Der Geist der Technik und die Macht der Daten

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

In sei­ner viel­be­ach­te­ten Stu­die Der fle­xi­ble Mensch wies der bri­ti­sche Sozio­lo­ge Richard Sen­nett auf fol­gen­des hin: Im zeit­ge­nös­si­schen (digi­ta­len, post­in­dus­tri­el­len) Ent­wick­lungs­sta­di­um des Kapi­ta­lis­mus beherrsch­ten die Kapi­ta­lis­ten nicht nur die Maschi­nen, son­dern ver­füg­ten auch exklu­siv über das tech­ni­sche Wis­sen und kon­trol­lier­ten die Kom­mu­ni­ka­ti­on. Es sei­en dies zwei Strän­ge, die grob als »hart« (Pro­duk­ti­on und das Wis­sen dar­über) und »weich« (Kom­mu­ni­ka­ti­on- und Daten­kon­trol­le) beschrie­ben wer­den könnten.
Man soll­te die­sen Gedan­ken auf­grei­fen und wei­ter­füh­ren: So, wie es zwei unter­schied­li­che und doch kor­re­lie­ren­de Sphä­ren sind, die in Sen­netts Sin­ne von Groß­kon­zer­nen beherrscht wer­den, sind es zwei unter- schied­li­che Ent­wick­lungs­strän­ge des damit ver­bun­de­nen gegen­wär­ti­gen tech­no­lo­gi­schen Fort­schritts, die welt­weit für Unsi­cher­heit und Besorg­nis sorgen.

Denn einer­seits trei­ben ins­be­son­de­re die »Gro­ßen Fünf« – Face­book, Goog­le, Ama­zon, Apple und Micro­soft – die frei­wil­li­ge inte­gra­le Selbst­of­fen­le­gung der Men­schen vor­an. (Jeder soll von allen alles wis­sen kön­nen, nichts bleibt mehr ver­bor­gen, alle sind ver­netzt, die tota­le Trans­pa­renz wird bis­wei­len als ega­li­tä­res, herr­schafts­frei­es Para­dies sti­li­siert – wäh­rend die tat­säch­li­che Kon­trol­le und Wei­ter­ver­wen­dung all der will­fäh­rig preis­ge­ge­be­nen Daten zunächst vor allem den Kon­zer­nen obliegt.) Ande­rer­seits – und auch hier mischen die »Gro­ßen Fünf« mit­er­lebt die Arbeits­ge­sell­schaft einen rasan­ten Wan­del, der ver­mut­lich soeben erst rich­tig Fahrt auf­ge­nom­men hat.

Ver­netz­te Maschi­nen, selbst­ler­nen­de Hoch­leis­tungs­sys­te­me, Künst­li­che Intel­li­gen­zen (KI), kurz: die bedeu­tends­ten Ent­wick­lun­gen der »Indus­trie 4.0« (nach Dampf­ma­schi­ne, Fließ­band und Com­pu­ter) wer­den in der Zukunft zu gra­vie­ren­den Ein­schnit­ten in der glo­ba­len Arbeits­welt füh­ren, haben aber Wur­zeln, die weit zurück reichen.
Carl Schmitt unter­such­te in sei­ner Arbeit über den Nomos der Erde das Ver­hal­ten der eins­ti­gen allei­ni­gen Super­welt­macht Groß­bri­tan­ni­en, deren »Bri­tan­nia rule the waves!« kei­ne bana­le Aus­übung von Hege­mo­nie zugrun­de gele­gen hat­te, son­dern eine raf­fi­nier­te Kunst der Ver­schleie­rung von rea­len Macht­ver­hält­nis­sen. Groß­bri­tan­ni­en wuß­te, daß ein offe­ner Herr­schafts­an­spruch über die Welt­mee­re einer Kriegs­er­klä­rung an ande­re See­fah­rer­na­tio­nen gleich­kä­me. Statt des­sen dekla­rier­te man die Mee­re als eine Sache »aller und nie­man­des« (Res­om­ni­um et nul­li­us) – und übte doch weit­ge­hend die Kon­trol­le dar­über aus, wer wel­che Räu­me nut­zen konnte.

Der Kul­tur­his­to­ri­ker und Sozio­lo­ge Wolf­gang Schi­vel­busch trans­fe­rier­te die­ses Kon­zept der ver­schlei­er­ten See­nah­me in die Sphä­re der digi­ta­len Revo­lu­ti­on und ver­glich die Rol­le der eng­li­schen Flot­te als mit lau­te­ren Absich­ten getarn­ter Akteur der Raum­nah­me im Bereich der Welt­mee­re mit der Rol­le der Kon­zer­ne von heu­te, die mit Geheim­diens­ten koope­rie­ren und – eben­falls mit lau­te­ren Absich­ten ver­schlei­ert – die akti­ve Raum­nah­me im Cyber­space prak­ti­zie­ren. Götz Kubit­schek sprach in die­sem Kon­text von einer »ort­lo­sen Men­ta­li­tät«, die der­ar­ti­gen Stra­te­gien vor­aus­ge­hen müs­se. Man hul­digt kei­nem res­sen­ti­ment­ge­trie­be­nen Anti­ame­ri­ka­nis­mus, wenn man Kubit­scheks Hin­weis um die Fest­stel­lung ergänzt, daß es kei­nen Zufall dar­stellt, wenn alle die Ent­wick­lung der Cyber­space-Raum­nah­me for­cie­ren­den Kon­zern­kräf­te ihren Ursprung und Wir­kungs­schwer­punkt im US-ame­ri­ka­ni­schen Sili­con Val­ley besitzen.

In sei­ner ful­mi­nan­ten Dar­le­gung der Auf­lö­sun­gen aller Bin­dun­gen in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten hat Geor­ge Packer dar­auf hin­ge­wie­sen, daß Ame­ri­ka­ner es gewöhnt sei­en, »allein in einer Land­schaft zu leben, in der nichts Halt­ba­res ist, nichts Fes­tes«. Daher kre­ierten sie leich­ter ihre eige­nen Heils­ver­spre­chen, die Sinn stif­ten und zugleich neue Räu­me erschlie­ßen sollen.

Die­se Men­ta­li­täts­äu­ße­rung ist bereits in der frü­hen Geschich­te der Sied­ler ange­legt. Von ihrem Mythos des uner­schlos­se­nen Rau­mes des 17. und 18. Jahr­hun­derts führt eine direk­te Tra­di­ti­ons­li­nie zum Sili­con-Val­ley-Kapi­ta­lis­mus. Die­se Aus­prä­gung eines schier gren­zen­lo­sen Wachs­tums­stre­bens ent­stand Mit­te des 20. Jahr­hun­derts indes nicht ganz im luft­lee­ren Raum der kali­for­ni­schen Ein­öde; tat­säch­lich wirk­ten die ers­ten IT- und High-Tech-Fir­men in bis heu­te bei­be­hal­te­ner direk­ter Koope­ra­ti­on mit US-Geheim­diens­ten und dem Mili­tär­ap­pa­rat, die das Val­ley früh­zei­tig als frucht­ba­res Expe­ri­men­tier­feld ent­deck­ten. Aus­ge­rech­net die in Kali­for­ni­en reüs­sie­ren­de Hip­pie-Kul­tur begüns­tig­te die rasche Ent­wick­lung als kapi­ta­lis­ti­sche und mili­tär­in­dus­tri­el­le Pio­nier­re­gi­on sogar: Die Zeit der Kom­mu­nen war zugleich die Zeit der Ent­ste­hung der frü­hen Com­pu­ter­welt, sie war geprägt von indi­vi­dua­lis­ti­schem und expe­ri­men­tel­lem Den­ken, das kei­ne Schran­ken kann­te und kei­ne Gren­ze akzeptierte.

Es ist daher kein Zufall, daß sich eini­ge der bedeu­tends­ten und pro­mi­nen­tes­ten IT-Pio­nie­re zwi­schen bei­den Wel­ten beweg­ten. Ste­ve Jobs, der Grün­der App­les, ent­stamm­te bei­spiels­wei­se dem Any­thing- goes-Umfeld der Hip­pie-Bewe­gung; und die Fra­ge ist berech­tigt, ob eini­ge Errun­gen­schaf­ten von Apple, Face­book und Co. über­haupt denk­bar gewe­sen wären, wenn all die Start­ups ihre krea­ti­ven Köp­fe in der Ent­ste­hungs­pha­se nicht unmit­tel­bar aus der bun­ten Welt des Expe­ri­men­tel­len her­aus­ge­löst hät­ten und ihre über­bor­den­de Krea­ti­vi­tät nun öko­no- misch verwerteten.

Dabei ver­lo­ren die erfolg­rei­chen Unter­neh­mer, die von Start-up-Moto­ren zu Kon­zern­lei­tern wur­den – ob nun bei­spiels­wei­se Mark Zucker­berg (Face­book), Ste­ve Jobs (Apple) oder Peter Thiel (Pay­Pal) – nie ver­meint­lich oder tat­säch­lich phil­an­thro­pi­sche Ziel­set­zun­gen aus dem Auge. Wohl­tä­tig­keits­si­mu­la­tio­nen spie­len bis heu­te eine gro­ße Rol­le für die Kon­zern­rie­sen, und es sind nur vor­der­grün­dig die Mil­lio­nen- oder gar Mil­li­ar­den­spen­den, die das bele­gen. Viel stär­ker als Spen­den­be­reit­schaft für sozia­le Zwe­cke ist es der grund­sätz­li­che Welt­ver­bes­se­rer­im­puls, der den digi­ta­len Kapi­ta­lis­mus stützt.

Zucker­berg et al. sind von der Vor­stel­lung beseelt, daß das, was sie tun, ein wesent­li­cher Bei­trag zur Ver­bes­se­rung der Lebens­ver­hält­nis­se auf glo­ba­ler Ebe­ne sei. Daß sie dies als men­schen­freund­li­che Visi­on ver­kau­fen, schließt nicht aus, daß sie gleich­zei­tig knall­hart Geschäfts­in­ter­es­sen ver­tre­ten und Ein­fluß auf poli­ti­sche Ent­schei­dungs­gre­mi­en auf natio­nal­staat­li­cher oder supra­na­tio­na­ler Ebe­ne neh­men. Mit dem Auf­tre­ten der High-Tech-Wohl­tä­tig­keits­ka­pi­ta­lis­ten trat die Fra­ge in die Sphä­re der poli­ti­schen Öko­no­mie, ob es einen Unter­schied mache, wenn die Inter­es­sen, die von den Groß­kon­zer­nen in der Poli­tik ver­tre­ten wer­den, nur pri­vat ego­is­ti­sche sei­en, oder ob zusätz­lich huma­ni­tä­re Ansprü­che dazu­kä­men, ja ob man sich in außer­öko­no­mi­schen Fra­gen anma­ße, mehr zu wis­sen, mehr zu kön­nen, es schlicht­weg bes­ser und effek­ti­ver zu orga­ni­sie­ren als die Poli­ti­ker und die Verwaltung.

Man geht im Sili­con Val­ley also davon aus, Struk­tu­ren schaf­fen zu kön­nen, die es ermög­li­chen, tat­säch­lich bes­ser zu han­deln. Ziel ist es, an bestehen­den demo­kra­ti­schen Insti­tu­tio­nen vor­bei die jewei­li­gen soge­nann­ten Zivil­ge­sell­schaf­ten so zu orga­ni­sie­ren, daß sie in die­je­ni­ge Rich­tung bli­cken und han­deln, die wie­der­um dem Pro­gramm der Fort­schritts­gläu­bi­gen entspricht.

Man soll­te es nicht Mar­xis­ten über­las­sen, die Pro­ble­ma­tik her­aus­zu­strei­chen, daß am Ende der­je­ni­ge Macht hat, der über Geld dis­po­niert (Hans-Jür­gen Jakobs), ja um fest­zu­stel­len, daß das hyper­mo­der­ne Auf­tre­ten der neu­en Kapi­ta­lis­ten noch gefähr­li­cher ist als das klas­si­sche Gewinn­stre­ben der alten gro­ßen Unter­neh­mer, mit denen man sei­tens des Staa­tes Kom­pro­mis­se (Schlich­tun­gen, Ver­ein­ba­run­gen, Abspra­chen usw.) ein­ge­hen konn­te – und die dar­über hin­aus häu­fig ethi­schen (reli­giö­sen, huma­ni­tä­ren) Nor­men folg­ten und an eine gegen­wär­tig über­wie­gend ver­lo­ren­ge­gan­ge­ne hei­mat­li­che Soli­da­ri­tät rück­ge­bun­den waren.

Heu­te hat man es mit einer qua­li­ta­tiv neu­en Dimen­si­on zu tun: Eine Grup­pe von Men­schen glaubt tat­säch­lich, daß alle Pro­ble­me (medi­zi­ni­sche, gesell- schaft­li­che, wirt­schaft­li­che etc.) durch die per­ma­nen­te digi­ta­le Revo­lu­ti­on tech­nisch lös­bar sei­en und daß nur sie über die tech­no­lo­gi­schen Mit­tel und Ideen ver­füg­ten, die­ses gro­ße, die Zukunft der Mensch­heit ver­än­dern­de Pro­jekt zu bewäl­ti­gen. Sie wäh­nen sich mit­hin als Kata­ly­sa­to­ren einer welt­ge­schicht­li­chen Mission.

Diet­mar Dath spot­tet über sol­chen »Rech­ner­mes­sia­nis­mus«, der, wie er selbst ein­räumt, auch Lin­ke jeder Cou­leur befal­len kann. Denn die »alte bür­ger­li­che Erb­sün­de des Glau­bens an einen qua­si natur­ge­setz­li­chen Fort­schritt«, die Dath moniert, ist auch eine die­ser lin­ken »Erb­sün­den«, denen der Glau­ben an die eman­zi­pa­to­ri­sche Kraft der Tech­no­lo­gie inne­wohnt. Eine tech­nik­spe­zi­fi­sche Lek­tü­re des lin­ken Sozia­lis­ten Dath ist daher um die  Lek­tü­re des rech­ten  Sozia­lis­ten Ernst Nie­kisch zu ergän­zen. Jahr­zehn­te vor dem Ent­ste­hen des Sili­con-Val­ley-Kapi­ta­lis­mus und sei­ner dua­len Struk­tur aus Ich­be­zo­gen­heit und Fort­schritts­mis­si­on beton­te Nie­kisch in sei­nem Auf­satz »Men­schen­fres­ser Tech­nik«, daß es die­sel­be Luft sei, »inner­halb deren sich die Ent­fes­se­lung des Indi­vi­dua­lis­mus und die Voll­endung der Tech­nik vollzieht«.

Der »Zug zur Gren­zen­lo­sig­keit« ist die­ser Denk­art imma­nent, die Tech­nik sehe sich, so Nie­kisch vor­aus­bli­ckend, »jeder Auf­ga­be gewach­sen«. Par­al­lel wer­de die Wirt­schafts­pro­duk­ti­on ins Maß­lo­se drän­gen, das Indi­vi­du­um alle Bin­dun­gen leug­nen und kei­ne Gren­zen mehr aner­ken­nen. Wer aber kei­ne Gren­zen der Mach­bar­keit mehr ken­ne, gehe wei­ter, als es statt­haft wäre, der ent­wei­he natür­lich Gewor­de­nes, »denn alles Gewach­se­ne ist ein Begrenz­tes«. Die­sen Vor­wurf rich­tet Nie­kisch nicht nur  an die von ihm vor­weg­ge­nom­me­nen Kapi­ta­lis­ten unse­rer Zeit, son­dern eben­so an deren mar­xis­ti­sche Kri­ti­ker, wie sie heu­te in Per­son von Dath ver­kör­pert wer­den. Nie­kisch bean­stan­de­te bei ihnen einen fol­gen­schwe­ren Fort­schritts­trug­schluß: Sie wür­den dar­an glau­ben, daß man Tech­ni­sie­rung, Ratio­na­li­sie­rung, tech­no­lo­gi­schen Fort­schritt an sich etc. vor­an­trei­ben müs­se. Indem man so hand­le, wür­de man die kapi­ta­lis­ti­sche Gesell­schaft ihrem äußers­ten Punkt näher­brin­gen, wor­auf­hin auf Basis des erreich­ten Fort­schritts ein dia­lek­ti­scher Umschlag folg­te, der den Sozia­lis­mus mit sich brächte.

Nie­kisch bewer­te­te sol­che Denk­scha­blo­nen mit Recht als naiv. Doch eben­so­sehr wand­te er sich gegen die kon­ser­va­ti­ve Sehn­sucht nach einem »Zurück«, das es nicht geben kön­ne, da der »Sie­ges­lauf der Tech­nik über die Erde« unaus­weich­lich sei. Was Nie­kisch gegen das den Fort­schritt antrei­ben­de Duo aus Kapi­ta­lis­mus und Indi­vi­dua­lis­mus stel­len woll­te, war eine Wen­dung hin zum gemein­schaft­li­chen bis kol­lek­ti­vis­ti­schen Den­ken. Das Sowjet­ruß­land sei­ner Tage sah er als leben­di­gen, »plas­tisch-orga­ni­schen« Gegen­pol zum kapi­ta­lis­ti­schen Fort­schritts­prin­zip der tota­len Ent­gren­zung, da sich Lenins Reich der Tech­nik bemäch­tigt habe, aber nicht zuließ, daß sich die Tech­nik sei­ner bemächtigte.

In den  80  Jah­ren  seit  der  Erst­pu­bli­ka­ti­on  die­ses Nie­kisch-Auf­sat­zes hat sich die Welt natür­lich wei­ter­ge­dreht, die Sowjet­uni­on ist zer­fal­len und der Kapi­ta­lis­mus hat sei­nen kol­lek­ti­vis­ti­schen, kom­mu­nis­ti­schen Gegen­spie­ler ver­lo­ren. In Dave Eggers Roman Der Cir­cle betritt nun ein ande­rer schein­ba­rer »Kom­mu­nis­mus« die Büh­ne: der »Infor­ma­ti­ons­kom­mu­nis­mus«. Kon­kret geht es um den fik­ti­ven Rie­sen­kon­zern »Cir­cle«, der alle Berei­che, die bis dato getrennt waren (Social Media, Mail-Accounts, Bezahl­apps etc.), in einem ein­zi­gen Sys­tem ver­eint. Das Pro­gramm »TruY­ou« ist auf dem Prin­zip »ein Kon­to, eine Iden­ti­tät, ein Paß­wort, ein Zah­lungs­sys­tem« pro Per­son aufgebaut.

Die Hand­lung spitzt sich zu, der Cir­cle wächst und wei­tet sich aus, stat­tet Mit­ar­bei­ter mit 24-Stun­den-Cams aus, die ihr gan­zes Leben (frei­wil­lig) offen­le­gen, treibt Wider­stän­di­ge in den Wahn­sinn (oder in den Tod) und übt direk­ten Ein­fluß auf das poli­ti­sche Washing­ton aus. Das Per­fi­de dar­an: alles geschieht frei­wil­lig, Mil­li­ar­den Men­schen wer­den dazu geführt, frei­wil­lig zur Beu­te zu wer­den; die »sys­tem­er­hal­ten­de Macht« ist »nicht mehr repres­siv, son­dern seduk­tiv, das heißt, ver­füh­rend« (Byung-Chul Han). Gab es vor dem Cir­cle die Mög­lich­keit, »aus­zu­stei­gen« aus dem Sys­tem, ist es am Ende des Romans damit vor­bei; der Kreis (Cir­cle) schließt sich, die Voll­endung ist erreicht, jeder trans­pa­rent, alles offen­ge­legt, der tota­li­tä­re Alp­traum Rea­li­tät. Die Erlö­sungs­vor­stel­lung der fik­ti­ven Cir­cle-Jün­ger ist dabei die Erlö­sungs­phan­ta­sie der real­exis­tie­ren­den Kon­zern­rie­sen auf die Spit­ze getrie­ben, der »tech­no­lo­gi­sche Tota­li­ta­ris­mus« (Frank Schirr­ma­cher) in Vollendung.

Der Clou des Cir­cles ist, daß durch die tota­le Offen­le­gung, durch die zum Prin­zip erho­be­ne voll­stän­di­ge Trans­pa­renz jeg­li­ches Wis­sen (auch pri­va­ter und inti­mer Natur) allen gehört, eine per­ver­se Form von »Info­kom­mu­nis­mus«. Eine geläu­ter­te Cir­cle-Mit­ar­bei­te­rin ver­weist am Ende auf die­ses Phä­no­men, denn natür­lich han­delt es sich – in der Theo­rie des Romans wie in der Pra­xis von nur schein­bar kos­ten- und gegen­leis­tungs­lo­sem Face­book und Kon­sor­ten – gera­de dar­um, daß der suk­zes­si­ve erziel­te Info­kom­mu­nis­mus mit puren kapi­ta­lis­ti­schen Ziel­set­zun­gen ein­her­geht. Das Sam­meln von Daten ist ein neu­es Geschäfts­mo­dell, und wer sie ein­schließ­lich der Kom­mu­ni­ka­ti­on der Men­schen kon­trol­liert (und wei­ter­ver­wen­den kann), akku­mu­liert in der Infor­ma­ti­ons­ge­sell­schaft damit unvor­stell­ba­ren Reichtum

Daß das Sam­meln und Aus­wer­ten von aller­hand Daten (Kran­ken­ak­te, Eß- und Sport­ge­wohn­hei­ten, Kauf­ver­hal­ten etc. pp.) die Mög­lich­keit bie­tet, eini­ge Pro­ble­me zu lösen, mag stim­men. Die Gefah­ren wie­gen aber weit­aus schwe­rer als die Vor­tei­le. Denn das grund­sätz­li­che­re Pro­blem ist die pri­va­te Aneig­nung von Daten.

Jene, die heu­te pro­pa­gie­ren, Daten »für den guten Zweck« zu sam­meln, die vor­ge­ben, Armuts­her­aus­for­de­run­gen wären lös­bar durch Daten­steue­rung und dar­auf auf­bau­en­de Pla­nung durch zen­tra­le Kon­zern­stel­len, bil­den zugleich die­sel­ben Krei­se, die sich eine Gesell­schaft jen­seits des ent­hemm­ten Kapi­ta­lis­mus nicht vor­stel­len kön­nen, weil es sich ver­hält wie Alain de Benoist beton­te: Wer ein­mal das Wer­te­ver­ständ­nis die­ser Form des Kapi­ta­lis­mus ange­nom­men hat, kann auf­grund die­ser Beschrän­kung kei­ne grund­le­gen­den Alter­na­ti­ven fin­den. Aus die­sem Grund blei­ben phil­an­thro­pi­sche Bemü­hun­gen von Leu­ten wie Bill Gates, Mark Zucker­berg und ande­ren zweck­los: Es gibt kein rich­ti­ges wohl­tä­ti­ges Ver­hal­ten im fal­schen zugrun­de­lie­gen­den Paradigmensystem.

Wor­um es im 21. Jahr­hun­dert also gehen wird, ist die Rück­erobe­rung des öffent­li­chen Raums. Da es jedoch kei­ne Patent­re­zep­te gibt und die Situa­ti­on des der­zei­ti­gen Fort­schritts eine neu­ar­ti­ge Pro­blem­stel­lung dar­stellt, kann es nur dar­um gehen, ers­te Debat­ten zu ent­fa­chen, wie es jen­seits der Herr­schaft der US-Mono­pol­kon­zer­ne wei­ter gehen könn­te.

Dafür ist die Her­aus­bil­dung einer kri­ti­schen Mas­se von Unzu­frie­de­nen mit dem bestehen­den Daten- und Kon­troll­sys­tem uner­läß­lich. Real­po­li­ti­sche Maß­nah­men sei­tens der Staa­ten­welt wären sogar bereits jetzt mög­lich; ins Kern­ge­schäft der Gro­ßen – also in die Wer­bungs­in­dus­trie – ein­zu­grei­fen, wür­de für Wir­bel sor­gen, denn Daten­samm­lung zum Wei­ter­ver­kauf ist der haupt­säch­li­che Pro­fit­ge­ne­ra­tor. Staat­li­cher­seits gesetz­te Wer­be­ein­schrän­kun­gen wür­den die­se Kon­zer­ne klei­ner machen, gefähr­den, her­aus­for­dern, und damit wäre eine sol­che Ein­schrän­kung die nahe­lie­gen­de pri­mä­re Art der Intervention.

An einem spä­te­ren Punkt müß­te ver­sucht wer­den, in meh­re­ren Staa­ten gleich­zei­tig öffent­li­che Netz-Struk­tu­ren zu schaf­fen, statt das Spiel­feld den Pri­vat­kon­zer­nen zu über­las­sen. Dies setzt jedoch vor­aus, daß vor­her ein kri­ti­sches Bewußt­sein geschaf­fen wird, ja daß gemein­schaft­li­che Auf­klä­rung und Mobi­li­sie­rung durch eini­ge Vor­hut-Akteu­re ein mas­si­ves Umden­ken brei­te­rer Mas­sen her­bei­führt ana­log der eins­ti­gen Umwelt­be­we­gung, die nur weni­ge zehn­tau­send Men­schen mobi­li­sier­te, aber das Bewußt­sein einer gan­zen Gesell­schaft umge­stal­te­te. Nötig ist letzt- end­lich also ein – zum jet­zi­gen Zeit­punkt kaum vor­stell­ba­res – Phä­no­men des Bewußt­seins­wan­dels um hun­dert­acht­zig Grad.

Die­se ers­ten Ansatz­punk­te kön­nen frei­lich nur Dis­kus­sio­nen über den Aspekt von Daten- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­kon­trol­le her­bei­füh­ren. Die Zukunft der Arbeit ist dabei noch gar kein The­ma gewe­sen. Auf die­sem Fel­de ste­hen uns eben­so­sehr weit­rei­chen­de Ver­än­de­run­gen bevor. Vie­le Fra­gen drän­gen sich auf, die man spe­zi­ell sei­tens der euro­päi­schen Staa­ten­welt nicht län­ger igno­rie­ren kön­nen wird. Was pas­siert, um nur ein Bei­spiel anzu­füh­ren, wenn zahl­rei­che Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­se aus  dem unte­ren Qua­li­fi­ka­ti­ons- und Ent­gelt­seg­ment Euro­pas über­flüs­sig wer­den durch Robo­ter oder Künst­li­che Intel­li­gen­zen, aber die Flücht­lings­be­we­gun­gen noch mehr poten­ti­el­le Ange­hö­ri­ge »unte­rer Schich­ten« mit sich bringen?

Hier ist einer­seits vor­stell­bar, daß die mas­sen­haf­te Zuwan­de­rung von Men­schen, die bereit­wil­lig pre­kä­rer Beschäf­ti­gung nach­ge­hen (müs­sen), zu bestimm­ten Ratio­na­li­sie­run­gen führt, daß man also ein­zel­ne tech­no­lo­gi­sche Errun­gen­schaf­ten gar nicht ein­setzt, weil es teu­rer wäre, die Tech­nik zu ver­wen­den, als die güns­ti­gen neu hin­zu­ge­kom­me­nen Arbeits­kräf­te zu nut­zen. Ande­rer­seits sind in die­sem Beritt ers­te Über­le­gun­gen auch sei­tens der Kapi­ta­lis­ten­klas­se zu bewer­ten, die sich – etwa in Per­son von Groß­un­ter­neh­mer Götz Wer­ner (dm-Dro­ge­rie) oder Spit­zen­ma­na­gern wie Timo­theus Hött­ges (Tele­kom) – posi­tiv über ein bedin­gungs­lo­ses Grund­ein­kom­men (BGE) äußern.

Auch Akteu­re mil­li­ar­den­schwe­rer Kon­zer­ne wis­sen, daß nicht für alle schlecht qua­li­fi­zier­ten Migran­ten (und Ein­hei­mi­schen) »Jobs« zu schaf­fen sind. Zahlt man jedem ein­zel­nen jedoch ein BGE aus, des­sen Höhe kon­tro­vers dis­ku­tiert wird, so legt das­je­ni­ge Pre­ka­ri­at quan­ti­ta­tiv zu, das zwar aus­ge­schlos­sen von gesell­schaft­li­cher Teil­ha­be ist, aber durch die Mög­lich­keit des Kon­su­men­ten­da­seins poli­tisch neu­tra­li­siert wird. Dar­an anschlie­ßen­de Über­le­gun­gen eher tra­di­tio­nell argu­men­tie­ren­der Lin­ker, hier könn­te die »Klas­se an sich« eine »Klas­se für sich« wer­den, ja hier könn­te eine neue Alli­anz der Aus­ge­beu­te­ten ent­ste­hen zwi­schen den auto­chtho­nen »Über­flüs­si­gen« und den impor­tier­ten, krankt an man­geln­dem Sinn für die objek­ti­ven wie sub­jek­ti­ven Realitäten.

Des­sen­un­ge­ach­tet haben nicht­ka­pi­ta­lis­ti­sche Rech­te und Tei­le der Lin­ken vor allem die Absa­ge an Trans­hu­ma­nis­mus und an den Glau­ben tota­ler Mach­bar­keit gemein; sie ver­tre­ten bei­de Stand­punk­te auf Basis der Annah­me, daß der Mensch mehr ist als nur Schmier­mit­tel der kapi­ta­lis­ti­schen Maschi­ne­rie. In einem Ent­wick­lungs­sta­di­um eben­die­ser Maschi­ne­rie, das geprägt ist von Ver­ein­ze­lungs­pro­zes­sen und Gemein­schafts­si­mu­la­ti­on durch »sozia­le Medi­en«, wer­den die Men­schen über kurz oder lang wie­der stär­ker nach ech­tem Halt und Bin­dung suchen.

Die Rück­kehr des »Wir«-Gedankens samt soli­da­ri­scher Basis ist die größ­te Gefahr für das kapi­ta­lis­ti­sche Prin­zip des uni­ver­sel­len Ego­is­mus. Ein »Regime, das Men­schen kei­nen tie­fen Grund gibt, sich umein­an­der zu küm­mern, kann sei­ne Legi­ti­mi­tät nicht lan­ge auf­recht­erhal­ten«, wie Richard Sen­nett unter­strich. Es gilt daher, auf unter­schied­li­chen Ebe­nen und mit unter­schied­li­chen Akteu­ren in Rich­tung einer »Gemein­schaft für­ein­an­der täti­ger Sub­jek­te« (Axel Hon­neth) als Gegen­er­zäh­lung zum Sili­con-Val­ley- basier­ten Tech­no­kra­ten-Indi­vi­dua­lis­mus hinzuarbeiten.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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