Dieser grundlegende Wandel im Wesen des Krieges nach über 350 Jahren hat derart umfassende Folgen, daß eine systematische Auseinandersetzung damit und angemessenes Handeln noch immer nirgendwo auf der Welt stattgefunden haben. Das spielt insbesondere dem internationalen Terrorismus in die Hände, der sehr genau um die Verwundbarkeit seiner schwerfälligen und zögerlichen staatlichen Feinde weiß. Daß im Dezember 2001 Kopien des Artikels von Lind im afghanischen Höhlenkomplex Tora Bora gefunden wurden, der als Rückzugsort islamistischer Kämpfer diente, spricht eine deutliche Sprache für die Bedeutung dieser Überlegungen – die wohlgemerkt noch keinerlei Berücksichtigung in den Militärdoktrinen der »westlichen Welt« fanden. Militärische Empfehlungen, die im Seminarrahmen von Lind und Offizieren verschiedener westlicher Staaten erarbeitet wurden, konnten anfangs nur als »Feldhandbücher der k.u.k. österreichisch-ungarischen Marineinfanterie« veröffentlicht werden, weil von offizieller Seite kein Interesse bestand.
Eine beschwichtigende Apostrophierung des IS als bloße »Terrormiliz«, wie sie besonders in deutschen Medien allgegenwärtig ist, verkennt den Charakter dieser beispiellosen Organisation daher vollumfänglich. Denn was ist sie anderes als die bislang wohl ausdifferenzierteste Form eines solchen VNSA, die sich seit ihrem Aufkommen im Jahr 2003 zu einem bemerkenswerten Hybridgebilde entwickelt hat?
Innerhalb des »Kalifats« auf irakischem und syrischem Territorium um das Zentrum Mossul sind, soweit bekannt, alle staatlichen Strukturen ausgebildet worden; es gibt eine Art Regierung unter dem »Kalifen« al-Baghdadi, Judikative, Exekutive, interne Sicherheitsorgane, einen umfangreichen Propagandaapparat sowie ein eigenes Währungssystem und eine tragfähige wirtschaftliche Infrastruktur. Durch das Angebot eines Lebens im Kalifat statt im Untergrund ist der IS für Sympathisanten in aller Welt deutlich attraktiver als etwa al-Qaida. Dabei sind dem Anschluß an die Organisation zur Verhinderung der Infiltration deutliche Hürden vorgeschaltet: Wie die deutsche Fernsehdokumentation Der lange Arm des IS – Terror in Europa berichtete, gibt es eine Art »Generalverwaltung«, die Neuankömmlinge durchleuchtet und der man zum Beitritt einen Bürgen nachweisen muß.
Zusätzlich zu Stellen, die den bewaffneten Kampf vor allem in Syrien koordinierten, gebe es außerdem in Raqqa eine »Kommandogruppe für externe Operationen« (»Emni«) unter der Führung des jüngst getöteten Strategen al-Adnani sowie des Berliners Reda Seyam. Diese geheimdienstartig aufgebaute Gruppe, die spätestens seit Mai 2014 Selbstmordanschläge in Deutschland plane, habe ab Beginn der Flüchtlingskrise 2015 gezielt und massiv Kämpfer nach Europa eingeschleust, die später Attentate verübten und auf ein bereitstehendes Unterstützungsnetzwerk innerhalb der muslimischen Parallelgesellschaften, etwa im belgischen Molenbeek, getroffen seien.
Dieser bemerkenswert offene Bericht, der die immensen Schwächen der europäischen Sicherheitsarchitektur gegenüber der straffen IS-Organisation klar aufzeigte, entstand unter dem Eindruck der Pariser Anschläge vom 13. November 2015 und wurde am 30. Mai 2016 ausgestrahlt. Bundeskriminalamt, Europol und Islamwissenschaftler tun darin ihr Wissen kund und benennen konkret eine »ernstzunehmende Bedrohungslage« – knappe zwei Monate vor den Anschlägen in Deutschland, offenbar ohne Konsequenzen.