Prophet im eigenen Land

pdf der Druckfassung aus Sezession 13/April 2006

sez_nr_13von Wiggo Mann

Martin van Creveld ist berühmt, weil er die welthistorisch neuen Formen der „asymmetrischen“ Kriegführung theoretisch erfaßt und damit wissenschaftliche Pionierarbeit geleistet hat. Dafür wird er häufig mit dem Attribut „bedeutendster lebender Militärhistoriker“ versehen. Die Beschäftigung mit van Crevelds Thesen lohnt sich immer. Man sollte sich aber vielleicht stärker als bisher vergegenwärtigen, in wie starkem Maße sie von der Auseinandersetzung mit den konkreten Problemlagen desjenigen Landes geprägt sind, in dem er lebt und lehrt. Die Bücher, in denen dieser Bezug auch explizit wird, sind leider meist nicht ins Deutsche übersetzt.


Sei­ne kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit den israe­li­schen Streit­kräf­ten erzählt die Geschich­te des Nie­der­gangs der schlag­kräf­tigs­ten kon­ven­tio­nel­len Armee seit dem Zwei­ten Welt­krieg (Mar­tin van Cre­veld: The Sword and the Oli­ve. A Cri­ti­cal Histo­ry of the Israe­li Defen­se Force, New York: Public Affairs 1998, 422 S., kt, 27.50 $). Lan­ge Zeit war die Israe­li Defen­se Force (IDF) die „ulti­ma­ti­ve Garan­tie“ für die Exis­tenz des Staa­tes Isra­el – nicht nur in den Augen der Israe­lis. Doch am Ende des Buches muß van Cre­veld kon­sta­tie­ren: „In der Mit­te der neun­zi­ger Jah­re war der Glau­be Isra­els an sei­ne Streit­kräf­te gebro­chen.“ Was weder der bri­ti­schen Kolo­ni­al­macht, dem Pan­ara­bi­schen Natio­na­lis­mus noch den sowje­ti­schen Mili­tär­ex­per­ten gelun­gen war, erreich­ten die stei­ne­wer­fen­den Jugend­li­chen in Gaza und der West­bank: die weit­ge­hen­de Demo­ra­li­sie­rung der israe­li­schen Streit­kräf­te. 1995 gaben 72 Pro­zent der israe­li­schen Rekru­ten an, der Dienst in den beset­zen Gebie­ten sei „sehr demo­ra­li­sie­rend“. Obwohl der Lebens­stan­dard und die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung der israe­li­schen Bevöl­ke­rung sich in den acht­zi­ger Jah­ren ste­tig ver­bes­sert hat­ten, ging die Zahl der „kampf­taug­li­chen“ Wehr­pflich­ti­gen von 76 Pro­zent im Jahr 1986, ein Jahr vor dem Aus­bruch der Inti­fa­da, auf 64 Pro­zent zehn Jah­re spä­ter zurück. Zur glei­chen Zeit bezeich­ne­te der Gene­ral­stab die Moral der Reser­vis­ten als „kri­tisch“. In Isra­el, einem Land, in dem die Armee bis dahin einen unver­gleich­li­chen Sta­tus ein­ge­nom­men hat­te, begann eine wach­sen­de Zahl jun­ger Män­ner sich dem Wehr­dienst zu ent­zie­hen. Deren Zahl ging seit dem Aus­bruch der Inti­fa­da in die Zehn­tau­sen­de, und die israe­li­schen Streit­kräf­te hat­ten wach­sen­de Pro­ble­me, Reser­vis­ten ein­zu­zie­hen. Obwohl bis zu die­sem Zeit­punkt nicht mehr als 350 Israe­lis ihr Leben ver­lo­ren hat­ten, hat­te die israe­li­sche Armee nicht nur im Frie­den eine Schlacht ver­lo­ren, „son­dern war in der Gefahr, auch ihrer Ver­gan­gen­heit beraubt zu wer­den, einer qua­si mytho­lo­gi­schen Ver­gan­gen­heit, die die Essenz der Moral jeder Armee ist, ob alt oder jung“. Es ist anzu­neh­men, daß van Cre­veld die­se Ent­wick­lung vor Augen hat­te, die sich direkt vor sei­ner Haus­tür ereig­ne­te, als er das Kon­zept der „Neu­en Krie­ge“, in dem die Schwa­chen über die Star­ken sie­gen, entwickelte.
Qua­si als Pen­dant zur Kol­lek­tiv­bio­gra­phie der IDF erschien sechs Jah­re spä­ter ein Por­trät ihres berühm­tes­ten Krie­gers (Mar­tin van Cre­veld: Mos­he Dayan, Lon­don: Wei­den­feld & Nichol­son Mili­ta­ry 2004, 224 S., kt, 24.50 €). Wie kein ande­rer wur­de Mos­he Dayan zur Sym­bol­fi­gur des „neu­en Juden“, der sich vom alten Bild des „wei­ner­li­chen“ Dia­spo­ra­ju­den durch Unbeug­sam­keit und kämp­fe­ri­sche Selbst­be­haup­tung abhe­ben soll­te und mit Sprü­chen wie „Isra­el must be like a rabid dog“ berühmt wur­de. Nach einer har­ten Kind­heit auf den Far­men Dega­nia, dem ers­ten kib­buz in Isra­el, und Naha­lal sowie den mili­tä­ri­schen Lehr­jah­ren im Welt­krieg in der jüdi­schen Frei­wil­li­gen­ein­heit Pal­mach folg­te der Auf­stieg in der Befrei­ungs­ar­mee Haga­nah bis zum Ober­be­fehls­ha­ber der IDF ab 1953.

Für die über­aus erfolg­rei­che Suez­kam­pa­gne von 1956 wur­de Dayan Rit­ter der fran­zö­si­schen Ehren­le­gi­on. Wäh­rend sich der gebo­re­ne Krie­ger als Land­wirt­schafts­mi­nis­ter bis 1964 eher schwer­tat, avan­cier­te er nach sei­ner Rück­kehr in die gro­ße Poli­tik als Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter im Sechs-Tage-Krieg 1967 zum ver­klär­ten Ret­ter der Nati­on und zum media­len Kult­star in der gan­zen Welt. Die­ses Bild bekam aller­dings im Jom-Kip­pur-Krieg von 1973, in des­sen Fol­ge das Kabi­nett, dem Dayan ange­hör­te, zurück­tre­ten muß­te, eini­ge Ris­se. Der einst als „Fal­ke“ gel­ten­de Minis­ter hat­te wäh­rend des Krie­ges Anzei­chen von Mut­lo­sig­keit, nahe am Defä­tis­mus, gezeigt. In sei­nen letz­ten Lebens­jah­ren ent­wi­ckel­te er sich immer mehr zur „Tau­be“, deren äußerst erfolg­rei­ches diplo­ma­ti­sches Wir­ken als Außen­mi­nis­ter unter Men­achem Begin schließ­lich zu einem Abkom­men mit Anwar as-Sadats Ägyp­ten führ­te. Van Cre­veld wür­digt den Mann mit der mar­kan­ten Augen­klap­pe als Mar­ken­zei­chen (das Auge hat­te er im Welt­krieg durch einen Hecken­schüt­zen ein­ge­büßt) nicht nur als gefürch­te­ten Krie­ger, Staats­mann und Diplo­ma­ten, son­dern auch in sei­nen eher schil­lern­den Facet­ten als noto­ri­scher Quer­kopf, pas­sio­nier­ter Hob­by-Archäo­lo­ge und berüch­tig­ter Frauenheld.
Dayan scheint für van Cre­veld dem Ide­al­bild eines guten sol­da­ti­schen Füh­rers ziem­lich nahe zu kom­men, zumal er eine Prä­mis­se mit ihm teilt, die er schon 1985 äußer­te, näm­lich die Auf­fas­sung von der Unmög­lich­keit, das Kriegs­hand­werk durch die Tech­nik zu erset­zen und auf mathe­ma­ti­sche For­meln zu redu­zie­ren (Mar­tin van Cre­veld: Com­mand in War, Lon­don: Har­vard Uni­ver­si­ty Press 1987, 352 S., 22.50 $). Dort wirft van Cre­veld auch der israe­li­schen Füh­rung vor, im Jom-Kip­pur-Krieg den moder­nen Infor­ma­ti­ons­sys­te­men mehr getraut zu haben als den „eige­nen Augen“. Schon in Viet­nam stand am Ende ein Para­dox, das van Cre­veld Patho­lo­gie der Infor­ma­ti­on nennt. Das gewal­ti­ge Kom­mu­ni­ka­ti­ons­sys­tem brach unter sei­nem eige­nen Über­schuß an Infor­ma­tio­nen zusammen.
Den Schritt von der Ana­ly­se der Feh­ler der Ver­gan­gen­heit zur Hand­lungs­emp­feh­lung für die Zukunft ging van Cre­veld auf­grund einer Bit­te sei­ner besorg­ten Ehe­frau. In Defen­ding Isra­el plä­diert er für einen, wenn nötig uni­la­te­ra­len, Rück­zug der Armee aus den besetz­ten Gebie­ten (Mar­tin van Cre­veld: Defen­ding Isra­el. A con­tro­ver­si­al Plan towards Peace, New York: St. Martin’s Press 2004, 224 S., 21.95 $). Van Cre­veld argu­men­tiert prag­ma­tisch: Nach dem gewon­ne­nen Sechs-Tage-Krieg hat­te Isra­el die Paläs­ti­nen­ser­ge­bie­te besetzt, um die stra­te­gi­sche Tie­fe zu ver­grö­ßern. Bezüg­lich einer dau­er­haf­ten Kon­trol­le über die feind­lich gesinn­te paläs­ti­nen­si­sche Bevöl­ke­rung in der West­bank war schon Mos­he Dayan äußerst skep­tisch. Dayan, ver­traut mit der ara­bi­schen Wesens­art und gut befreun­det mit Ara­bern, erwar­te­te in zwei bis vier Jah­ren die ers­ten Auf­stän­de. Daß die­se dann erstaun­lich lan­ge aus­blie­ben, lag zum Teil an Dayans scho­nen­der Ver­wal­tungs­pra­xis, zum Teil am all­ge­mei­nen wirt­schaft­li­chen Auf­schwung die­ser Jah­re, von dem auch die Paläs­ti­nen­ser pro­fi­tier­ten. Mit größ­ter Skep­sis betrach­tet van Cre­veld in die­sem Kon­text die mit allen staat­li­chen Mit­teln geför­der­te Sied­lungs­po­li­tik. Ange­sichts der sehr unglei­chen demo­gra­phi­schen Ent­wick­lung argu­men­tiert er auch hier prag­ma­tisch: Wenn man nicht genü­gend Leu­te hat, um ein ande­res Volk zu kolo­ni­sie­ren, dann soll­te man es eben las­sen. Dies hat ihm – wenig über­ra­schend – star­ke Anti­pa­thien auf sei­ten der ras­sisch oder reli­gi­ös moti­vier­ten Sied­ler­lob­by ein­ge­bracht. Den­je­ni­gen Lin­ken dage­gen, die von einem fried­li­chen, muli­ti­kul­tu­rel­len Zusam­men­le­ben von Israe­lis und Paläs­ti­nen­sern phan­ta­sie­ren, paßt sein Plan von einer Segre­ga­ti­on der Völ­ker durch eine Mau­er, die so hoch ist, daß „kein Vogel dar­über flie­gen kann“, erkenn­bar eben­falls nicht ins Konzept.

Für den Rück­zug und die Mau­er spricht aus israe­li­scher Sicht indes eini­ges. Zunächst ist die „stra­te­gi­sche Tie­fe“ durch die über­wäl­ti­gen­de kon­ven­tio­nel­le Über­le­gen­heit der IDF im Nahen Osten nur noch von sekun­dä­rem Inter­es­se, wäh­rend die Bedro­hung durch Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen rela­tiv unab­hän­gig vom kon­kre­ten Ver­lauf der Gren­zen besteht. Schon 1993 pro­vo­zier­te van Cre­veld zudem mit der The­se: „Die Pro­li­fe­ra­ti­on hat die Sta­bi­li­tät im Ver­hält­nis der Staa­ten, die Nukle­ar­waf­fen besit­zen oder mit ihnen kon­fron­tiert sind, ver­grö­ßert und nicht ver­rin­gert.“ Selbst Dik­ta­to­ren wie Sta­lin, Chrust­chev oder Mao sind offen­sicht­lich nie­mals ernst­haft in die Ver­su­chung gekom­men, ihre Nukle­ar­waf­fen tat­säch­lich ein­zu­set­zen. Nukle­ar­waf­fen erschei­nen van Cre­veld als die gro­ßen „Spiel­ver­der­ber“, wie er es jüngst in einem Pots­da­mer Vor­trag aus­drück­te. Sie been­den das Zeit­al­ter der gro­ßen Stra­te­gie. Er sag­te bereits damals vor­aus, daß sich die Aus­tra­gung der Kon­flik­te von Staa­ten auf nicht­staat­li­che Orga­ni­sa­tio­nen ver­la­gern wür­de, da selbst zutiefst ver­fein­de­te Staa­ten sich gegen­sei­tig durch ihre nuklea­re Rüs­tung neu­tra­li­sie­ren wür­den. Dies ist eine Sicht­wei­se, die in der aktu­el­len Debat­te im Blick auf den Iran sicher beson­de­re Bri­sanz besitzt, zumal geäu­ßert von einem Israe­li, der in die­sem Buch auch die immer noch geleug­ne­te Nukle­ar­rüs­tung sei­nes eige­nen Staa­tes beschreibt. (Mar­tin van Cre­veld: Nuclear Pro­li­fe­ra­ti­on and the Future of Con­flict, New York: The Free Press 1994, 180 S., 22.95 $).
Wäh­rend also die besetz­ten Gebie­te stra­te­gisch nicht mehr viel Wert haben, ver­ur­sach­ten die fort­ge­setz­ten Sicher­heits­be­mü­hun­gen für die Juden in die­sen Gebie­ten so enor­me psy­cho­lo­gi­sche und öko­no­mi­sche Kos­ten (die van Cre­veld im ein­zel­nen vor­rech­net), daß durch eine Berei­ni­gung der Situa­ti­on und die Umlen­kung der mensch­li­chen und wirt­schaft­li­chen Res­sour­cen in Indus­trie und For­schung dem Land ein veri­ta­bler Wirt­schafts­auf­schwung blü­hen könn­te. Durch die Mau­er wäre die Gren­ze kür­zer, und somit bes­ser zu kon­trol­lie­ren und zu ver­tei­di­gen. Die Mehr­zahl der Paläs­ti­nen­ser blie­be außer­halb der Gren­zen ihrem Schick­sal über­las­sen, wäh­rend die Ara­ber mit israe­li­scher Staats­an­ge­hö­rig­keit sich stär­ker zur Assi­mi­lie­rung genö­tigt sehen könn­ten. Van Cre­veld dis­ku­tiert im Detail die dann noch ver­blei­ben­den Auf­ga­ben, eine fort­ge­setz­te „Revo­lu­ti­on in Mili­ta­ry Affairs“ bei­spiels­wei­se oder das Anle­gen von Ent­sal­zungs­pflan­zen­plan­ta­gen, um aus­fal­len­des Was­ser aus der West­bank zu erset­zen. Was bei Umset­zung die­ses Pla­nes mit den ver­blie­be­nen jüdi­schen Sied­lern gesche­hen wür­de, kann man sich leicht aus­rech­nen. Van Cre­veld wäre offen­bar bereit, die­ses Opfer zu brin­gen, um das Gan­ze zu ret­ten. Und offen­sicht­lich gewinnt die­se Vor­stel­lung in der israe­li­schen Gesell­schaft zuneh­mend an Attrak­ti­vi­tät. Die Mau­er ist gebaut, der Gaza­strei­fen bereits geräumt. Das jüdi­sche Volk bewegt sich in die Rich­tung, die van Cre­veld weist, und wird sich dadurch viel­leicht über die nächs­te Jahr­hun­dert­wen­de ret­ten. Es ist die Tra­gik der Deut­schen, daß sie bis­her weder einen Weg­wei­ser vom Kali­ber van Cre­velds her­vor­ge­bracht, geschwei­ge denn die Kraft für die har­ten aber not­wen­di­gen Schrit­te zum Über­le­ben gefun­den haben.

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