Die Enteignung des Denkens

PDF der Druckausgabe aus Sezession 57 / Dezember 2013

von Thor v. Waldstein

Die Rundumwohlfühlgesellschaft, in der wir leben, setzt ihre Bürger nur allzu gerne der Illusion aus, sie seien, die regelmäßige Nutzung der allgegenwärtigen elektronisch-digitalen Geräte unterstellt, glänzend über den äußeren Rahmen ihres Daseins im Bilde. Gleichwohl macht man immer häufiger die Beobachtung, daß kaum noch ein Gespräch mit einem solcherart vollinformierten Zeitgenossen Ertrag verspricht. Statt überzeugend-fundierten, womöglich sogar originellen Ansichten begegnet man allenthalben demselben medial nacherinnerten »Talk«-Sermon, denselben Sprechblasen, den immergleichen Platitüden.

Die­se ent­sprin­gen nicht dem Den­ken eines frei­en Men­schen, son­dern dem Bestre­ben eines außen­ge­steu­er­ten Indi­vi­du­ums, die Erwar­tun­gen eines von ihm aktu­ell als Mehr­heits­mei­nung wahr­ge­nom­me­nen Neu­sprechs mög­lichst genau zu erfül­len und alles zu ver­mei­den, was dem Ein­druck Vor­schub leis­ten könn­te, man wol­le sich der Kon­sens­dres­sur ent­zie­hen und den mas­sen­psy­cho­lo­gisch zusam­men­ge­zim­mer­ten Macht­an­spruch der öffent­li­chen Mei­nung in Zwei­fel zie­hen. Dabei muß das tref­fen­de Gleich­nis von Micha­el Klo­novs­ky, moder­ne Gesell­schaf­ten gli­chen Schaf­her­den, die von Jour­na­lis­ten umbellt wür­den, um die Beob­ach­tung erwei­tert wer­den, daß vie­le Scha­fe selbst ohne sol­ches Gebell zu ahnen schei­nen, wel­chen Teil der Wei­de man bes­ser nicht betritt. Die­ses Phä­no­men ist ganz intel­li­genz­un­ab­hän­gig und läßt sich sozio­lo­gisch auf kei­ne bestimm­te Schicht der Bevöl­ke­rung begrenzen.

Ganz im Gegen­teil: »In einer Zeit, die in der Angst vor dem Den­ken lebt« (Mar­tin Heid­eg­ger), hat es häu­fig den Anschein, als ob mit Zunah­me der von »Vater Staat« aus­ge­reich­ten aka­de­mi­schen For­mal­bil­dung und der stär­ke­ren Prä­gung durch ein wis­sen­schaft­li­ches Umfeld die Gleich­schal­tungs­ten­den­zen auf allen geis­ti­gen Gebie­ten zuneh­men. Von der Anpas­sungs­sucht an die Dog­men unse­rer Zeit befal­len ist also kei­nes­wegs nur Lies­chen Mül­ler, son­dern gera­de auch – Dr. Lies­chen Müller.

In einem Lan­de wie Deutsch­land, das einst als »Volk der Den­ker« galt und des­sen wich­tigs­te zukunfts­träch­ti­ge Res­sour­ce das geis­ti­ge Leis­tungs­ver­mö­gen sei­ner Bür­ger, die Fähig­keit zur »schöp­fe­ri­schen Zer­stö­rung« (Joseph Schum­pe­ter), ist, muß ein sol­cher Zer­fall geis­ti­ger Selbst­be­stim­mung beson­ders erschre­cken; daß es in ande­ren Län­dern ähn­lich oder gar noch schlim­mer aus­se­hen mag, kann daher wenig trös­ten. Wel­che Ursa­chen kann man für die­se immer mehr um sich grei­fen­de Ent­eig­nung des Den­kens benen­nen und wel­ches sind deren kon­kre­te Erschei­nungs­for­men, ins­be­son­de­re unter Berück­sich­ti­gung der fort­schrei­ten­den Digi­ta­li­sie­rung unse­res Lebens?

Seit der Ent­frem­dung des Men­schen von der Natur und der mit der wach­sen­den Indus­tria­li­sie­rung ver­bun­de­nen Ver­städ­te­rung gegen Ende des 19. Jahr­hun­derts setz­te eine Ent­wick­lung ein, die heu­te noch als nicht abge­schlos­sen erscheint: die Her­auf­kunft des Mas­sen­men­schen und des­sen Eigen­art, nach und nach kra­ken­ar­tig alle Kul­tur­gü­ter, alle see­li­schen Bestän­de und jeg­li­che Art geis­ti­ger Wahr­neh­mungs­tech­nik in den Bann kreis sei­ner nivel­lie­ren­den Denk­scha­blo­nen zu zie­hen. Nichts scheint dem Indi­vi­du­um im Zeit­al­ter der Mas­se wich­ti­ger, als dem zu ent­spre­chen, was die ande­ren zu den­ken und zu füh­len scheinen.

Wie Baum­wip­fel im Sturm wer­den die Ansich­ten und das sozia­le Pres­ti­ge, das mit dem Äußern sol­cher Ansich­ten ver­bun­den ist, von Mäch­ten hin und her gewo­gen, denen der ato­mi­sier­te Ein­zel­mensch zu fol­gen gut bera­ten ist, will er nicht in der Iso­la­ti­on enden. Je gleich­för­mi­ger die Indi­vi­du­en die­sem mas­sen­psy­cho­lo­gisch äußerst effi­zi­en­ten Wind­ka­nal und der sti­mu­lie­ren­den Wir­kung stän­dig wech­seln­der Lei­den­schaf­ten aus­ge­setzt wer­den, des­to stär­ker wächst die Ver­göt­te­rung der Zahl und der Glau­be dar­an, die Wahr­heit und das Wis­sen um den rech­ten Weg sei stets bei den vielen.

Die Ermitt­lung des­sen, was vie­le und was nur weni­ge zu den­ken schei­nen, über­läßt man der Demo­sko­pie (von griech.: demos = Volk + sko­pos = Auf­se­her), einer der wich­tigs­ten Herr­schafts­tech­ni­ken des 20. Jahr­hun­derts. Wie die Spar­ta­ner im anti­ken Grie­chen­land das Ora­kel von Del­phi befrag­ten und des­sen Weis­sa­gun­gen für bare Mün­ze nah­men, so blickt der moder­ne Mas­sen­mensch auf die ver­meint­lich aus­sa­ge­fä­hi­gen und ver­trau­ens­wür­di­gen Ergeb­nis­se demo­sko­pi­scher Umfra­gen. Die­ses Abhän­gig­keits­ver­hält­nis, in das sich der ein­zel­ne – unter Auf­ga­be eige­ner geis­ti­ger Selbst­be­stim­mung – durch sei­nen blin­den Glau­ben an die Mehr­heit bege­ben hat, macht deut­lich, war­um der Kampf um die öffent­li­che Mei­nung auch heu­te noch das Herz­stück poli­ti­scher Aus­ein­an­der­set­zun­gen darstellt.

In der Nach­fol­ge des Klas­si­kers zu die­sem The­ma, dem ful­mi­nant­pro­phe­ti­schen Werk von Alexis de Toc­que­ville Über die Demo­kra­tie in Ame­ri­ka (1835/1840), haben klu­ge Autoren den Pro­zeß die­ser geis­ti­gen Fremd­be­stim­mung im 20. Jahr­hun­dert bis in die feins­ten Ver­äs­te­lun­gen beschrie­ben. Gust­ave Le Bon beob­ach­te­te in sei­nem Werk Psy­cho­lo­gie der Mas­sen (1895) als die Haupt­merk­ma­le des ein­zel­nen in der Mas­se: »Schwin­den der bewuß­ten Per­sön­lich­keit, Vor­herr­schaft des unbe­wuß­ten Wesens, Lei­tung der Gedan­ken und Gefüh­le durch Beein­flus­sung und Über­tra­gung in der glei­chen Rich­tung, Nei­gung zur unver­züg­li­chen Ver­wirk­li­chung der ein­ge­flöß­ten Ideen. Der Ein­zel­ne ist nicht mehr er selbst, er ist ein Auto­mat gewor­den, des­sen Betrieb sein Wil­le nicht mehr in der Gewalt hat.«

Eines der wesent­li­chen Cha­rak­te­ris­ti­ka des Mas­sen­men­schen sei sei­ne Leicht­gläu­big­keit und sein völ­li­ger Man­gel an kri­ti­schem Geist. Sei­ne Hand­lun­gen stün­den »viel öfter unter dem Ein­fluß des Rücken­marks als unter dem des Gehirns«. In sei­nem Buch, von dem – nicht zufäl­lig – Adolf Hit­ler fas­zi­niert war und das als Blau­pau­se natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Mas­sen­be­herr­schung gele­sen wer­den kann, spricht Le Bon von den »Kol­lek­tiv­hal­lu­zi­na­tio­nen« einer Mas­se, die in Bil­dern den­ke und dadurch zu einem »Spiel­ball aller äuße­ren Rei­ze« wer­de. José Orte­ga y Gas­set pran­ger­te in sei­nem Auf­stand der Mas­sen (1929) die Herr­schaft der »gewöhn­li­chen See­le« an, die »sich über ihre Gewöhn­lich­keit klar ist, aber die Unver­fro­ren­heit besitzt, für das Recht der Gewöhn­lich­keit ein­zu­tre­ten und es über­all durch­zu­set­zen.« Der Mas­sen­mensch, der selb­stän­dig nicht den­ken kön­ne und noch nicht ein­mal wis­se, was selb­stän­di­ges Den­ken sei, sei der »Tri­um­pha­tor des Jahr­hun­derts«, des­sen Erfol­ge frei­lich erst durch die Fah­nen­flucht der Eli­ten erklär­bar würden.

David Ries­man schich­te­te in sei­nem Werk Die ein­sa­me Mas­se (1950) den heu­ti­gen, spä­tes­tens seit der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts alles beherr­schen­den »außen­ge­lei­te­ten Mensch« ab von dem frü­he­ren, von einem eige­nen Ethos bestimm­ten »innen­ge­lei­te­ten Men­schen«, der etwa vom 16. bis zum 19. Jahr­hun­dert leb­te, und dem von Mythen, Bräu­chen und (Natur-)Religionen gelei­te­ten »tra­di­tio­nel­len Men­schen«, wie er in Euro­pa vor der Renais­sance leb­te und heu­te noch bei Natur­völ­kern in abge­le­ge­nen Urwäl­dern gefun­den wer­den kann. Jener moder­ne »außen­ge­lei­te­te Mensch« wer­de von Kin­des­bei­nen an dazu erzo­gen, »zwar weni­ger auf offen zuta­ge tre­ten­de Auto­ri­tät, dafür aber umso mehr auf die fei­ne­ren und nichts­des­to­we­ni­ger ein­engen­den zwi­schen­mensch­li­chen Erwar­tun­gen zu reagieren.«

Hen­drik de Man defi­nier­te in Ver­mas­sung und Kul­tur­ver­fall (1951) die Mas­se als »Quan­ti­tät ohne Qua­li­tät. Sie ist im Hegel­schen Sin­ne nicht Sub­jekt, son­dern Objekt: Auch wenn sie glaubt zu schie­ben, wird sie noch gescho­ben.« Die Mas­sen sei­en »tech­no­lo­gisch aus der Mecha­ni­sie­rung, öko­no­misch aus der Stan­dar­di­sie­rung, sozio­lo­gisch aus der Anhäu­fung und poli­tisch aus der Demo­kra­tie« ent­stan­den. Nicht umsonst wer­de der »Infan­ti­lis­mus der Mas­sen­see­le« von lau­fend wech­seln­den Moden bedient.

Arnold Geh­len schließ­lich hat in sei­nem Werk Die See­le im tech­ni­schen Zeit­al­ter (1957) die Ver­mes­sen­heit jener »Fach­men­schen ohne Geist« und »Genuß­men­schen ohne Herz« (Max Weber), wie sie auch im 21. Jahr­hun­dert auf Schritt und Tritt zu beob­ach­ten ist, prä­zi­se beschrie­ben: »eine von der Indus­trie umge­schaf­fe­ne, durch­tech­ni­sier­te Außen­welt, in der sich Mil­lio­nen von ich­be­ton­ten, selbst­be­wuß­ten und auf Anrei­che­rung ihres Erle­bens bedach­ten Men­schen bewe­gen und für die das fol­gen­lo­se, ver­pflich­tungs­lo­se Leben­dig­wer­den an irgend­wel­chen ganz belie­bi­gen Rei­zen und Ein­drü­cken kein Pro­blem ent­hält, nichts frag­wür­di­ges ist: Modus der Selbstverständlichkeit.«

Beob­ach­tet man den heu­ti­gen durch­di­gi­ta­li­sier­ten Zeit­ge­nos­sen, wird man fest­stel­len müs­sen, daß sich jener ort- und ziel­lo­se Erleb­nis­hun­ger eben­so noch gestei­gert hat wie die bis­wei­len schier unglaub­li­che Ich­ver­pan­ze­rung sol­cher Indi­vi­du­en. Mit­un­ter hat es den Ein­druck, als ob in die­ser Spaß­ge­sell­schaft nichts hin­der­li­cher sein könn­te als selb­stän­di­ges Denken.

Die »Ani­mier­ten sine ani­ma« (Botho Strauß), die das Ver­schwin­den der Ruhe aus ihrem Leben nicht bekla­gen, son­dern aus Furcht vor Lan­ge­wei­le begrü­ßen, wer­den so stark von den Ein­sen und den Nul­len und dem von ihnen aus­ge­lös­ten Schnell­feu­er-Auf­merk­sam­keits­wech­sel ange­zo­gen und gefes­selt, daß die Fra­ge, inwie­weit der Nut­zer das Gese­he­ne über­haupt noch geis­tig zu reflek­tie­ren in der Lage sei, bei­na­he schon drol­lig-anti­quiert erscheint. Die Geist­ver­las­sen­heit, die Gedan­ken­flüch­tig­keit, der Ver­lust von Muße und Urteils­kraft – das ist die Signa­tur eines Zeit­al­ters, das noch wie kei­nes zuvor unduld­sam ist gegen den, der es wagen soll­te, dem unschöp­fe­ri­schen main­stream beim »Abson­dern sei­ner Fer­tig­teil-Spra­che« (Botho Strauß) Wider­part zu bieten.

Konn­te man es frü­her als Kom­pli­ment auf­fas­sen, als »Zeit­ab­leh­nungs­ge­nie« (Hei­ne über Goe­the) bezeich­net zu wer­den, so muß man sich heu­te zwei­mal über­le­gen, ob es tun­lich ist, sich mit der »Belie­big­keits­bar­ba­rei« (Frank Lis­son) anzu­le­gen und die­ser zu offen­ba­ren, daß man zu all ihren Anma­ßun­gen stich­hal­ti­ge obiter dic­ta bereit hält, die das Kar­ten­haus der Ver­gnü­gungs­re­gen­ten schnell zum Ein­sturz brin­gen könn­ten. Durch die Fort­schrit­te der moder­nen Com­pu­ter- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­nik, die welt­wei­te Ver­net­zung und die explo­si­ons­ar­ti­ge Ver­brei­tung der omni­prä­sen­ten Ohr‑, Augen- und Fin­ger­fes­seln (Han­dy, Lap­top, Note­book, I‑Phone, I‑Pad, I‑Pod und sons­ti­ge ich­zen­trie­ren­de Zeit­ver­nich­tungs­in­stru­men­te) ist die­ser Pro­zeß der Auf­lö­sung eigen­stän­di­gen Den­kens in den ver­gan­ge­nen 15 Jah­ren in erstaun­li­cher Wei­se for­ciert worden.

Das gilt gera­de für die »Gene­ra­ti­on Goog­le«, also die Alters­ko­hor­ten der seit Anfang der 1990er Jah­re sozia­li­sier­ten Jugend­li­chen und jun­gen Erwach­se­nen, die mit dem elek­tro­ni­schen Schnul­ler auf­ge­wach­sen ist. In die­sem Umfeld hat »Goo­geln«, »Twit­tern«, »eMail-che­cken« oder War­ten auf »neue Nach­rich­ten« fast so einen Kult­sta­tus wie der Klamp­fen­klang der Wan­der­vo­gel­ge­nera­ti­on 100 Jah­re zuvor. Durch die­se nicht sel­ten sucht­ar­ti­ge Abhän­gig­keit von der elek­tro­ni­schen Appa­ra­tur droht eine Situa­ti­on, bei der es zur Ent­eig­nung des Den­kens schon gar nicht mehr kom­men kann, weil zuvor eine Aneig­nung des­sen, was den­ken heißt, nie statt­ge­fun­den hat.

Den­ken ist näm­lich gera­de nicht Kon­su­mie­ren von Infor­ma­tio­nen, das pas­siv-rezep­ti­ve Reagie­ren auf das, was eine Maschi­ne vor­gibt. Den­ken besteht nicht in einem elek­tro­ni­schen Zusam­men­su­chen des­sen, was Algo­rith­men­zu­fäl­le auf den Bild­schirm zau­bern. Und mit Den­ken hat es auch nichts zu tun, sich durch Kli­cken auf Hyper­links, auf »gefällt-mir«-Knöpfe, durch Inter­net­sur­fen oder ander­wei­ti­ges Her­um­ge­zap­pe die Kon­zen­tra­ti­on (zer)stören zu las­sen. Dabei sind es gera­de die von der wach­sen­den Rech­ner­po­tenz befeu­er­te Geschwin­dig­keit der elek­tro­ni­schen Abläu­fe und die von ihr aus­ge­lös­te, nach­ge­ra­de orgi­as­ti­sche Infor­ma­ti­ons­flut, die einem wirk­li­chen Ver­ste­hen, einem ech­ten Aneig­nen geis­ti­ger Inhal­te entgegensteht.

Denn das Geheim­nis des Den­kens und des geis­tig Schöp­fe­ri­schen ist die Ver­sen­kung in die Mate­rie, ist die unge­teil­te Hin­ga­be an einen Stoff. Und eine sol­che kon­zen­tra­ti­ve Kraft wächst nur dem zu, der sich ein sinn­li­ches Ver­hält­nis zur Stil­le bewahrt hat. Das Netz ist dem­ge­gen­über in ers­ter Linie ein grund­be­schleu­nig­tes Medi­um für rasan­tes Ver­ges­sen: Statt im ent­schleu­nig­ten Stu­dier­zim­mer mit Papier und Blei­stift zu lesen oder sich bei einem Wald­spa­zier­gang geis­tig zu bele­ben, ist der moder­ne homo elec­tro­ni­cus gefan­gen von dem sekünd­li­chen Wech­sel von Bil­dern und Buch­sta­ben, die aber nicht haf­ten blei­ben kön­nen, weil ein Ras­ter fehlt, in das die­se Infor­ma­tio­nen ein­ge­ord­net wer­den könnten.

Damit ver­bun­den ist ein regel­rech­ter Fetisch der Ober­fläch­lich­keit, der die­je­ni­gen, die von ihm gefan­gen sind, aber nicht dar­an hin­dert, sich den Ver­ste­hens­il­lu­sio­nen unse­rer Zeit hin­zu­ge­ben. Die­ser fort­schrei­ten­de Pro­zeß geis­ti­ger Fremd­be­stim­mung kenn­zeich­net das »Aus­schlie­ßungs­ver­hält­nis von Infor­miert­heit und Weis­heit« (Rein­hard Fal­ter), das zum Schick­sal der »Info-Demen­ten« (Botho Strauß) zu wer­den droht. Ste­fan Geor­ge hat­te schon vor dem Ers­ten Welt­krieg mit Blick auf die USA von einer »Ver­amei­sung der Erde« gewarnt, und man­ches spricht dafür, daß die­ser Sie­ges­zug des ame­ri­ka­ni­sier­ten Ein­heits­men­schen in dem Bescheid­wis­ser­ath­le­ten neue­rer digi­ta­ler Prä­gung sei­ne wür­di­ge Fort­set­zung erhält.

Die­ser her­an­dräu­en­de, power­point­be­rie­sel­te und pho­to­pos­ten­de Mul­ti­tas­king­typ, des­sen Ahnungs­lo­sig­keit nur noch von sei­ner Blau­äu­gig­keit über­bo­ten wird, kann sich häu­fig noch nicht ein­mal vor­stel­len, wie­viel Fleiß und Zeit man benö­tigt, um sich jenes fak­ten­ge­sät­tig­te Wis­sen anzu­eig­nen, auf des­sen Grund­la­ge man über­haupt erst imstan­de ist, sich eine eige­ne, von dem Illu­si­ons­thea­ter der Medi­en freie Mei­nung zu verschaffen.

Noch weni­ger hat der mit Com­pu­ter­main­stream­flüs­sig­brei auf­ge­zo­ge­ne Zeit­ge­nos­se eine Ahnung davon, wie­viel Mut und Opfer man ein­zu­set­zen bereit sein muß, um eine sol­che ori­gi­nä­re Mei­nung gegen eine elek­tro­nisch im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes »ange­sag­te« com­mu­nis opi­nio zu ver­tre­ten, die der­glei­chen nicht nur nicht hören mag, son­dern deren Wäch­ter alles dafür tun, eine sol­che unab­hän­gi­ge Mei­nung zum Ver­stum­men zu bringen.

Wer sich gegen­über den Seg­nun­gen der Com­pu­ter- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­in­dus­trie kri­tisch äußert und die wiki­ver­flüs­sig­te »Weis­heit der Vie­len« (kenn­zeich­nen­der­wei­se ein Begriff aus der moder­nen Bie­nen­for­schung – »coll­ec­ti­ve wis­dom«) für eine con­tra­dic­tio in adiec­to hält, muß sich vor­se­hen. Nur all­zu leicht kommt man in den Geruch des Maschi­nen­stür­mers, der nicht begrei­fen will, daß sich – wie es schick­sals­er­ge­ben-schön heißt – der Fort­schritt nicht auf­hal­ten läßt.

Gegen­wind erfährt die­se blin­de Tech­nik­gläu­big­keit aber gera­de von den neu­es­ten neu­ro­lo­gi­schen For­schun­gen, die deut­lich gemacht haben, wo die digi­tal nati­ves am Ende lan­den wer­den, wenn die Kapi­tu­la­ti­on des Geis­tes vor der schö­nen neu­en Elek­tro­nik­welt voll­endet wer­den soll­te. Der Hirn­for­scher Man­fred Spit­zer spricht in die­sem Zusam­men­hang von einer »digi­ta­len Demenz« und hält Com­pu­ter »zum Ler­nen für genau­so drin­gend nötig wie ein Fahr­rad zum Schwim­men oder ein Rönt­gen­ge­rät, um Schu­he aus­zu­pro­bie­ren.« Der Autor warnt vor den Ver­wüs­tun­gen, die die elek­tro­ni­sche Unter­for­de­rung der ori­gi­nä­ren geis­ti­gen Anla­gen eines Jugend­li­chen ver­ur­sacht (Nicht­her­aus­bil­den von Synapsen).

Wer wie der heu­ti­ge digi­ta­le Urein­woh­ner an sei­nem 21. Geburts­tag durch­schnitt­lich 250000 E‑Mails oder SMS gesen­det bzw. emp­fan­gen und 10000 Stun­den mit sei­nem Han­dy ver­bracht habe und 3500 Stun­den in »sozia­len« Netz­wer­ken wie z.B. Face­book »unter­wegs« gewe­sen sei, lei­de nicht nur häu­fi­ger unter Schlaf­stö­run­gen und beschä­di­ge sei­ne Traum­wel­ten, er zer­stö­re viel­fach sei­ne Lese- und Kon­zen­tra­ti­ons­fä­hig­keit und intel­lek­tu­el­le Ausdauer.

Aber auch von geis­tes­wis­sen­schaft­li­cher Sei­te gerät die – bei einer wach­sen­den Zahl struk­tu­rel­ler Analpha­be­ten von der­zeit 7,5 Mio. in Deutsch­land – von der Com­pu­ter­in­dus­trie mas­siv betrie­be­ne Digi­ta­li­sie­rung aller Lebens­be­rei­che unter Druck: So kenn­zeich­net der Hei­del­ber­ger Edi­ti­ons­wis­sen­schaft­ler Roland Reuß die Phy­sio­gno­mie unse­rer elek­tro­nisch-di gita­len Gegen­wart als eine »Ver­klum­pung von Digi­tal­tech­no­lo­gie, Büro­kra­tie, Kon­troll­be­dürf­nis und sub­jek­ti­ver Total­ver­blen­dung«. Hin­ter der Eli­mi­nie­rung des Buches und der Liqui­die­rung kon­zern­un­ab­hän­gi­ger Ver­la­ge erkennt Reuß den »– im genau­en Sinn des Wor­tes – geistesgestörte(n) Aus­griff von Tech­nik-Unter­neh­men und staat­li­cher Dienst­leis­tungs­bü­ro­kra­tie auf die kul­tu­rel­le Pro­duk­ti­on der Zeit.«

Trotz die­ser kri­ti­schen Stim­men spricht man­ches dafür, daß die elek­tro­ni­sche Kara­wa­ne wei­ter­zieht und die Digi­ta­li­sie­rung sich ins Unvor­stell­ba­re stei­gern könn­te. Das dürf­te nicht nur zu einem (wei­ter) wach­sen­den Kon­for­mi­täts­druck und zu einer Aus­wei­tung der heu­te schon mehr als aus­rei­chend dimen­sio­nier­ten intel­lek­tu­el­len Flach­was­ser­zo­ne füh­ren. Zu erwar­ten ist auch, daß die Pri­vat­heit, nach Ansicht des Face­book-Geschäf­te­ma­chers Mark Zucker­berg »eine obso­let gewor­de­ne sozia­le Norm«, und die Dis­kre­ti­on durch den herr­schen­den Trans­pa­renz­wahn wei­ter zer­stört wer­den. Die medi­al insze­nier­te Inti­mi­tät und ein unend­lich nar­ziss­ti­sches Geschwätz wer­den dage­gen von den geschil­der­ten Ent­wick­lun­gen eben­so beför­dert wer­den wie die sons­ti­gen psy­chi­schen Strip­tease­ver­an­stal­tun­gen in irgend­wel­chen TV-Shows oder Internetforen.

Nicht ver­ges­sen wer­den darf schließ­lich der Macht­an­spruch des Denun­zi­an­ten, des­sen Erfolgs­re­zept, die Beschä­di­gung und Zer­stö­rung von Exis­ten­zen durch Ver­brei­tung von unbe­wie­se­nen Gerüch­ten und Halb­wahr­hei­ten, noch nie so ziel­füh­rend umge­setzt wer­den konn­te, wie durch aus dem Anony­men her­aus geführ­te Inter­net- und elek­tro­ni­sche Rundbrief-»Aktionen«. Daß all dies der Fähig­keit zu selb­stän­di­gem Den­ken und dem Mut zu dar­auf auf­bau­en­dem unge­hin­der­tem Äußern einer wahr­haft frei­en, eige­nen Mei­nung, bei­des essen­ti­el­le geis­ti­ge Vor­gän­ge in einer ech­ten Demo­kra­tie, die noch nicht auf das »Papier­for­mat der Frei­heit« (Johann Braun) ein­ge­dampft wur­de, zuträg­lich ist, steht nicht zu erwarten.

Eine Repu­blik benö­tigt aber wie das Salz zum Leben die Erör­te­rung der öffent­li­chen Sache, der res publi­ca. Wird die­se res publi­ca »durch die Annah­me ver­drängt, gesell­schaft­li­cher Sinn erwach­se aus dem Gefühls­le­ben der Indi­vi­du­en« (Richard Sen­nett), exis­tiert kei­ne Repu­blik mehr, son­dern ein gra­nat­ap­fel­ähn­li­ches Kon­glo­me­rat von Mil­lio­nen von Ein­zel­in­di­vi­du­en, die neben­ein­an­der her­le­ben, die viel­leicht noch gewis­se kon­sum­kon­ta­mi­nier­te Lebens­sti­le ver­bin­det (»Gene­ra­ti­on Golf«, »Gene­ra­ti­on Har­ry Pot­ter«, usw.), die aber gera­de nicht in der Lage sind, mit einer Stim­me für die jewei­li­ge Enti­tät (Fami­lie, Dorf, Volk, Staat) zu sprechen.

In einer sol­cher­art ato­mi­sier­ten, einen Gemein­schafts­wil­len zu arti­ku­lie­ren unfä­hi­gen Mas­se und mit dem damit ein­her­ge­hen­den »Fall of the Public Man« (Richard Sen­nett) wird die Mani­pu­la­ti­on, nach Arnold Geh­len die Kunst, »jeman­den zu einem Zweck zu gebrau­chen, den er nicht kennt«, einem neu­en unge­ahn­ten Früh­ling ent­ge­gen­se­hen, von dem die Pro­pa­gan­da-Nacht­ge­stal­ten des 20. Jahr­hun­derts nur träu­men konnten.

Wie stets in der Geschich­te wird es aber auch freie Geis­ter geben, die sich den Macht­an­ma­ßun­gen der elek­tro­ni­schen Moder­ne zu ent­zie­hen wis­sen und die in dem Meer der sie umge­ben­den Leicht­gläu­big­keit ihren urei­ge­nen Kurs segeln. Vie­les spricht dafür, daß der Ein­fluß sol­cher unab­hän­gig den­ken­der Köp­fe auf die außen­ge­steu­er­ten »Luxus­fel­la­chen« (Mar­tin Licht­mesz) zuneh­men dürfte.

In einem Spie­gel-Inter­view aus dem Jah­re 1982 hat­te Ernst Jün­ger zu die­sem Zusam­men­hang bemerkt:

Es kommt näm­lich vor, daß mich jun­ge Leu­te besu­chen, die mich außer­or­dent­lich erstau­nen und bei mir die Theo­rie auf­kom­men las­sen, daß trotz und gera­de wegen der Ver­mas­sung Eli­ten an Qua­li­tät gewin­nen. Das ist wie einst in Alex­an­dria, wie in hel­le­nis­ti­schen Zeiten.

Eine sol­cher­art bewahr­te geis­ti­ge Unab­hän­gig­keit, Ernst Jün­ger hat­te sie 1951 in der Figur des »Wald­gän­gers«, Botho Strauß hat sie jüngst im Typus des »Außen­sei­ters« per­so­ni­fi­ziert, muß sich frei­lich, will sie dem Gesche­hen in die Spei­chen grei­fen, in den häß­li­chen Debat­ten­kult der Öffent­lich­keit einmischen.

Der Rück­zug in die Ein­sam­keit, er mag noch so ästhe­tisch-gescheit begrün­det sein, ist eine eso­te­risch-poli­tik­fer­ne Posi­ti­on, die eini­gen weni­gen den­ke­ri­schen Kory­phä­en vor­be­hal­ten blei­ben mag; den übri­gen, die nicht gewillt sind, ihr Leben und das­je­ni­ge ihrer Nach­fah­ren den Tyran­nen­al­lü­ren des Mas­sen­men­schen zu über­las­sen, wird man die Kärr­ner­ar­beit des »star­ken lang­sa­men Boh­rens von har­ten Bret­tern mit Lei­den­schaft und Augen­maß zugleich«, wie Max Weber 1919 das Wesen poli­ti­schen Han­delns bestimm­te, auch im elek­tro­nisch-digi­ta­len Zeit­al­ter nicht erspa­ren können.

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