rie ver­sorgt. Es gilt aber auch im Ver­gleich mit ver­wand­te­ren Natu­ren wie Richard Ror­ty, der wie Mar­quard an einem »Abschied vom Prin­zi­pi­el­len« arbei­te­te. Wer indes die öffent­li­che oder offi­ziö­se Wert­schät­zung nicht als den ver­läß­lichs­ten Maß­stab der Bewer­tung eines Phi­lo­so­phen betrach­tet, küm­mert sich um der­lei Äußer­lich­kei­ten nicht wei­ter und wen­det sich den Wer­ken selbst zu.

Mar­quard gehör­te zu den wich­tigs­ten Ver­tre­tern der ers­ten Schü­ler­ge­nera­ti­on Joa­chim Rit­ters. Gemein­sam mit Her­mann Lüb­be und Robert Spae­mann prägt er auch in der Sekun­där­li­te­ra­tur nach­hal­tig das Bild der Rit­ter-Schu­le, obwohl er selbst nicht von Rit­ter, son­dern wäh­rend des­sen Tür­kei­auf­ent­halt Mit­te der 1950er Jah­re von dem katho­li­schen Heid­eg­ger-Schü­ler Max Mül­ler pro­mo­viert wur­de. Es steht außer Fra­ge, daß Mar­quard und sei­ne Gene­ra­ti­ons­ge­nos­sen ein theo­re­tisch gehalt­vol­les Den­ken tra­dier­ten, das jen­seits der mar­xis­ti­schen Strö­mun­gen sei­nen Ort hat. Allein die­se Tat­sa­che kann nicht hoch genug ver­an­schlagt wer­den, wenn man bedenkt, daß noch Jean-Paul Sart­re aus­ge­rech­net im Mar­xis­mus den unhin­ter­geh­ba­ren Hori­zont des aus­ge­hen­den 20. Jahr­hun­derts sah.

Mar­quard selbst hat, weil »ohne wir­kungs­ge­schicht­li­chen Wil­len zur Macht«, kei­ne Schu­le gemacht, also auch kei­ne »Gie­ße­ner Schu­le« begrün­det – wie die Rit­ter-Schu­le ins­ge­samt nicht poli­tisch genug war, um auch nur annä­hernd eine der Frank­fur­ter Schu­le ver­gleich­ba­re Wir­kung zu ent­fal­ten. Auch stark von Rit­ters Hegel­deu­tung gepräg­te Phi­lo­so­phen wie Rein­hart Mau­rer, Gün­ter Rohr­mo­ser oder Ber­nard Will­ms, die alle scharf­sin­ni­ge und kla­re Bei­trä­ge zur Lage­ana­ly­se der moder­nen Demo­kra­tie lie­fer­ten, blie­ben in ihrem Ein­fluß auf die Phi­lo­so­phie unse­rer Zeit letzt­lich marginal.

Mau­rer zufol­ge haben sowohl Mar­quard als auch Lüb­be die noch bei Rit­ter vor­han­de­ne Geschichts­phi­lo­so­phie aus­ge­klam­mert – »der gro­ße Atem der Hegel­schen Geschichts­phi­lo­so­phie« wehe bei sei­nen Schü­lern nicht mehr. Viel­mehr wer­de aus der fort­schritts­am­bi­va­len­ten Ent­zwei­ungs­theo­rie Rit­ters eine »Nicht­kri­sen­theo­rie der Moder­ne«, die für Mar­quard die Auf­ga­be hat zu zei­gen, daß die Moder­ne ent­ge­gen anders­lau­ten­den Gerüch­ten gut ist, wie sie ist. Mar­quard ist also ein »Moder­ni­täts­tra­di­tio­na­list«, der sich in die­ser Hin­sicht mit Haber­mas einig weiß, auch wenn er des­sen Ideo­lo­gem von einem »Pro­jekt« Moder­ne nicht teilt.

Mar­quards offen­kun­di­ge »Schwie­rig­kei­ten mit der Geschichts­phi­lo­so­phie« hän­gen mit sei­nem phi­lo­so­phi­schen Inter­es­se am Ein­zel­nen zusam­men. Denn gegen­über den ver­tag­ten Ver­hei­ßun­gen, wie sie exem­pla­risch der Mar­xis­mus ver­kör­pert, gilt das Recht der­je­ni­gen, die jetzt leben, weil die­ses Leben end­lich ist. »Es gibt ein Recht der nächs­ten Din­ge gegen­über den letz­ten«, so Mar­quard, ein Recht, das durch die Geschichts­phi­lo­so­phie ver­letzt wer­de. Mar­quard prä­sen­tiert sei­ne Phi­lo­so­phie also als Anti-Escha­to­lo­gie und damit als Pro­test gegen die Gegenwartsentwertung.

Der Abschied von der Geschichts­phi­lo­so­phie hat eine dop­pel­te Stoß­rich­tung: Ers­tens geht es um die Zurück­wei­sung der geschichts­phi­lo­so­phi­schen Illu­si­on, »Ver­än­de­rung sei eo ipso Ver­bes­se­rung«. Das skep­ti­sche Memen­to dage­gen könn­te man als kon­ser­va­tiv und öko­lo­gisch bezeich­nen: »die Geschichts­phi­lo­so­phen haben die Welt nur ver­schie­den geän­dert; es kommt dar­auf an, sie zu ver­scho­nen.« Zwei­tens aber ist mit jenem Abschied auch der Abschied von der Anthro­po­lo­gie­kri­tik verbunden.

Mar­quard bleibt zwar auch gegen­über der phi­lo­so­phi­schen Anthro­po­lo­gie skep­tisch, wofür es ja auch Grün­de (etwa die­je­ni­gen von Jas­pers) gibt, aber Anthro­po­lo­gie kann auch selbst zu einer Quel­le der Skep­sis wer­den. Dies ist bei Mar­quard der Fall, wenn er von der End­lich­keit des Men­schen her denkt und ihn schließ­lich gar als »Zeit­man­gel­we­sen« bestimmt.

Die­se und wei­te­re Grund­zü­ge sei­nes Phi­lo­so­phie­rens, in dem in gebro­che­ner Form auch Impul­se der Exis­tenz­phi­lo­so­phie Kier­ke­gaards und Heid­eg­gers zum Tra­gen kom­men, hän­gen eng mit Mar­quards eige­nen geschicht­li­chen Erfah­run­gen zusam­men: Die frü­he Ver­ein­nah­mung durch den Natio­nal­so­zia­lis­mus, den er spä­ter als schlimms­te Form der Bür­ger­lich­keits­ver­wei­ge­rung ansah, gehört hier­zu eben­so wie spä­ter die 68er-Zeit.

Mar­quard besuch­te zwei Adolf-Hit­ler-Schu­len, die ihm einen nach­hal­ti­gen Abscheu vor allem »Idea­lis­mus« ein­impf­ten. In der Nach­kriegs­zeit war Odo Mar­quard, nun links gewor­den, zunächst durch­aus beein­druckt von Georg Lukács’ phi­lo­so­phie­his­to­ri­schem Pam­phlet Die Zer­stö­rung der Ver­nunft, doch 1968 soll­te sich das nach­hal­tig ändern. Denn die Teach-ins der Stu­den­ten­be­we­gung ähnel­ten ihm zu sehr den NS-Schu­lungs­aben­den, als daß sie ihm sym­pa­thisch sein konnten.

Gegen die mar­xis­ti­schen Theo­re­ti­ker der Ent­frem­dung, die in jenen Jah­ren gro­ßen Anklang fan­den, steht Mar­quard mit der Beja­hung oder eben Posi­ti­vie­rung der Ent­zwei­ung, einer Denk­fi­gur, in der Mar­quard jene »Ver­wei­ge­rung der Bür­ger­lich­keits­ver­wei­ge­rung« erkann­te, die für ihn selbst zum Leit­fa­den sei­ner poli­ti­schen Phi­lo­so­phie wurde.

So wie Her­mann Lüb­be in sei­ner Kri­tik am Tri­umph der Gesin­nung über die Urteils­kraft eine zen­tra­le Signa­tur des mora­li­sie­ren­den und hyper­mo­ra­li­schen Demo­kra­tis­mus erkannt hat­te, steht auch Mar­quard in der Tra­di­ti­on der Moral­kri­tik. Zwar distan­ziert er sich von Ges­tus und Stil Nietz­sches; gleich­wohl wird man sagen dür­fen, daß Mar­quards Kri­tik am Gewis­sen­sein der Sinn­pro­du­zen­ten in der moder­nen Mas­sen­ge­sell­schaft ohne Nietz­sches Moral­kri­tik nicht denk­bar wäre.

Der Typus der­je­ni­gen, die das Gewis­sen­sein statt des Gewis­sen­ha­bens ver­kör­pern, läßt sich heu­te über­all beob­ach­ten. Aus ihnen rekru­tie­ren sich nicht nur die »guten Men­schen« Nietz­sches (die sich näm­lich selbst für gut und die Trä­ger ande­rer »Wer­te« für »böse« hal­ten), son­dern auch jene Funk­tio­nä­re der Zivil­re­li­gi­on, die sich als Kor­rekt­heits­wäch­ter (Lüb­be) ver­ste­hen. Im Gefol­ge der 68er-Zeit ent­wi­ckel­te Mar­quard durch Umkeh­rung der Tot­emis­mus-Theo­rie Freuds sei­ne The­se vom nach­träg­li­chen Unge­hor­sam, eines Unge­hor­sams gegen den angeb­li­chen Faschis­mus, der indes den Unge­hor­sa­men wenig koste.

Phi­lo­so­phie aber ersetzt in kei­nem Fall die jedem ein­zel­nen Men­schen mög­li­che Urteils­kraft; sie sei kein Amu­lett gegen Irr­we­ge, wes­halb es nach Mar­quard eine Tor­heit wäre, die Phi­lo­so­phie mit einem Anspruch auf Herr­schaft zu ver­se­hen. Mar­quard ist als Skep­ti­ker und Plu­ra­list ein ent­schie­de­ner Geg­ner aller Mono­po­li­sie­rungs­an­sprü­che im Den­ken: »Es gibt kei­ne gute Allein­herr­schaft einer Phi­lo­so­phie; und der Mar­xis­mus ist sei­ner­seits ein beson­ders instruk­ti­ves Bei­spiel dafür.«

Mar­quards Ent­schei­dung für die Skep­sis macht ihn zu einem Kon­ser­va­ti­ven alt­li­be­ra­len Zuschnitts, wie sei­ne Beru­fung auf Mon­tai­gne, die skep­ti­sche Mora­lis­tik, Mon­tes­quieu und Toc­que­ville als sei­ne eige­nen Tra­di­ti­ons­be­stän­de zeigt – zu einem Kon­ser­va­ti­ven, der auch die­sen Begriff nicht scheute.

Bei Mar­quard besteht der wich­tigs­te Bezug auf die phi­lo­so­phi­sche Tra­di­ti­on also in der Beru­fung auf die Skep­sis. Die­se ist ihrer Natur nach kon­ser­va­tiv, denn sie läßt den Üblich­kei­ten des All­tags, so weit er jeden­falls Nor­ma­li­tät reprä­sen­tiert und mora­li­sche Lebens­for­men ein­schließt, weit­ge­hend unan­ge­tas­tet. Skep­sis ist Uto­pie­re­sis­tenz. Sie ist kein inhalt­li­ches Prin­zip, son­dern stra­te­gisch ein­setz­bar als Instru­ment der Dele­gi­ti­mie­rung von Dog­ma­tis­men. Mar­quard betreibt die­ses Geschäft nicht zuletzt durch die Prä­gung von Begrif­fen, mit denen er ent­we­der sich selbst und sei­nen Denk­stil cha­rak­te­ri­siert oder phi­lo­so­phi­sche Pro­ble­me auf den Punkt zu brin­gen sucht.

Vor allem Mar­quards Kurz- und Kür­zest­tex­te sind Inter­ven­tio­nen in einer pole­mi­schen Kon­stel­la­ti­on: Er ant­wor­tet mit sei­nen Essays auf Her­aus­for­de­run­gen, die sich für ihn poli­tisch vor allem aus der weit­ver­brei­te­ten »Bür­ger­lich­keits­ver­wei­ge­rung« erga­ben. Der Man­gel bür­ger­li­cher Selbst­be­haup­tung ist von weni­gen Den­kern so nach­hal­tig the­ma­ti­siert wor­den. Mar­quards Phi­lo­so­phie ist Affir­ma­ti­on der Affir­ma­ti­on und zugleich Kri­tik der Kri­tik. Was affir­miert wird, läßt sich aber ohne Argu­men­te und prin­zi­pi­el­le Hin­wei­se nicht zei­gen, denn wenn man sich der Ver­wei­ge­rung ver­wei­gert, negiert man nicht deren Prin­zip, son­dern nur den kon­kre­ten Inhalt, auf den sich die ursprüng­li­che Ver­wei­ge­rung bezieht.

Zu den bekann­tes­ten Bei­trä­gen Mar­quards gehört die Kom­pen­sa­ti­ons­theo­rie. Nicht schon Rit­ter, son­dern erst Mar­quard ist ihr Theo­re­ti­ker, der mit ihr vor allem den Platz der Geis­tes­wis­sen­schaf­ten in der moder­nen Gesell­schaft, näm­lich ihre Unver­meid­lich­keit, begrün­den woll­te. Kom­pen­siert wer­de nach Mar­quard bei­spiels­wei­se die von der Wis­sen­schaft erzeug­te »Ent­zau­be­rung der Welt« durch ästhe­ti­sche Faszinationskraft.

Mar­quard spiel­te wie Hans Robert Jauss oder Hans Blu­men­berg eine wich­ti­ge Rol­le bei den Dis­kus­sio­nen der Grup­pe »Poe­tik und Her­me­neu­tik«, deren The­men von der Ästhe­tik der nicht-mehr-schö­nen Küns­te bis zur Iden­ti­tät noch kei­nes­wegs abge­gol­ten sind. Das noch unaus­ge­schöpf­te Poten­ti­al von Mar­quards phi­lo­so­phi­scher Essay­is­tik liegt wohl vor allem jen­seits des aka­de­mi­schen Bereichs – sei­ne Tex­te (vor allem in dem hal­ben Dut­zend Reclam-Bänd­chen) sind vor allem Anstö­ße zum Quer­den­ken – und nicht unbe­dingt für wei­te­re Dok­tor­ar­bei­ten. So ist es auch zwei­fel­los zutref­fend, wenn man Mar­quards wie Lüb­bes Kri­tik an der (vor allem) Habermas’schen Dis­kurs­theo­rie als »über­wie­gend iro­ni­scher Natur« und nicht als Bei­trag zur aka­de­mi­schen Debat­te sieht (Jens Hacke).

Dabei wird jedoch ver­ges­sen, daß iro­ni­sche Distan­zie­rung das ideo­lo­gie­kri­ti­sche Mit­tel der Wahl sein kann, wo etwas schon vom Ansatz her erkenn­bar falsch ist – wer sich jah­re­lang in Theo­rien des kom­mu­ni­ka­ti­ven Han­delns ver­senkt, hat dem­ge­gen­über schon ver­lo­ren, näm­lich Lebens­zeit und die Frei­heit, den ohne­hin nie »herr­schafts­frei­en« Dis­kurs unter eige­nen Bedin­gun­gen zu befeuern.

Mar­quard ließ sich denn auch nicht von dem Anspruch beein­dru­cken, mit der Dis­kurs­ethik fin­de eine Demo­kra­ti­sie­rung der Moral statt.Die Bilanz des Phi­lo­so­phie­rens von Mar­quard fällt ambi­va­lent aus: Einer­seits ist sei­ne Phi­lo­so­phie der Posi­ti­vie­rung im Recht gegen eine auf Dau­er gestell­te kri­ti­sche Hin­ter­fra­ge­rei neo­mar­xis­ti­scher Provenienz.

In einer Zeit, die den Bür­ger als über­leb­tes, ideo­lo­gisch frag­wür­di­ges Ele­ment in sei­ner Iden­ti­tät erschüt­tern woll­te und auch tat­säch­lich nach­hal­tig erschüt­ter­te, konn­te Mar­quard als eine Art phi­lo­so­phi­scher Kat­echon der Moder­ne und ihres ent­schei­den­den Trä­gers begrif­fen wer­den. Er bemüh­te sich mit­tels sei­ner »tran­szen­den­tal­bel­le­tris­ti­schen« Inter­ven­tio­nen, den Bür­ger in Schutz zu neh­men. Die­ser soll­te sich nicht stän­dig ein schlech­tes Gewis­sen ein­re­den las­sen. Da aber eben die­se Psy­cho­tech­nik heu­te fröh­li­che Urstän­de fei­ert, bleibt Mar­quards skep­ti­sches Pathos der Distanz gegen­über Moral­trom­pe­tern wichtig.

Als Den­ker des Nor­mal­zu­stan­des muß Mar­quards Phi­lo­so­phie indes dort an Gren­zen gelan­gen, wo Nor­ma­li­tät nur noch als schat­ten­haf­te Erin­ne­rung exis­tiert. Mar­quards impli­zit gegen Carl Schmitts har­te Ein­sich­ten gerich­te­tes Bon­mot, ver­nünf­tig sei, wer den Ernst­fall ver­mei­de, mar­kiert, so scheint es, das poli­ti­sche Defi­zit sei­ner Form des Neo­kon­ser­va­tis­mus als Apo­lo­gie der Bür­ger­lich­keit. Denn es gehört zu den grund­le­gen­den Ein­sich­ten Carl Schmitts, daß es nicht im Belie­ben der poli­ti­schen Akteu­re steht, den Ernst­fall zu ver­mei­den, wie es auch nicht mög­lich ist, sich der Feind­er­klä­rung von sei­ten ande­rer zu ent­zie­hen, sei­en es nun Anti­fa­schis­ten oder Isla­mis­ten. Hier hilft schließ­lich auch der von Mar­quard vari­an­ten­reich insze­nier­te Appell an »Üblich­kei­ten« nicht weiter.

Denn üblich ist nicht nur heu­te Vie­les gewor­den, also der Keim für (wenn auch schlech­te) Tra­di­ti­on, z. B. die Hypo­k­ri­sie der öffent­li­chen Mei­nung (Botho Strauß), das Hin­weg­lü­gen über exis­ten­ti­el­le Bedro­hun­gen von Staat und Nati­on, die Dif­fa­mie­rung und Stig­ma­ti­sie­rung Anders­den­ken­der aus dem Schutz der Anony­mi­tät her­aus, die Ver­harm­lo­sung des Islam, die Miß­ach­tung von Recht und Gesetz sowie von inter­na­tio­na­len Ver­trä­gen. Mar­quards Nor­men­theo­rie der Üblich­kei­ten soll nur auf dem basie­ren, was gilt, weil es gilt und even­tu­ell schon frü­her galt. Daß es aber im geschicht­li­chen Pro­zeß auch um sub­stan­ti­el­le nor­ma­ti­ve Gehal­te geht, kommt dabei nicht mehr in den Blick.

Mar­quard lieb­te den Gedan­ken der »Anknüp­fung«. Wor­an lie­ße sich also anknüp­fen? Der Phi­lo­soph Odo Mar­quard miß­ach­te­te sou­ve­rän ein avant­gar­dis­ti­sches Fort­schritts­ver­ständ­nis. In der Phi­lo­so­phie, so schrieb er im Vor­wort zu sei­ner erst nach Jahr­zehn­ten ver­öf­fent­lich­ten Habi­li­ta­ti­ons­schrift, »ist der neu­es­te Stand nicht unbe­dingt der anre­gends­te Stand«.

Mar­quard wen­det sich aus­drück­lich gegen die »fort­schritt­lichs­ten Fort­schritts­phi­lo­so­phen«, die »immer das Neu­es­te sagen«, wäh­rend die Skep­ti­ker, mit denen er sich iden­ti­fi­zier­te, stets nur das Zweit­neu­es­te oder gar das Ältes­te bräch­ten. Dar­in aber liegt auch der Keim einer Erneue­rung beschlos­sen: »Weil in unse­rer Welt das Neu­es­te immer schnel­ler zum Alten wird, kann das Alte immer schnel­ler zum Neu­es­ten wer­den« – und so ist es nur kon­se­quent, wenn Mar­quard mit typi­scher Distanz zum aka­de­mi­schen Phi­lo­so­phie­be­trieb betont: Nicht die Wis­sen­schaft­lich­keit (die sich ja am For­schungs­stand ori­en­tie­ren müß­te) ist für die Phi­lo­so­phie wich­tig, son­dern daß sie »nichts übersieht«.

Phi­lo­so­phie ist somit der Ver­such, unse­re Scheu­klap­pen los­zu­wer­den – also »der Ver­such des Ver­zichts auf die Anstren­gung, dumm zu blei­ben«. Indem Mar­quard die mög­lichst unver­stell­te Sicht auf die Wirk­lich­keit ver­tei­digt, unter­schei­det er sich grund­le­gend von all jenen Theo­re­ti­kern unse­rer Tage, die ihre Theo­rie­sys­te­me ent­wer­fen, um an der Wirk­lich­keit vor­bei­den­ken zu können.

Weil der Skep­ti­ker im Sin­ne Mar­quards weder ein Total­prak­ti­ker noch ein Total­theo­re­ti­ker (ein grund­le­gen­der Unter­schied nicht nur zu Heid­eg­ger) ist, bleibt er dich­ter an der­je­ni­gen Rea­li­tät, die kon­kret erfahr­bar ist. Das aber sind gute Vor­aus­set­zun­gen für eine Lage­be­stim­mung unse­rer Tage, die »nichts über­sieht«. Phi­lo­so­phie, so Mar­quard, müs­se »mer­ken, was sonst unbe­merkt, und sagen, was sonst unge­sagt blie­be«. Wel­che Phi­lo­so­phen leis­ten dazu heu­te einen Beitrag?

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