Vor dem Bücherschrank (II) – Heimatliteratur als Politikum

PDF der Druckausgabe aus Sezession 56 / Oktober 2013

von Günter Scholdt

Vergessen Sie fast alles von dem, was Sie möglicherweise einmal Despektierliches über Heimatliteratur vernommen haben!

Ist doch ein Groß­teil davon ideo­lo­gisch kon­ta­mi­niert durch Bel­le­tris­tik-Pries­ter, die dem lesen­den Fuß­volk seit einem hal­ben Jahr­hun­dert einen wenig bekömm­li­chen »Aufklärungs«-Trank vorsetzen.

Danach bie­te das Gen­re vor­wie­gend anspruchs­lo­se, kon­ser­va­tiv-nost­al­gi­sche Ste­reo­ty­pen­li­te­ra­tur eines refle­xi­ons­lo­sen Land­lobs oder trans­por­tiert sozi­al­har­mo­ni­sche Kli­schees von einst. Es zei­ge pro­vin­zi­el­le Beschrän­kung, statt welt­in­ter­es­sier­ter Offen­heit und eine poli­tisch gefähr­li­che Rück­stän­dig­keit – tra­ge es doch die Erb­last der »Hei­mat­kunst« um 1900, bestimmt von gegen­mo­der­ner, anti­na­tu­ra­lis­ti­scher, zuwei­len auch anti­fran­zö­si­scher oder anti­se­mi­ti­scher Pro­gram­ma­tik, oder der Blut- und Boden-Dich­tung im Drit­ten Reich. Bei­de sei­en durch fort­schritts­feind­li­che Ten­den­zen cha­rak­te­ri­siert – ein »Kul­tur­pes­si­mis­mus«, der nach Fritz Stern »poli­ti­sche Gefahr« birgt.

Ideo­lo­gie­kri­tisch so gewapp­net, gelang es ein­fluß­rei­chen Zeit­geist-Ger­ma­nis­ten, das Hei­mat-Gen­re ästhe­tisch qua­si zu beer­di­gen. Qua­li­tät zei­ge sich fast nur noch dort, wo seit den 1970ern eine soge­nann­te »Neue Hei­mat­li­te­ra­tur« bzw. »Anti-Hei­mat­li­te­ra­tur« ent­stand. Sie kenn­zeich­net the­ma­tisch die Domi­nanz dump­fer Vor­ur­tei­le, patri­ar­cha­li­scher Struk­tu­ren, unter­drück­ter, sich bru­tal ent­la­den­der Sexua­li­tät, Anti-Intel­lek­tua­lis­mus und Bigotterie.

Geschil­dert wird eine Art Kri­mi­na­li­täts­to­po­gra­phie und Atmo­sphä­re, der man (gemäß Nor­bert Meck­len­burg) am bes­ten per »detek­ti­vi­scher Hei­mat­kun­de« gerecht wird. Besitzt doch den Segen unse­rer Lite­ra­tur­päps­te meist nur, wer mal wie­der gän­gi­ge Vor­stel­lun­gen über die hin­ter­wäld­le­risch-faschis­to­ide Pro­vinz bedient.

Als Replik nur soviel: Ja, es gibt nicht weni­ge lokal­pa­trio­ti­sche Tri­vi­al­pro­duk­te, wonach nur hier die Ber­ge und Seen so schön, die Wie­sen so grün, die Würs­te so schmack­haft oder die Mädels so hübsch sei­en. Doch es ver­bie­tet sich, einen kom­plet­ten Lite­ra­tur­typ für sei­ne kom­mer­zi­ell-folk­lo­ris­ti­schen Ent­ar­tun­gen haf­ten zu las­sen. Der Lie­bes­ro­man etwa, den es ja auch in unzäh­li­gen kit­schi­gen Aus­prä­gun­gen, Heft­chen­for­ma­ten und Film­se­ri­en gibt, ist des­we­gen nicht plötz­lich als Gan­zes des­avou­iert. Und ein fil­mi­sches Kunst­werk wie Kubricks Odys­see im Welt­raum soll­te man nicht mit jeder unam­bi­tio­nier­ten Sci­ence-Fic­tion-Fol­ge in einen Topf werfen.

Auch bedarf die angeb­lich hef­ti­ge NS-Infek­ti­on von Hei­mat­li­te­ra­tur erheb­li­cher Rela­ti­vie­rung. Denn wo selbst­ge­nüg­sa­me Abschot­tung und Suche nach einer begrenz­ten hei­len Welt gedie­hen, wuch­sen kaum Legi­ti­ma­tio­nen für den total poli­ti­sier­ten Staat. Auch behin­dert ein ver­al­te­ter For­schungs­stand die Ein­sicht, daß sich inners­te Zir­kel der NS-Kul­tur­po­li­tik bereits früh von der Agrar­nost­al­gie abwand­ten zuguns­ten der Groß­stadt und indus­tri­el­ler Landschaften.

Und daß ande­rer­seits selbst ein Hard­li­ner der Hei­mat­kunst wie Adolf Bartels nie­mals einen gänz­lich anti­städ­ti­schen Kurs ver­trat. Auch Ber­lin kön­ne, bei­spiels­wei­se von Wil­helm Raa­be gezeich­net, sei­nen Geni­us loci haben, schrieb er. Denn was man vor allem ver­ab­scheu­te, war die Gesichts­lo­sig­keit gro­ßer Men­schen­an­samm­lun­gen, die kein rech­tes Zusam­men­ge­hö­rig­keits- und Ver­traut­heits­ge­fühl mehr zuließ. Und was noch wich­ti­ger sein dürf­te: Hei­mat als emo­tio­na­ler Raum ist nur manch­mal iden­tisch mit der Nati­on. Eben­so typisch für Hei­mat­li­te­ra­tur sind Dif­fe­renz­ge­füh­le, das Emp­fin­den einer beson­de­ren schick­sal­haf­ten Lage, vor allem in mehr­spra­chi­gen Grenzgebieten.

Eine wei­te­re Gene­ra­li­sie­rung sug­ge­riert, Hei­mat­li­te­ra­tur favo­ri­sie­re sozi­al­har­mo­ni­sche Kli­schees von ges­tern, was höchs­tens für Autoren min­de­ren Rangs gilt. Ein Knut Ham­sun etwa kann­te sei­ne Bau­ern und ver­zu­cker­te ihre Schil­de­rung gewiß nicht. Ande­rer­seits wirkt sich der Kon­trast von damals und heu­te, von Über­lie­fer­tem und soge­nann­tem Fort­schritt in man­chen Fäl­len so dras­tisch aus, daß sich zumin­dest für eine Gene­ra­ti­on der Ein­druck von Abstieg gera­de­zu auf­drängt. Man den­ke etwa an sozia­le Ver­wer­fun­gen durch neue Wirt­schafts­prak­ti­ken (exem­pla­risch: Wil­helm von Polenz’ Der Bütt­ner­bau­er) oder Vertriebenen-Literatur.

Sodann hat jeder Fort­schritt etwas Janus­köp­fi­ges. Und wenn »Kul­tur­pes­si­mis­mus poli­ti­sche Gefahr« bedingt, ver­tritt als Kon­trast Zivi­li­sa­ti­ons­op­ti­mis­mus gewiß kein harm­lo­ses Pro­jekt. Die Moder­ne hat ihren Preis, den nicht weni­ge Ver­lie­rer zah­len. Und was jene Kul­tur­snobs betrifft, deren aggres­si­ve Welt­läu­fig­keit sich all­zu forsch gegen­über dem Zuhau­se arti­ku­liert, den­ke man an den gereif­ten Fon­ta­ne (»Hei­mat«) oder Gott­fried Benn:

Mei­nen Sie Zürich zum Beispiel
sei eine tie­fe­re Stadt,
wo man Wun­der und Weihen
immer als Inhalt hat?

Mei­nen Sie aus Habana,
weiß und hibiskusrot,
brä­che ein ewi­ges Manna
für Ihre Wüstennot?

Ent­schei­dend für die Debat­te waren ohne­hin stets außer­wis­sen­schaft­li­che Moti­ve. Und so trifft, wie bereits dar­ge­legt, die Kri­tik am The­ma »Hei­mat« ja nicht die­se schlecht­hin, son­dern nur die mit Sym­pa­thie gezeichnete.

Eine patho­ge­ne, ten­den­zi­ell faschis­to­ide Pro­vinz läuft immer noch auf den Buch­märk­ten Nach­kriegs­deutsch­lands, wird sogar preis­ge­krönt und inter­na­tio­nal nach­ge­fragt. Das galt bereits von Gün­ter Grass’ Dan­zig-Tri­lo­gie und Mar­tin Sperrs Jagd­sze­nen in Nie­der­bay­ern über Bölls Ende einer Dienst­fahrt und Sieg­fried Lenz’ Hei­mat­mu­se­um bis zu Tho­mas Bern­hards oder Elfrie­de Jelin­eks Öster­reich-Tira­den. Das soge­nann­te Lite­ra­tur­wun­der die­ses Lan­des grün­det zu einem Gut­teil ja auf jener her­bei­sub­ven­tio­nier­ten Anti-Hei­mat­li­te­ra­tur, deren Quint­essenz dar­in beruht, daß die Bevöl­ke­rung schon immer für poli­tisch Böses anfäl­lig gewe­sen sei.

Und der Trend geht wei­ter, von Anna Wim­schnei­ders Herbst­milch über Andrea Maria Schen­kels Tannöd bis Andre­as Mai­ers Onkel J. Hei­mat­kun­de. Zwar behan­deln so man­che die­ser soge­nann­ten Hei­mat­ro­ma­ne oder ‑kri­mis, die bezeich­nen­der­wei­se schnells­tens ver­filmt wur­den, erschüt­ternd gestal­te­te Schick­sa­le in länd­li­chem Dun­kel. Aber die Häu­fig­keit sol­cher Ver­öf­fent­li­chun­gen und man­che gewinn­träch­ti­ge Spe­ku­la­ti­on auf Kri­ti­ker-Bei­fall beein­träch­ti­gen die Freu­de an der­glei­chen Konjunktur.

Die angeb­lich welt­wei­te, in Wirk­lich­keit nur Deutsch­land-fixier­te Per­spek­ti­ve unse­rer Ger­ma­nis­tik ist übri­gens inso­fern selbst pro­vin­zi­ell, als sie igno­riert, wie sehr lite­ra­ri­scher Hei­mat­be­zug ein inter­na­tio­na­les Phä­no­men ist.

Nie­mand außer­halb Deutsch­lands käme auf die Idee, die lie­be­vol­len Pro­vence-Cha­rak­te­re bedeu­ten­der fran­zö­si­scher Regio­na­lis­ten wie Mar­cel Pagnol oder Alphon­se Dau­det als poli­tisch gefähr­lich zu brand­mar­ken oder gar Dany Boons Film Will­kom­men bei den Sch’­tis. Gua­re­schis Don Camil­lo und Pep­po­ne war ein inter­na­tio­na­ler Hit. Und selbst John Way­nes Wes­tern wur­de noch nicht als Ein­stiegs­dro­ge zu einem US-Tota­li­ta­ris­mus ent­deckt. Von Gar­cía Már­quez’ skur­ri­len Pro­vinz­sze­nen und ‑figu­ren ganz zu schweigen.

Wir ste­hen also vor dem Para­dox, daß sich Kri­ti­ker, was sie hier­zu­lan­de ver­wer­fen, per Über­set­zun­gen andern­orts zurück­ho­len. Denn aus­län­di­sche Car­mi­na Burana wer­den durch­aus geschätzt. An so man­chen Intel­lek­tu­el­len-Autos kle­ben Schil­der, die von Bretonen‑, Irland- oder Kel­ten-Phi­lie zeu­gen. Kein deut­sches Hei­mat­lied, aber Coun­try und John­ny Cash, kein deut­scher Hei­mat­film, aber vie­le der Pro­vinz­ver­äch­ter waren durch Bonan­za und der­glei­chen sozia­li­siert worden.

Bezeich­nen­der­wei­se küm­mert man sich um die regio­na­le Iden­ti­tät von Papua-Neu­gui­nea, möch­te Kubas mor­bi­den Tou­ris­mus-Charme erhal­ten, und Neu­see­land ist auf Buch­mes­sen der Ren­ner. Der dort gebo­re­ne Musi­ker Hay­den Chis­holm aller­dings wun­der­te sich bei Auf­nah­men zu sei­nem Film mit dem bezeich­nen­den Titel Sound of Hei­mat:

daß vie­le Deut­sche tat­säch­lich ein Pro­blem mit ihrer [Volks-]Musik haben, ja, daß sie man­chen sogar pein­lich ist. Das ist etwas beson­de­res, denn ich ken­ne kein ande­res Land, wo das auch so ist. Und ich habe mich gefragt, wie kommt das? Wie­so bekom­men die­sel­ben Deut­schen, die feuch­te Augen haben, wenn ein alter Indio zum hun­derts­ten Mal ›El cón­dor pasa‹ in sei­ne Pan­flö­te bläst, gleich Pickel, wenn man sie auf die Melo­dien ihrer Hei­mat anspricht (JF 19.7.13).

Spä­tes­tens hier soll­ten wir erkannt haben, daß es eigent­lich nie­mals um Ästhe­tik ging, son­dern stän­dig um Poli­tik. Und die Unschulds­ver­mu­tung der Aggres­si­on gegen­über dem Kom­plex Hei­mat ver­fliegt, wenn man sieht, in wel­chem Rah­men, um nicht zu sagen: Mas­ter­plan, das Gan­ze geschieht.

Da wird ein Hei­no unter Faschis­mus-Ver­dacht gestellt, weil er hasel­nuß­braune Mädels fei­ert oder den Enzi­an blau blü­hen läßt. Da geht es kol­lek­tiv dem deut­schen Schla­ger an den Kra­gen, nicht weil er all­zu oft läp­pi­sche Tex­te pro­du­ziert, was welt­weit die Regel ist, son­dern den Mei­nungs­füh­rern die gan­ze deutsch­spra­chi­ge Rich­tung nicht paßt, wäh­rend Tom Jones unge­rügt sein »I wan­na go home« sin­gen und das »green, green grass of home« fei­ern darf. (Die weni­gen sozu­sa­gen »geneh­mig­ten« Erfol­ge von Deutsch-Rock oder ‑Rap, die zumin­dest von ihrer Bot­schaft her kon­ve­nie­ren, bestä­ti­gen eher die Regel.)

Da wird Feri­en auf dem Immenhof als unstatt­haf­ter Beleg einer ver­drän­gen­den deut­schen Inner­lich­keit kri­ti­siert oder die für den Echo-Preis nomi­nier­te Rock­band »Frei.Wild« wegen angeb­li­chen Rechts­ra­di­ka­lis­mus aus­ge­la­den, weil sie Spra­che, Brauch­tum und Glau­be als Hei­mat­wer­te ver­tei­digt. In allem spie­gelt sich eine bei­spiel­lo­se Arro­ganz von Erzie­hern und Umer­zie­hern, deren Welt­läu­fig­keits­rausch weit­ge­hend dar­auf hin­aus­läuft, den deut­schen Sta­tus einer Halb­ko­lo­nie kul­tu­rell zu unter­füt­tern und sich am Aus­til­gen eines lite­ra­ri­schen Erbes zu beteiligen.

Und das hat seit 1945 Tra­di­ti­on. Archi­tek­to­nisch brach­ten uns »Lehr­meis­ter« wie Le Cor­bu­si­er und ein revi­ta­li­sier­tes Bau­haus auf Vor­der­mann als Kon­trast zur ver­meint­lich poli­tisch ver­häng­nis­vol­len But­zen­schei­ben-Roman­tik. Lite­ra­risch setz­te man zuneh­mend auf enga­gier­te Text­mus­ter der Wei­ma­rer Repu­blik und ver­wies als ers­tes die Ver­tre­ter der Inne­ren Emi­gra­ti­on in die zwei­te Rei­he, denen man zusätz­lich man­geln­de NS-Resis­tenz vor­hielt. Mitt­ler­wei­le sind dadurch selbst bedeu­ten­de Dich­ter wie Wie­chert, Ber­gen­gruen, Brit­ting oder Lan­ge fast nur­mehr Spe­zia­lis­ten bekannt.

Der flä­chen­de­cken­de Erfolg die­ser Kul­tur­stra­te­gie ist nicht zuletzt des­halb gege­ben, weil die poli­ti­sche Marsch­rich­tung engs­tens mit der öko­no­mi­schen ver­schränkt ist. Denn mit der Kapi­tu­la­ti­on erschien im Schlepp­tau der US-Army, wie immer bei ame­ri­ka­ni­schen Kreuz­zü­gen, sofort auch so man­ches, was sich öko­no­misch und kul­tu­rell rech­net: Coca Cola, Hol­ly­wood und vie­les mehr.

Jetzt also zeig­ten uns Fury und die Pond­e­ro­sa-Ranch, Heming­way und Marl­bo­ro, wie nahe­lie­gend es sei, an der ent­spre­chend arran­gier­ten gro­ßen Welt teil­zu­ha­ben. Eine glück­li­che Koin­zi­denz von macht­po­li­ti­scher Bewußt­seins­bil­dung und kul­tu­rel­len Tan­tie­men. Den Rest besorg­ten Main­stream-Feuil­le­to­nis­ten in ihrem ideo­lo­gie­kri­ti­schen Furor sowie ange­paß­te Autoren, Ver­le­ger und Redak­teu­re in ihrer spe­ku­la­ti­ven Aus­rich­tung auf das, was inter­na­tio­na­le Ver­mark­tung angeb­lich fordert.

Hal­ten wir dage­gen fest: Hei­mat­li­te­ra­tur gilt in aller Welt als pure Selbst­ver­ständ­lich­keit, als ganz gro­ßes Schrift­stel­ler-The­ma. Wich­tigs­ter Anlaß hier­zu ist ein Gefähr­dungs­ge­fühl, eine Reak­ti­on auf aktu­ell emp­fun­de­ne Defi­zi­te. Hei­mat ähnelt der Luft, die man bekannt­lich erst spürt, wenn sie einem ent­zo­gen wird. Der Vor­wurf gegen­über Hei­mat­li­te­ra­tur, sie sei kon­ser­va­tiv und nost­al­gisch, soll gewiß nicht kor­ri­giert wer­den. Im Gegen­teil. Cha­rak­te­ri­siert er doch viel­mehr ihre wesent­li­che Leis­tung. Und in die­sem Sin­ne sei das Gen­re wie folgt definiert:

Hei­mat­li­te­ra­tur beschäf­tigt sich vor­wie­gend mit Eigen­hei­ten, Pro­ble­men, Spra­che, Men­ta­li­tät und gemein­sam erfah­re­ner Geschich­te eines als beson­ders und ver­traut emp­fun­de­nen Raums. Das geschieht in soli­da­ri­scher Wei­se, ver­rät Zunei­gung und trägt zur Iden­ti­täts­stif­tung bei. Hei­mat­li­te­ra­tur reagiert auf (dro­hen­de) Ver­lus­te von Hei­mat auf­grund von ein­schnei­den­den Ver­än­de­run­gen. Die­se haben vier Hauptursachen:

  • Orts­wech­sel, was einen wer­ten­den Ver­gleich zu frü­her nahelegt;
  • tech­ni­sche, indus­tri­el­le, sozia­le, öko­no­mi­sche oder poli­ti­sche Moder­ni­sie­rungs­pro­zes­se, inso­fern sie abrupt und nach­hal­tig auf eine Regi­on oder ein Land ein­wir­ken und nicht zuletzt deren emo­tio­na­le Sicher­heit gefährden;
  • schmerz­li­che Ein­grif­fe von orts­fer­nen Zen­tral­in­stan­zen bzw. deren Leit­ideen und Lebensstil;
  • natio­na­le und eth­ni­sche Span­nungs­fel­der, z. B. infol­ge von Krie­gen, Irre­den­tis­mus, Gebiets­ab­tre­tun­gen, Ver­trei­bung, Zu- und Abwan­de­rung etc.

Erläu­tern wir es an Tex­ten. Zunächst zu schmerz­li­chen Ortswechseln:

Der natur­be­geis­ter­te Förs­ter­sohn Ernst Wie­chert, der ins städ­ti­sche Gym­na­si­um ver­frach­tet und von Heim­weh geplagt wur­de, schrieb als Aus­druck einer lebens­lan­gen Sehn­sucht Erzähl­hym­nen auf die ost­preu­ßi­schen Wäl­der. Ähn­li­che Gefüh­le beherrsch­ten Lud­wig Tho­ma, wobei des­sen epi­sches Bay­ern-Bio­top (Laus­bu­ben­ge­schich­ten oder Jozef Filsers Brief­we­xel) aller­dings humo­ris­tisch-sati­ri­schen Cha­rak­ter besaß.

Hei­mat- als Erin­ne­rungs­li­te­ra­tur ver­faß­te eine gan­ze Gene­ra­ti­on bal­ti­scher Schrift­stel­ler, die aus ihren men­schen­lee­ren Land­sit­zen in Deutsch­lands »grau­er Städ­te Mau­ern« ver­schla­gen wur­de, von Ber­gen­gruen über Ger­trud von den Brin­cken bis Sieg­fried von Vegesack.

Den fata­len Zusam­men­prall einer Regi­on mit der Moder­ne ver­an­schau­li­chen Ger­hart Haupt­manns Die Weber. Die Revo­lu­ti­on der zu Nied­rigst­löh­nen gepreß­ten Weber moch­te unklug und ver­geb­lich sein, wo die wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung unauf­halt­sam war. Opfer sind sie alle­mal wie der Land­strich, der sie Jahr­hun­der­te lang ernährt hat­te. Zum Mit­leid des Autors gesell­te sich das Bewußt­sein, daß mit dem Ruin die­ses Berufs­stands zugleich ein Stück Hei­mat auf der Stre­cke blieb, und der schle­si­sche Dia­lekt wirkt nicht zuletzt als Sym­pa­thie­be­kun­dung. Von ähn­li­cher Empa­thie mit öko­no­misch Gebeu­tel­ten zeugt Der Gra­nat­ap­fel­baum des ana­to­li­schen Klas­si­kers Yesar Kemals.

Anders gela­gert ist der Kon­flikt in Theo­dor Storms Der Schim­mel­rei­ter, einer epi­schen Refe­renz an ein Deich­bau-Genie. Gleich­wohl ver­schärft just die­ser Hau­ke Hai­en in sei­nem »grün­der­zeit­li­chen« Unge­stüm den Kon­flikt, weil er eine noch im Frü­he­ren befan­ge­ne Bevöl­ke­rung nicht wirk­lich über­zeugt, son­dern bloß kom­man­diert. In resi­gna­ti­ver Tole­ranz wie­der­um steht Fon­ta­nes Stech­lin im Kampf gegen die neu­en Ideen sei­ner Umwelt.

Ähn­li­ches gilt für Das ein­fa­che Leben, zu dem sich Wie­cherts Kapi­tän Orla bekennt. Anton Betz­ners Basalt schil­dert modell­haft bis hin zu gegen­wär­ti­gen Umstruk­tu­rie­run­gen in Ent­wick­lungs­län­dern, was einer bäu­er­li­chen Gemein­schaft wider­fährt, wenn mit der Eröff­nung eines Stein­bruchs nun plötz­lich die indus­tri­el­le Moder­ne Ein­zug hält. Ähn­li­che Kon­stel­la­tio­nen einer moder­ni­sier­ten Hei­mat behan­deln Fried­rich Bisch­off (Der Was­ser­mann) oder Ste­fan And­res (Die unsicht­ba­re Mau­er).

Ein klas­si­sches Betä­ti­gungs­feld für Hei­mat­li­te­ra­tur eröff­ne­te übri­gens die »Wen­de« ange­sichts ein­schnei­den­der poli­ti­scher Ver­än­de­run­gen und öko­no­mi­scher Ver­wer­fun­gen in den neu­en Bun­des­län­dern. Zwar ver­dient nicht jede all­zu ver­geß­li­che poe­ti­sche Ost­al­gie Respekt. Ande­rer­seits heißt es, wenigs­tens ansatz­wei­se nach­zu­voll­zie­hen, was vie­len durch men­ta­le Deklas­sie­rung und Ent­hei­ma­tung see­lisch zuge­mu­tet wur­de und sich einer schlich­ten Kos­ten­rech­nung entzieht.

Die hohe Kunst, hier nicht das indi­vi­du­el­le Kind mit dem poli­ti­schen Bade aus­zu­schüt­ten, attes­tie­re ich den Fil­me­ma­chern von Good bye Lenin. Im übri­gen wäre nichts bedau­er­li­cher, als wenn im Zuge stan­dar­di­sier­ter Wir­kungs­er­war­tun­gen in den neu­en Bun­des­län­dern nur mehr Tex­te erschie­nen, die eben­so­gut in Stutt­gart oder Ham­burg hät­ten ver­faßt sein könnten.

Zum Anti­zen­tra­lis­mus: Seit Autoren schrei­ben, exis­tiert ein gewis­ser Gegen­satz von (Groß-)Stadt und Land. Er ver­schärft sich, wo Metro­po­len, natio­na­le Regie­run­gen oder grö­ße­re poli­ti­sche Ein­hei­ten wie die EU poli­ti­sche Leit­li­ni­en dik­tie­ren und ande­re öko­no­misch unter Druck set­zen. Den End­punkt die­ser Ent­wick­lung mar­kiert die Glo­ba­li­sie­rung. Man braucht gewiß kein Pro­phet zu sein, um vor­aus­zu­ah­nen, wel­ches stoff­li­che Eldo­ra­do sich damit gera­de hei­mat­be­sorg­ten Autoren öffnet.

Schon frü­her sprach etwa André Weck­mann von »Tech­no­fa­schis­mus«, als er sei­ne elsäs­si­sche Hei­mat zum blo­ßen Spiel­ball Pari­ser Admi­nis­tra­to­ren oder zur kom­merz­ge­beu­tel­ten Tou­ris­mus-Oase ver­küm­mert sah. Er wie Jean Egen (Die Lin­den von Lau­ten­bach) monier­ten zudem spra­chen­po­li­ti­sche Eng­her­zig­kei­ten, die den Ver­hält­nis­sen vor Ort nicht gerecht wür­den. Ohne­hin erstand schon seit gut einem Jahr­hun­dert an der deut­schen West- oder Ost­gren­ze eine kon­tro­ver­se wie dif­fe­ren­zie­ren­de Selbst­fin­dungs­li­te­ra­tur zwi­schen den Mäch­ten. Exem­pla­risch sei­en Namen genannt wie René Schi­cke­le, Otto Fla­ke, Marie Hart oder August Scholtis.

Zur natio­nal-eth­ni­schen Gemenge­la­ge: Hei­mat als natio­na­les Sehn­suchts­pro­jekt bot Hoff­mann von Fal­lers­le­bens »Lied der Deut­schen«. Auch aus der »Burgfrieden«-Stimmung bei Aus­bruch des Ers­ten Welt­kriegs ver­nimmt man sol­che patrio­ti­schen Töne, exem­pa­risch in Karl Brö­gers Bekennt­nis. Ver­trei­bung, Umsied­lung, Exil sind wei­te­re Anläs­se, sich ein Stück Hei­mat wenigs­tens lite­ra­risch zurück­zu­ho­len. Man den­ke an Vege­sacks Bal­ti­sche Tra­gö­die, an Wie­cherts Mis­sa sine nomi­ne, an Gedich­te Max Her­mann-Nei­ßes in eng­li­scher Frem­de (»Ewi­ge Hei­mat«, »Hei­mat­los«), an Joseph Roths KuK-Abge­sang Kapu­zi­ner­gruft, an Carl Zuck­may­ers gran­dio­se Beschwö­rung des Rhein­län­ders in Des Teu­fels Gene­ral, geschrie­ben mit hei­ßem Her­zen in Ver­mont. Der DDR ent­flo­hen, erin­ner­ten sich Wal­ter Kem­pow­ski und Uwe John­son lebens­lang an Stät­ten ihrer Jugend.

Ja, selbst eine schein­bar unpo­li­ti­sche loka­le Kind­heits­träu­me­rei wie Die Stadt von Theo­dor Storm, den Fon­ta­ne lie­be­voll-iro­nisch der »Husu­me­rei« zieh, ver­dankt ihre Exis­tenz sei­ner Verbannung:

Doch hängt mein gan­zes Herz an dir,
Du graue Stadt am Meer;
Der Jugend Zau­ber für und für
Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,
Du graue Stadt am Meer.

Ein ande­res Schreib-Motiv bie­tet Immi­gra­ti­on. Wenn sich Regio­nen, Stadt­tei­le, Milieus durch Zuwan­de­rung unter der Hand so ver­än­dern, daß frü­he­re Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten nicht mehr gel­ten, Ver­trau­tes fremd wird oder als recht­fer­ti­gungs­be­dürf­tig erscheint, treibt es man­che zur Feder.

Als mons­trös-rea­lis­ti­sche Visi­on hat etwa Jean Ras­pail sei­ne Kas­san­dra-Gefüh­le vom Ver­lust sei­nes gelieb­ten tra­di­tio­nel­len Frank­reichs in Wor­te gefaßt. Der Best­sel­ler von 1973 trägt den Titel Das Heer­la­ger der Hei­li­gen und the­ma­ti­siert (laut Klap­pen­text der deut­schen Aus­ga­be 1985) »die dro­hen­de Über­wäl­ti­gung Euro­pas durch die explo­die­ren­den Mas­sen­men­schen der Drit­ten Welt«.

Gehen wir von sol­cher, den Begriff »Hei­mat« ernst neh­men­der Defi­ni­ti­on aus, wird unüber­seh­bar, daß Lite­ra­tur­ge­schich­te ohne Hei­mat­dich­ter gar nicht sinn­voll geschrie­ben wer­den kann. Und machen wir uns wei­ter klar: Wo heu­te bereit­wil­lig (regio­na­le) Beson­der­hei­ten preis­ge­ge­ben wer­den, folgt in naher Zukunft über­haupt Deutsch als Spra­che und Literatur.

Denn wer über Jahr­zehn­te hin­weg das Unver­wech­sel­ba­re preis­gibt, darf sich nicht wun­dern, wenn am Ende auch das Übri­ge an Inter­es­se und Bedeu­tung ver­liert. Das Signal­wort McDonald’s ist schließ­lich auch eine kul­tur­po­li­ti­sche Drohung.

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