»Sea Changes«: Derek Turner im Gespräch

Der in Dublin geborene Schriftsteller Derek Turner hat bereits 2012 mit Sea Changes seinen Debütroman vorgelegt.

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

Er hat dar­in die drei Jah­re spä­ter mit vol­ler Wucht her­ein­bre­chen­de Flücht­lings­flut detail­liert vor­ge­zeich­net. Älte­ren Semes­tern mag der in Eng­land leben­de Ire noch aus diver­sen – auch deut­schen – kon­ser­va­ti­ven Zeit­schrif­ten bekannt sein. Wir spra­chen mit Tur­ner über sein Buch, das vor weni­gen Tagen im Jun­g­eu­ro­pa Ver­lag erschien, sein Leben und sei­ne Poli­tik; wer regel­mä­ßi­ge Neu­ig­kei­ten wünscht, kann sich auf sei­ner Netz­prä­senz umsehen.

Sezes­si­on: In sei­nem Vor­wort zur deut­schen Aus­ga­be hat einer der Wort­füh­rer der ame­ri­ka­ni­schen Alt­Right, Ihr US-Ver­le­ger Richard Spen­cer, Sea Chan­ges als »pro­phe­tisch« bezeich­net und dar­auf hin­ge­wie­sen, daß das Buch »ent­stand, noch bevor die soge­nann­te ›Flücht­lings­kri­se‹ von 2015/16 den poli­ti­schen Dis­kurs dra­ma­tisch ver­än­der­te, noch bevor sie zum Prüf­stein für die euro­päi­sche Rech­te und das Phä­no­men Donald Trump wur­de und noch bevor sie die deut­sche Nati­on von Grund auf ver­än­der­te«.

Tat­säch­lich läßt Ihre sorg­fäl­ti­ge Beschrei­bung der ver­bor­ge­nen Wege, auf denen soge­nann­te “Flücht­lin­ge” aus Afri­ka und Nah­ost nach Euro­pa hin­ein­ge­schwemmt wer­den, den Leser mit Erstau­nen zurück. Wie haben Sie die­se Rou­ten und Abläu­fe sei­ner­zeit aus­for­schen kön­nen, als sie noch nicht öffent­lich gemacht wor­den waren, und was hat Sie über­haupt dazu bewo­gen, sich in Ihrem Debüt­ro­man aus­ge­rech­net mit die­sem pikan­ten The­ma auseinanderzusetzen?

Tur­ner: Für mich lag immer auf der Hand, daß die Ein­wan­de­rung etwas extrem Bedeu­tungs­vol­les ist – weit mehr noch als die meis­ten wirt­schaft­li­chen oder poli­ti­schen Fra­gen! Was weni­ger auf der Hand liegt, ist, war­um das nicht jedem klar ist! Öko­no­mien, Par­tei­en und gesell­schaft­li­che Ver­hält­nis­se kom­men und gehen, aber natio­na­le Gemein­schaf­ten blei­ben – wenn man sie läßt.

Mensch­li­che Popu­la­tio­nen und loka­le Kul­tu­ren unter­schei­den sich als Daseins­grup­pen klar von­ein­an­der – und prak­ti­sche Poli­tik zielt zwangs­läu­fig auf Daseins­grup­pen. (Indi­vi­du­en unter­schei­den sich natür­lich eben­falls von­ein­an­der, aber in ande­rer Wei­se und ande­rem Aus­maß.) Jeden­falls habe ich schon sehr früh begon­nen, Pres­se­ar­ti­kel und Bücher zu lesen, die sich mit Ein­wan­de­rung, Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus und Ras­sen­fra­gen im all­ge­mei­nen beschäftigten.

Ziem­lich häu­fig ent­hiel­ten die Arti­kel auf­re­gen­de und pikan­te Details dar­über, wie genau ille­ga­le Ein­wan­de­rer rei­sen. Ich muß­te die­sem Hin­ter­grund­wis­sen also nur ein gewis­ses Maß an Vor­stel­lungs­kraft bei­geben, um die Odys­see des Ibra­him Nas­souf glaub­haft darzustellen.

Wäh­rend es in den Main­stream­m­e­di­en eine Men­ge sol­cher Arti­kel gab, wur­den die wei­te­ren Aus­wir­kun­gen und die Bedeu­tung die­ser Mas­sen­be­we­gung für die Auf­nah­me­län­der ent­we­der igno­riert oder vage für gänz­lich posi­tiv erklärt. Tex­te dar­über, wie Ille­ga­le in die lus­tig benams­te “Fes­tung Euro­pa” gelang­ten, sym­pa­thi­sier­ten aus­nahms­los mit den Neuankömmlingen.

Natür­lich muß man Mit­ge­fühl mit den­je­ni­gen haben, die vor Elend und Krieg flie­hen (wie wir es auch tun wür­den) – aber der mora­li­sche Zei­ge­fin­ger die­ser Arti­kel war ein­fäl­tig und – zumin­dest für mich – absto­ßend süßlich.

Es wur­de so gut wie kein Gedan­ke dar­an ver­schwen­det, wie sich die Wirts­be­völ­ke­rung in alten, klei­nen Län­dern, die nie um Ein­wan­de­rung gebe­ten hat­te, ange­sichts der lang­fris­ti­gen Aus­wir­kun­gen auf ihre müh­sam erkämpf­ten, fein aus­ta­rier­ten loka­len Kul­tu­ren füh­len mußte.

Die Vor­stel­lung, daß Viel­falt irgend­wie das Glei­che wie Stär­ke sei, wur­de end­los und bei­na­he bis zum Stumpf­sinn wie­der­holt; sie war viel eher ein Man­tra als eine über­prüf­ba­re oder gar dis­ku­ta­ble Behaup­tung. Ihre Wahr­haf­tig­keit anzu­zwei­feln, bedeu­te­te, sich mora­lisch ver­däch­tig zu machen.

Der eine oder ande­re Pro­mi­nen­te – Wis­sen­schaft­ler, Jour­na­lis­ten, gewis­se kon­ser­va­ti­ve Unter­haus­ab­ge­ord­ne­te – mach­ten schnell die Erfah­rung, daß es der Kar­rie­re scha­de­te und sie manch­mal glatt been­de­te, Fra­gen nach dem Nut­zen der Mas­sen­ein­wan­de­rung oder des Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus über­haupt (abge­se­hen von den sprich­wört­lich gewor­de­nen »auf­re­gen­den neu­en Imbiß­ge­rich­ten«) zu stellen.

Die Leh­re des Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus anzu­zwei­feln, wur­de zu einer eben­so heik­len Ange­le­gen­heit, wie im Euro­pa der Gegen­re­for­ma­ti­on die Leh­re der Trans­sub­stan­tia­ti­on anzu­zwei­feln. Und natür­lich behaup­te­ten die fana­tischs­ten Apo­lo­ge­ten und bru­tals­ten Voll­stre­cker die­ses neu­en Glau­bens­be­kennt­nis­ses von sich selbst, libe­ral und ver­nünf­tig zu sein …

Mei­ne gan­ze Jugend hin­durch und bis in mei­ne frü­hen Erwach­se­nen­jah­re gab die radi­ka­le Lin­ke in Ras­sen­fra­gen den kul­tu­rel­len und mora­li­schen Ton an, selbst als ihr öko­no­mi­sches Gedan­ken­gut bereits ver­ru­fen und ver­wor­fen war.

Jahr­zehn­te­lang war der ein­zi­ge Ort, an dem über die­se Pro­ble­me sinn­voll nach­ge­dacht wur­de, der “rech­te Rand” – dort aber geriet die­ses Den­ken unglück­li­cher­wei­se in ein Durch­ein­an­der aus Schwulst, Ver­schro­ben­heit, Neben­säch­lich­kei­ten, Para­noia, Reak­ti­on und ein wenig sozia­ler Gestörtheit.

Heu­te ist die Ein­wan­de­rungs­the­ma­tik jeden Tag in den Nach­rich­ten “ange­se­he­ner” Medi­en, und zwar in einer Art und Wei­se, die erst kürz­lich noch als “rechts­extrem” oder “Hate speech” abge­lehnt wor­den wäre – denn, so sehr es gewis­se Leu­te auch ver­su­chen mögen, die­se Fra­gen las­sen sich nicht län­ger aus­blen­den oder mit ein paar lee­ren Flos­keln beiseitewischen.

Das Gan­ze schien ein nahe­lie­gen­des The­ma für einen Roman zu sein, ins­be­son­de­re ange­sichts der sehr über­schau­ba­ren Kon­kur­renz! Wenn Roman­au­to­ren über die Ein­wan­de­rung geschrie­ben hat­ten, ver­folg­ten sie damit oft emo­tio­nal eigen­nüt­zi­ge Zie­le, indem sie sie als mora­lisch gut oder not­wen­dig recht­fer­tig­ten oder gar heiligsprachen.

Die kras­se Aus­nah­me war Das Heer­la­ger der Hei­li­gen, das ich mit Anfang Zwan­zig las. Ich fand das Buch außer­ge­wöhn­lich wirk­mäch­tig, vol­ler gal­li­scher Far­be und Ener­gie – auch wenn mir Ras­pails Logik oft gna­den­los vor­kam und ich mir wünsch­te, daß er sei­nen Figu­ren mehr cha­rak­ter­li­che Tie­fe gegönnt hät­te. Aber ande­rer­seits hat er ja auch viel eher ein Epos als einen Roman geschrieben.

Sezes­si­on: Sie sind mehr als zwei Jahr­zehn­te lang vor allem als poli­ti­scher Essay­ist tätig gewe­sen und haben zeit­wei­lig die rechts­in­tel­lek­tu­el­len bri­ti­schen Zeit­schrif­ten Right Now! und Quar­ter­ly Review her­aus­ge­ge­ben. Wie sind Sie in die­se “Sze­ne”, die sich um kon­tro­ver­se Cha­rak­te­re wie Jona­than Bow­den gebil­det hat, hin­ein­ge­langt, und was haben Sie dort erlebt? Wes­halb ent­schlos­sen Sie sich schließ­lich, die Polit­kom­men­ta­re zuguns­ten der Bel­le­tris­tik zurückzuschrauben?

Tur­ner: Ideen inter­es­sier­ten mich sehr, und es mach­te mir Freu­de, zu edie­ren und selbst zu schrei­ben. Ich hat­te gro­ßen Respekt vor vie­len Tories ver­gan­ge­ner Zei­ten – ins­be­son­de­re Samu­el John­son, der geschicht­li­chen Per­sön­lich­keit, der ich am liebs­ten per­sön­lich begeg­net wäre – und hielt die Kon­ser­va­ti­ve Par­tei für das in einem Zwei­par­tei­en­sys­tem ein­zig mög­li­che Vehi­kel für poli­ti­sche Posi­tio­nen, die Anstand mit gesun­dem Men­schen­ver­stand verbanden.

Kon­ser­va­ti­ve nei­gen jedoch per se dazu, sich nicht für Ideen zu inter­es­sie­ren: Ein grund­le­gen­der Unter­schied zwi­schen Rechts und Links ist, daß die Lin­ke über Vor­stel­lungs­ver­mö­gen, aber kei­ner­lei Rea­lis­mus ver­fügt, wäh­rend es bei der Rech­ten genau umge­kehrt ist.

Die Par­tei war trotz der offen­sicht­li­chen Unzu­läng­lich­kei­ten des Neo­li­be­ra­lis­mus von der Öko­no­mie der frei­en Märk­te beses­sen und damit zufrie­den, sich “prag­ma­tisch” zu ver­hal­ten – was letzt­lich bedeu­te­te, daß sie immer nur auf Ereig­nis­se reagier­te, anstatt sie selbst anzu­sto­ßen. Sie war, wie Nor­man Lamont ein­mal tref­fend sag­te, meist »an der Arbeit, aber nicht an der Macht«.

So kam ich zusam­men mit eini­gen ande­ren auf den Gedan­ken, daß es hilf­reich sein könn­te, die Tory-Rech­ten sys­te­ma­tisch mit neu­em Gedan­ken­gut zu ver­sor­gen. Und nicht nur mit neu­em Gedan­ken­gut – auch mit altem, das lan­ge ver­nach­läs­sigt wor­den war.

Tra­di­tio­nel­le Lob­by­grup­pen wie der Mon­day Club hat­ten sich ins­ge­samt als untaug­lich erwie­sen. Vie­le Grup­pen und Ver­öf­fent­li­chun­gen waren in einem Anfall von Enthu­si­as­mus aus der Tau­fe geho­ben wor­den, nur um sich nach einem oder zwei Jah­ren wie­der im San­de zu ver­lau­fen. Von der UKIP hielt ich damals (und auch heu­te noch) nichts, weil mir ihre Bot­schaft zu ein­fach und spie­ßig war; eini­ge UKIP-Mit­glie­der ver­tra­ten aus­ge­spro­chen idio­ti­sche Ansich­ten bis hin zum Fran­zo­sen- und Deut­schen­haß. (2016 stimm­te ich nur sehr zöger­lich für den Brexit.)

So ent­stand also die Right Now! als das Ergeb­nis zahl­rei­cher Tref­fen im berühm­ten Geor­ge Inn in Sou­thwark Mit­te der 1990er Jah­re, an denen eine gro­ße Spann­brei­te von Men­schen teil­nahm, dar­un­ter auch Jona­than Bow­den. Natür­lich beherrsch­te Bow­den die­se Tref­fen oft durch sei­ne schie­re red­ne­ri­sche Bril­lanz – aber er war kein Herausgebertyp.

Zehn von uns war­fen jeweils 100 Pfund als Start­ka­pi­tal in den Topf, und die Zeit­schrift star­te­te mit dem ehe­ma­li­gen Tory-Akti­vis­ten Ralph Har­ri­son als Her­aus­ge­ber. Nach sie­ben Aus­ga­ben hat­te der die Schnau­ze voll, und die Auf­ga­be ging auf mich über, weil ich der ein­zi­ge war, der zu jener Zeit wil­lens und in der Lage dazu war.

Wir konn­ten eini­ge Erfol­ge ver­bu­chen: Inter­views mit so unter­schied­li­chen Berühmt­hei­ten wie Nor­man Teb­bit, Hans Jani­tschek von der Sozia­lis­ti­schen Inter­na­tio­na­le oder Roger Scrut­on; bedeut­sa­me Arti­kel und Bespre­chun­gen; gro­ße Ver­an­stal­tun­gen in Unter- und Ober­haus, auf denen Per­sön­lich­kei­ten von John Red­wood bis hin zu Arthur Jen­sen spra­chen; bes­tens besuch­te Tref­fen am Ran­de der jähr­li­chen Kon­fe­renz der Kon­ser­va­ti­ven Par­tei sowie zwei aus­ge­zeich­ne­te eige­ne Kon­fe­ren­zen. Taki schrieb eine regel­mä­ßig erschei­nen­de Kolum­ne für uns.

Ich lern­te ein paar groß­ar­ti­ge Men­schen ken­nen, von denen eini­ge noch immer zu mei­nen engs­ten Freun­den zäh­len. Wir schlos­sen unzäh­li­ge Bekannt­schaf­ten, und das For­mat der Zeit­schrift wur­de weit­hin imi­tiert. Ich bekam oft Auf­trä­ge, für ande­re Zeit­schrif­ten zu schrei­ben; mei­ne und ande­re Arti­kel aus der Right Now! wur­den in meh­re­re Spra­chen über­setzt. Zu unse­ren zah­len­den Inse­ren­ten zähl­ten u.a. das klas­sisch libe­ra­le Adam Smith Insti­tu­te und das par­tei­über­grei­fen­de EU-kri­ti­sche Demo­cra­cy Movement.

Dar­über hin­aus ver­füg­ten wir über einen unge­wöhn­lich hohen Anteil jun­ger Leser. Noch heu­te begeg­nen mir hin und wie­der Men­schen, die durch Arti­kel und Rezen­sio­nen in der Right Now! erst­mals mit die­sem oder jenem Den­ker in Berüh­rung kamen. Von links bezeich­ne­te man uns als “gefähr­lich” – eine schö­ne Aner­ken­nung, die uns Schmä­hun­gen sei­tens eini­ger alt­ge­dien­ter Kon­ser­va­ti­ver aus­setz­te, deren höchs­te poli­ti­sche Maxi­me es offen­bar war, um jeden Preis nicht aufzufallen.

Letz­ten Endes jedoch war die Zeit­schrift – wie so vie­le ande­re klei­ne Publi­ka­tio­nen, die auf Abon­ne­ments ange­wie­sen waren – all­mäh­lich nicht mehr lebens­fä­hig. Oft waren die­je­ni­gen, die uns lei­den­schaft­lich dazu dräng­ten, mehr zu ver­öf­fent­li­chen, nicht ein­mal dazu bereit, ein Abo zu zeich­nen! Jeden­falls wuß­te ich nach der Her­aus­ga­be von 53 der ins­ge­samt 60 Aus­ga­ben, daß ich genug hat­te – mei­ne Leit­ar­ti­kel began­nen, sich zu wiederholen.

Das For­mat schien mir zu begrenzt für das, was ich vor­hat­te. Außer­dem hat­te ich die ein wenig eit­le Visi­on, etwas Dau­er­haf­te­res zu schaf­fen und dem glanz­vol­len kul­tu­rel­len Erbe Euro­pas ein paar Klei­nig­kei­ten hin­zu­zu­fü­gen. Das ver­su­che ich immer noch!

Sezes­si­on: Eine der gewiß am tref­fends­ten benams­ten Figu­ren in Ihrem Roman vol­ler viel­sa­gen­der Namen ist der zwang­haft fort­schritt­li­che und gut­mensch­li­che Jour­na­list John Ley­den, der sei­nen Namen offen­sicht­lich vom Füh­rer der Müns­te­ra­ner Wie­der­täu­fer hat, Jan van Lei­den, genannt Bockel­son.

Sehen Sie im heu­ti­gen Main­stream­jour­na­lis­mus tat­säch­lich eine reli­gi­ös-fana­ti­sche Qua­li­tät? Wie sieht es damit in der eng­lisch­spra­chi­gen Welt aus, und wie reagie­ren die nor­ma­len Men­schen – die in Sea Chan­ges durch den vom Schick­sal und der “Vier­ten Gewalt” übel gestraf­ten Bau­ern Dan Gowt reprä­sen­tiert wer­den – auf sol­che Gängelung?

Tur­ner: Ein Teil des Akti­vis­mus und Jour­na­lis­mus von links weist zwei­fel­los einen qua­si­re­li­giö­sen Bei­geschmack auf. Ich erin­ne­re mich dar­an, das ganz deut­lich gespürt zu haben, als ich die Auf­nah­men der Ent­las­sung Nel­son Man­de­las aus dem Gefäng­nis sah und die über­wäl­tig­ten, schwär­me­ri­schen, beben­den, ein wenig übel­kei­ter­re­gen­den Kom­men­ta­re von Jour­na­lis­ten hör­te, die sich selbst wahr­schein­lich für Rea­lis­ten und Skep­ti­ker hal­ten. Ich schäm­te mich für sie! Für sie war die­ses Ereig­nis wie der Ein­zug eines Hei­li­gen in die Stadt.

Die­sel­ben Per­sön­lich­kei­ten, die in ande­ren Zeit­al­tern Hohe­pries­ter, Säu­len­hei­li­ge, Fla­gel­lan­ten oder puri­ta­ni­sche Extre­mis­ten gewe­sen wären, fin­det man heu­te über Mei­nungs­ar­ti­kel für die säku­la­ren, huma­nis­ti­schen Medi­en gebeugt. Man­che Men­schen füh­len sich durch ihre Ver­an­la­gun­gen zu meta­phy­si­schen “Erklä­run­gen” und den leich­ter erreg­ba­ren For­men der Reli­gi­on hin­ge­zo­gen, und heu­te, wo es so schwer ist, an Gott zu glau­ben, lei­ten sie ihre intel­lek­tu­el­len Ener­gien statt­des­sen oft­mals in poli­ti­sche Utopien.

Das Chris­ten­tum weist alle mög­li­chen edlen und inspi­rie­ren­den Qua­li­tä­ten auf – Vor­an­trei­ben der Bil­dung, Wohl­tä­tig­keit, intel­lek­tu­el­len Auf­trieb, Sanft­mut, sozia­le Ver­ant­wor­tung –, und sei­ne Kul­tur ist in jedem Fall untrenn­bar mit der euro­päi­schen Iden­ti­tät ver­bun­den. Unglück­li­cher­wei­se neigt es aber auch zu Apo­ka­lyp­tik, Schwarz-Weiß-Den­ken, Heroen­kult, Maso­chis­mus, Gefühls­du­se­lei und zum Universalismus.

Natür­lich sind all die­se Aspek­te nicht genu­in christ­lich, aber sie stel­len wich­ti­ge Ele­men­te ins­be­son­de­re der Welt­an­schau­ung evan­ge­li­ka­ler Chris­ten dar und las­sen sich leicht in die poli­ti­sche Sphä­re übertragen.

Die poli­ti­sche Kor­rekt­heit ist so etwas wie ein füh­rer­lo­ser, dies­sei­ti­ger Kult und ent­hält vie­le die­ser Cha­rak­ter­zü­ge. In Eng­land gibt es ein bekann­tes Sprich­wort, wonach die Lin­ke dem Metho­dis­mus mehr ver­dankt als dem Mar­xis­mus, und dar­in steckt viel Wahrheit.

Übri­gens zei­tig­ten die­se alt­her­ge­brach­ten pro­tes­tan­ti­schen bzw. lin­ken Impul­se oft­mals posi­ti­ve Aus­wir­kun­gen; die christ­li­che Sozi­al­leh­re stand hin­ter vie­len ent­schei­den­den Refor­men des 19. und frü­hen 20. Jahr­hun­derts, etwa der Ver­bes­se­rung der Lebens­be­din­gun­gen für die Arbei­ter­schaft oder der Ein­füh­rung des Frauenwahlrechts.

Das Pro­blem ist, daß die glei­che intel­lek­tu­el­le Rast­lo­sig­keit nun gegen die Zivi­li­sa­ti­on in Stel­lung gebracht wird, die ihr ihren schlüs­sigs­ten Cha­rak­ter und Aus­druck ver­lie­hen hat. Vie­le christ­li­che Füh­rer – Katho­li­ken und Pro­tes­tan­ten glei­cher­ma­ßen – haben die Mas­sen­ein­wan­de­rung durch man­geln­de Sach­lich­keit, den irra­tio­na­len Glau­ben an das Gute im Men­schen und einen prä­ten­tiö­sen Unwil­len, ihr eige­nes Glau­bens­sys­tem und die dazu­ge­hö­ri­ge Kul­tur ande­ren vor­zu­zie­hen, mit begünstigt.

Glau­ben die­se christ­li­chen Füh­rer wirk­lich noch an die Beson­der­heit ihres eige­nen Glau­bens­be­kennt­nis­ses? Es sieht nicht danach aus.

Sezes­si­on: In den frü­hen 1990er Jah­ren haben Sie eini­ge Arti­kel in der Zeit­schrift Cri­ticón ver­öf­fent­licht, auch ein­mal in der Gra­zer Neu­en Ord­nung, und ab 2000 eine mehr­jäh­ri­ge Rei­he von Ein­bli­cken in das Gesche­hen auf den bri­ti­schen Inseln in der Jun­gen Frei­heit. Wie kam es zu die­sen Zusam­men­ar­bei­ten quer über den Kanal, und wie haben Sie die kon­ser­va­ti­ve Publi­zis­tik hier in Deutsch­land wahrgenommen?

Tur­ner: Mei­ne Kennt­nis der poli­ti­schen Sze­ne in Deutsch­land ist lei­der eher begrenzt – neben mei­nem natur­ge­ge­be­nen Dilet­tan­tis­mus ste­hen dem zusätz­lich mäßi­ge Sprach­kennt­nis­se im Weg. Ich fol­ge den dor­ti­gen Ent­wick­lun­gen jedoch so gut, wie es mir sprach­li­che und zeit­li­che Schran­ken erlau­ben, und es freut mich, daß die­ses groß­ar­ti­ge Land trotz Jahr­zehn­ten mise­ra­bler “Füh­rung”, auf die Spit­ze getrie­ben unter der öden und dum­men Ägi­de Frau Mer­kels, noch immer Lebens­zei­chen auf­weist – qua­li­ta­tiv hoch­wer­ti­ge Peri­odi­ka, Thi­lo Sar­ra­zin, die AfD und so weiter.

Ich begeg­ne­te Cas­par von Schrenck-Not­zing und sei­ner Frau Regi­na bei einem ihrer Besu­che in Lon­don, und ich habe sie immer sehr gemocht und ver­ehrt. Ehe ich ihn traf, hat­te ich von Bal­ta­sar Gra­cián nicht ein­mal gehört – allein schon dafür wer­de ich ihm ewig dank­bar sein!

Cas­par war ein präch­ti­ger Reprä­sen­tant jener alten, reich­hal­ti­gen und umfang­rei­chen euro­päi­schen Kul­tur, die nun aus so vie­len ver­schie­de­nen Rich­tun­gen bedroht ist. Es tut mir leid, sagen zu müs­sen, daß mir erst nach sei­nem Tod wirk­lich klar­ge­wor­den ist, was für ein bemer­kens­wer­ter Mann er gewe­sen war.

Doch schon zu sei­nen Leb­zei­ten wuß­te ich genug über ihn, um mich geehrt zu füh­len, es auf die Sei­ten von Cri­ticón zu schaf­fen. Sein Ver­mächt­nis wird so lan­ge fort­dau­ern, wie es die deut­sche Idee tut – und wenn die wei­ter­be­steht, dann wird es zum Teil ihm zu dan­ken sein. Es scheint mir, als wür­de die Jun­ge Frei­heit sei­ne Tra­di­ti­ons­li­nie des uner­schro­cke­nen und klu­gen Schrei­bens auf der Grund­la­ge ein­ge­hen­der Bil­dung fortführen.

––––

Derek Tur­ner: Sea Chan­ges, Dres­den 2018. 464 Sei­ten, 24 Euro – hier ein­se­hen und bestellen!

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

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Kommentare (7)

Alveradis

7. März 2018 04:24

"Turner: Ein Teil des Aktivismus und Journalismus von links weist zweifellos einen quasireligiösen Beigeschmack auf. Ich erinnere mich daran, das ganz deutlich gespürt zu haben, als ich die Aufnahmen der Entlassung Nelson Mandelas aus dem Gefängnis sah und die überwältigten, schwärmerischen, bebenden, ein wenig übelkeiterregenden Kommentare von Journalisten hörte, die sich selbst wahrscheinlich für Realisten und Skeptiker halten. "

Diese religiöse Überhöhung kreiert das Tabu die zur Ikone empor gehobene Figur zu kritisieren oder überhaupt historisch realistisch einzuordnen. Vom kommunistischen Terroristen zum Heiligen. Um so einen Wahrnehmungssprung massenwirksam zu ermöglichen muss dick aufgetragen werden. Es geht nur wenn Emotionen mobilisiert, hochgekocht und anschließend das Bild des installierten neuen Heiligen eingefroren wird.

Die "Linke" machte zwar das Tamtam aber es waren Reagan und Thatcher, die das weiße Süd Afrika vernichtet haben. Es war wichtig die konservative Anhängerschaft durch einen koordinierten Medien Blitzkrieg davon abzuhalten zu denken.

Auch wenn ich nicht ausschließe, dass Journalisten am äußeren Rand der Narrativproduzenten sich schlicht mitreißen lassen, denke ich nicht, dass derlei groß angelegte Aktionen ohne Koordinierung im Vorfeld ablaufen.

Man muss sich vorstellen, dass die natürliche Solidarität Weißer zu anderen Weißen bei der Operation abgetrennt und auf die Schwarzen umgelenkt werden musste. Dafür wurde auch die Musik- und Unterhaltungsindustrie bis zum Anschlag eingesetzt.

Die Kreation der emotional hoch aufgeladenen Scheinrealität funktionierte so gut, dass weißen Süd Afrikanern, die nach Britannien geflüchtet sind nicht geglaubt wurde, wenn sie über ihre Erfahrungen sprachen, denn gleichzeitig mit der Errichtung der unantastbaren Ikone Mandela war auch das Bild des teuflischen Süd Afrikaners installiert worden. Da absolut Gute und das absolut Böse.

Wahrnehmungsveränderungen können nur massenwirksam installiert werden, wenn die Gehirne massiv von allen Seiten mit Gefühlen geflutet werden.

Genau das haben wir ja auch 2015 erlebt. So ein Gefühlshype verschärft die Trennung zu den Zögerlichen oder Kritischen bis hin zur Unmöglichkeit einer Kommunikation über die Lager hinweg.

Für den Mandela Kult, den auch Trump weiter führt, war es notwendig, die Realisten unter den eigenen Wählern auszuschalten.

Die Konditionierung ist so tief eingedrungen, dass keine auch noch so grauenhafte Meldung aus Süd Afrika die Herzen der Konditionierten erreicht.

Im Kern der Kampagnen mag tatsächlich Religion eine Rolle spielen und die Dynamik beeinflussen. Da müsste man sich die journalistischen Akteure näher ansehen.

Ein gebuertiger Hesse

7. März 2018 08:45

Sehr gutes Interview, intensiv und satt im Detail. Vielen Dank dafür.

RMH

7. März 2018 09:38

"... einige UKIP-Mitglieder vertraten ausgesprochen idiotische Ansichten bis hin zum Franzosen- und Deutschenhaß. (2016 stimmte ich nur sehr zögerlich für den Brexit.)"

Dem Brexit gegenüber hege ich sehr ambivalente Gefühle. Klar, er war ein Schlag gegen die Bürokratie und den Moloch in Brüssel und ein Zeichen der Lebendigkeit eines Volkswillens (wenn auch wohl eher nur des Willens der Älteren und Ärmeren Britanniens, wenn man den Umfragen glauben darf). Auf der anderen Seite schmerzt es mich, der ich immer gute Kontakte zur Insel pflegte und diese ausgiebig bereist habe, schon sehr, dass mit dem Brexit Groß Britannien sich automatisch wieder eher weg von Europa entwickelt, die Freizügigkeit des Reisens eingeschränkt werden wird und sich das UK wohl wieder mehr an die USA und die Commonwealth-Länder wie Canada, Australien etc, anlehnen wird. Für Deutschland, als "Zentrum Europas", ist das nicht vorteilhaft. Hoffen wir, dass es in nicht allzu ferner Zukunft doch noch zu einem echten Bündnis eines Europas der Vaterländer kommt, dem Groß Britannien dann naturgemäß als starker und wichtiger Partner angehört und welches dann keine Spielfigur auf dem Schachbrett der USA mehr ist (denn dazu wird das große UK mit dem Brexit wieder werden - aus der einen Abhängigkeit wird eine neue folgen).

Solution

7. März 2018 17:56

Ich darf wohl für mich in Anspruch nehmen, als erster Deutscher dieses Buch im englischen Original (bei WSP in den USA erschienen) gelesen zu haben. Daher freue ich mich, daß dieses Buch endlich auf Deutsch erschienen ist.

Es ist mindestens so gut, wie das "Heerlager" und noch besser als andere gute Bücher zum Thema. Vom Schreibstil und vom Inhalt ist es für jedermann zum Lesen geeignet.

Der aktuelle Inhalt wird wirklichkeitsnah geschildert. Nichts ist an den Haaren herbeigezogen, übertrieben oder gar extremistisch.

Hätte man einen entsprechenden Werbeetat und käme man in die Medien, würde es ein Bestseller werden. Ich habe jedenfalls die ersten 3 Exemplare auf Deutsch schon verschenkt. Vielleicht klappt es ja auch durch Mundpropaganda.

Unbedingte Kaufempfehlung!

Michael B.

7. März 2018 19:24

Koennte hier jemand einen Tip dazu geben, wo das Original zu beziehen ist?
Amazon.de hat nur eine Kindle-Version, co.uk einen Weiterverkauf von Amazon.com. Dort direkt wiederum ist es momentan nicht verfuegbar.

Oder kommt Antaios an die englische Ausgabe heran?

Nils Wegner

7. März 2018 20:54

@ Michael B.:
Nichts einfacher als das. Besuchen Sie die Netzpräsenz des Autors und kontaktieren Sie ihn über seine auf der Startseite angegebene Mailadresse – ich bin sicher, daß er noch ein Exemplar für Sie übrig hat. Eine zweite englischsprachige Auflage ist übrigens bereits angekündigt, aber scheints noch nicht realisiert worden.

Michael B.

8. März 2018 17:31

> Eine zweite englischsprachige Auflage ist übrigens bereits angekündigt

Danke, ich sehe es gerade auf seiner Seite. Geplant Februar 2018 - dann warte ich noch etwas.

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