Autorenporträt Alexis de Tocqueville

Michael Wiesberg

Michael Wiesberg ist Lektor und freier Publizist.

Kein Gerin­ge­rer als der Phi­lo­soph Wil­helm Dil­they, der »Vater der Her­me­neu­tik«, urteil­te über das Werk von Alexis Comte de Toc­que­ville, daß er der »Ana­ly­ti­ker unter den geschicht­li­chen For­schern sei­ner Zeit« sei, »und zwar unter allen Ana­ly­ti­kern der poli­ti­schen Welt der größ­te seit Aris­to­te­les und Machia­vel­li«. Es war vor allem eine Arbeit, die Toc­que­ville bis heu­te zu einem Begriff macht, näm­lich sein in den Jah­ren 1835 und 1840 in zwei Tei­len ver­öf­fent­lich­tes Werk Über die Demo­kra­tie in Ame­ri­ka, das bald auch aus dem Fran­zö­si­schen in alle wich­ti­gen euro­päi­schen Spra­chen über­setzt wurde.

Die­se kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit der Demo­kra­tie, deren Sie­ges­zug er als unum­kehr­bar ansah, gehört heu­te zu den Klas­si­kern der moder­nen Sozio­lo­gie. Arnold Geh­len und David Ries­man etwa erblick­ten in dem Ame­ri­ka-Buch Toc­que­vil­les die ers­te fun­dier­te Ana­ly­se der ega­li­tä­ren Mas­sen­de­mo­kra­tie. Die­se kön­ne  zu einem tota­li­tä­ren Sys­tem ent­ar­ten, zu einem »Des­po­tis­mus neu­er Art«, des­sen Kon­tu­ren in Anknüp­fung an Toc­que­ville unter ande­rem der His­to­ri­ker Jacob Tal­mon in sei­nen Arbei­ten über die »tota­li­tä­re Demo­kra­tie« aus­buch­sta­biert hat.

Als Toc­que­ville sei­ne sub­ti­len Betrach­tun­gen zu Papier brach­te, herrsch­te der »Bür­ger­kö­nig« Lou­is-Phil­ip­pe I., der nach der Juli­re­vo­lu­ti­on des Jah­res 1830 auf den gestürz­ten letz­ten Bour­bo­nen Karl X. folg­te. Der stu­dier­te Jurist Toc­que­ville, der der Peti­te nobles­se, dem Land­adel der Nor­man­die, ent­stamm­te, war in die­ser Zeit Unter­su­chungs­rich­ter am Gericht von Ver­sailles. Ende der 1820er Jah­re hat­te er vom fran­zö­si­schen Jus­tiz­mi­nis­te­ri­um den Auf­trag erhal­ten, das Rechts­sys­tem und die Refor­men im Straf­voll­zug in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka zu untersuchen.

Er trat die Rei­se nach Ame­ri­ka, die von Mai 1831 bis Ende Febru­ar 1832 dau­ern soll­te, in Beglei­tung sei­nes Freun­des Gust­ave de Beau­mont an, in die­ser Zeit Pro­ku­ra­tor des Königs am erst­in­stanz­li­chen Gericht in Ver­sailles. Toc­que­ville und Beau­mont hat­ten ihre »gefäng­nis­kund­li­che Ame­ri­ka­rei­se«, so der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Mat­thi­as Boh­len­der, pro­fes­sio­nell vor­be­rei­tet und führ­ten in den USA ihre For­schungs­ar­beit zum Bei­spiel anhand eines vor­her erar­bei­te­ten Fra­ge­ras­ters und mit der neu­es­ten Inter­view­tech­nik akri­bisch durch. Sie rezi­pier­ten Sta­tis­ti­ken, Berich­te und Re- gis­ter, die ihnen zur Ver­fü­gung gestellt wur­den. Ihr gemein­sa­mes, Anfang 1833 ver­öf­fent­lich­tes Gut­ach­ten über das ame­ri­ka­ni­sche Gefäng­nis­we­sen wur­de mit dem Prix Mon­tyon der Aca­dé­mie fran­çai­se ausgezeichnet.

Die­ses pro­fes­sio­nel­le Vor­ge­hen ver­dient des­halb eine etwas nähe­re Betrach­tung, weil es auch Rück­schlüs­se auf ihre Urteils­fä­hig­keit im Hin- blick auf die damals noch jun­ge ame­ri­ka­ni­sche Demo­kra­tie zuläßt, der ihr Pri­vat­in­ter­es­se galt. Er habe dort, so Toc­que­ville, ein Bild der rei­nen Demo­kra­tie gesucht: »Ich woll­te sie ken­nen­ler­nen, und sei es nur, um we- nigs­tens zu erfah­ren, was wir von ihr zu erhof­fen oder zu befürch­ten haben«. Beau­mont und Toc­que­ville hat­ten die Ära der Prä­si­dent­schaft Andrew Jack­sons (Stich­wort: Jack­so­ni­an demo­cra­cy) vor Augen, in der Han­del und Indus­trie boom­ten und die USA am Beginn einer aus­grei­fen­den Pha­se der Expan­si­on stan­den, die die Gren­ze (Fron­tier) nicht nur geo­gra­phisch, son­dern auch indus­tri­ell und demo­kra­tisch immer wei­ter verschob.

Jack­sons Prä­si­dent­schaft wur­de eher zwie­späl­tig beur­teilt, der Poli­ti­ker als poli­ti­scher Taschen­spie­ler, aber auch als bür­ger­na­her Poli­ti­ker cha­rak­te­ri­siert, in den ins­be­son­de­re die »klei­nen Leu­te« Ver­trau­en setzten.

Die bei­den Fran­zo­sen tra­fen etli­che Ame­ri­ka­ner von Rang und Namen; Toc­que­ville fer­tig­te über die­se Begeg­nun­gen bis hin zu wort­wört­li­chen Zita­ten Auf­zeich­nun­gen an, und nicht nur Per­sön­lich­kei­ten des »Estab­lish­ments« in den Städ­ten gehör­ten zu sei­nen Gesprächs­part­nern, son­dern auch Sied­ler, Fal­len­stel­ler oder India­ner. Sei­ne Ein­drü­cke leg­te er 1831 in dem Buch Quin­ze jours au désert (dt. In der nord­ame­ri­ka­ni­schen Wild­nis [1953] bzw. Fünf­zehn Tage in der Wild­nis [2013]) vor. Er por­trä­tiert einen »kal­ten und lei­den­schaft­li­chen« Men­schen­schlag, »der mit allem han­delt, Moral und Reli­gi­on nicht aus­ge­nom­men; ein Volk von Erobe­rern«, das von einem Ziel beses­sen ist, näm­lich dem »Erwerb von Reichtum«.

Ende Febru­ar 1832 tra­fen Beau­mont und Toc­que­ville wie­der in Frank­reich ein und leg­ten in der Fol­ge ihre rich­ter­li­chen Ämter nie­der. 1835 erschien dann der ers­te Teil der Démo­cra­tie en Amé­ri­que – das Buch gilt als Haupt­werk Toc­que­vil­les und mach­te ihn mit einem Schlag bekannt. Im sel­ben Jahr ver­öf­fent­lich­te er im übri­gen auch eine Arbeit über Das Elend der Armut, die heu­te zu den Klas­si­kern der Armuts­for­schung gezählt wird. Er geht hier das Phä­no­men der Mas­sen­ar­mut im Zuge der ein­set­zen­den Indus­tria­li­sie­rung mit der glei­chen intel­lek­tu­el­len  Schär­fe an, die in sei­ne berühm­ten Schrif­ten aus­zeich­net, und beweist ein­mal mehr erstaun­li­che Weit­sicht, wenn er kri­tisch die Fol­gen der gesetz­li­chen Armen­un­ter­stüt­zung reflek­tiert, deren Effek­te er zwie­späl­tig beurteilt.

Toc­que­ville blieb nicht nur distan­zier­ter Beob­ach­ter der poli­ti­schen Ver­hält­nis­se: 1839 wur­de er Mit­glied der Natio­nal­ver­samm­lung, nach der Febru­ar­re­vo­lu­ti­on 1848 Mit­glied der Kam­mer­kom­mis­si­on für die neue repu­bli­ka­ni­sche Ver­fas­sung und im Som­mer 1849 war er sogar für fünf Mona­te Außen­mi­nis­ter Frank­reichs. Grö­ße­re poli­ti­sche Spu­ren indes hin­ter­ließ er nicht; er selbst bekann­te, als Den­ker »mehr wert« zu sein denn als »Täter«. Die letz­ten Jah­ren sei­nes Lebens – er ver­starb 1859 in Can­nes – wid­me­te er sei­nem unvoll­endet geblie­be­nen Alters­werk Der alte Staat und die Revo­lu­ti­on, des­sen ers­ter Teil 1856 ver­öf­fent­licht wur­de; die Arbeit gilt als ers­te sozio­lo­gi­sche Unter­su­chung zum Anci­en régime. 34 Jah­re nach sei­nem Tod erschie­nen 1893 Toc­que­vil­les Erin­ne­run­gen, die vor allem um die Revo­lu­ti­on von 1848, ihre Vor­ge­schich­te und die Gegen­re­vo­lu­ti­on krei­sen. Zum Rang die­ser nach­ge­las­se­nen Auf­zeich­nun­gen, die eigent­lich nicht für die Öffent­lich­keit gedacht waren, schrieb Carl Schmitt, man erken­ne Toc­que­ville am bes­ten »in sei­nen Sou­ve­nirs«: Kein His­to­ri­ker habe »etwas ähn­li­ches auf­zu­wei­sen wie Toc­que­ville mit die­sem wun­der­vol­len Buch.« Auch die­ser Nach­laß unter­streicht sei­nen Rang als scharf­sin­ni­ger Beob­ach­ter der Zeit­läuf­te, der auch win­zigs­te Wahr­neh­mungs­de­tails reflektiert.

Die ega­li­tä­re ame­ri­ka­ni­sche Demo­kra­tie, die Anfang der 1830er Jah­re noch aus 24 Ein­zel­staa­ten bestand, faß­te Toc­que­ville als eine Art Ide­al­typ der Demo­kra­tie auf, gelang es hier doch zum ers­ten Mal in der Geschich­te, eine Demo­kra­tie in einem gro­ßen Flä­chen­staat zu eta­blie­ren, ein Gegen­mo­dell zur alten stän­di­schen Ord­nung in Euro­pa. Der Fokus der Betrach­tung lag bei Toc­que­ville auf der Fra­ge, was die fran­zö­si­sche Eli­te von der Demo­kra­tie in Ame­ri­ka ler­nen könn­te, um sta­bi­le Ver­hält­nis­se in Frank­reich her­stel­len zu können.

Bür­ger­li­che Gleich­heit, freie Wah­len der Reprä­sen­tan­ten des Vol­kes, das Enga­ge­ment der Bür­ger in öffent­li­chen Ange­le­gen­hei­ten und Rechts­si­cher­heit sowie die Fra­ge, »wie der sich im All­tag mani­fes­tie­ren­de Geist der Geset­ze die poli­ti­sche Ord­nung prägt« (Karl-Heinz Brei­er), waren Säu­len, die aus sei­ner Sicht auch in Euro­pa Garan­ten für Sta­bi­li­tät sein könnten.

Im ers­ten Buch lie­fert Toc­que­ville eine Dar­stel­lung der insti­tu­tio­nel- len und ver­fas­sungs­recht­li­chen Grund­la­gen der Demo­kra­tie in Ame­ri­ka, die auf­grund ihrer Ver­fas­sung und mit­tels loka­ler Selbst­ver­wal­tung einen Aus­gleich zwi­schen der For­de­rung nach poli­ti­scher Mit­be­stim­mung und dem Schutz vor staat­li­chen Ein­grif­fen in die Pri­vat­sphä­re her­zu­stel­len ver­mö­ge. Föde­ra­lis­mus, dezen­tra­le Ver­wal­tung und inter­me­diä­re Instan- zen sicher­ten in Ame­ri­ka die Frei­heit nach innen ab. Hier­aus erge­ben sich die Vor­zü­ge, die Toc­que­ville her­aus­ar­bei­tet: Zum einen könn­ten Feh­lent- wick­lun­gen, wie sie der fran­zö­si­sche Zen­tra­lis­mus her­vor­ge­bracht hat­te, ver­mie­den wer­den. Die begrenz­te Amts­dau­er gewähl­ter Funk­ti­ons­trä­ger garan­tie­re, daß Feh­ler kor­ri­giert wer­den könn­ten; gegen die Anma­ßun- gen der Regie­ren­den gebe es insti­tu­tio­nel­le Siche­run­gen, der Bür­ger­geist wer­de durch viel­fäl­ti­ge poli­ti­sche Teil­ha­be gestärkt. Nicht zuletzt wer­de etli­chen Bür­gern die Mög­lich­keit eröff­net, zu Wohl­stand zu kommen.

Des­sen­un­ge­ach­tet kommt Toc­que­ville auch auf die Schwä­chen demo­kra­ti­scher Ver­faßt­heit zu spre­chen, in deren Mit­tel­punkt das vola­ti­le Ver­hält­nis von Gleich­heit und Frei­heit steht. Toc­que­ville arbei­tet damit als einer der ers­ten, wenn nicht über­haupt als ers­ter her­aus, daß die Demo­kra­tie (die mit dem Anspruch ein­her­geht, die frei­es­te poli­ti­sche Ord­nung zu sein, da ihre Ent­schei­dungs­fin­dungs­pro­zes­se auf der Grund­la­ge der Gleich­be­rech­ti­gung und Gleich­ge­wich­tung jeder Stim­me fußen) For­men von Unfrei­heit aus­bil­den kön­ne, weil das Regie­ren im Namen der nume­ri­schen Mehr­heit auf Kos­ten der indi­vi­du­el­len Frei­heit gehen könne:

»Die Gleich­heit löst näm­lich zwei Ten­den­zen aus: die eine führt die Men­schen gera­de­wegs zur Frei­heit und kann sie auch plötz­lich in die Anar­chie trei­ben; die ande­re lei­tet sie auf län­ge­rem, ver­schwie­ge­rem, aber siche­rem Wege in die Knecht­schaft.« En pas­sant: Der Staats­rechts­leh­rer Wal­ter Leis­ner – neben dem Hohen­hei­mer Eme­ri­tus Klaus Hor­nung einer der rüh­rigs­ten Toc­que­ville-Rezi­pi­en­ten im kon­ser­va­ti­ven Spek­trum, den Robert Hepp ein­mal als »deut­schen Toc­que­ville« bezeich­net hat – hat die Kon­se­quen­zen des Gleich­heits­pos­tu­lats und sei­ner macht­ver­stär­ken­den Effek­te unter ande­rem in sei­nem (weit­hin unge­le­se­nen) Buch Der Gleich­heits­staat durch­de­kli­niert.

Schwä­chen im demo­kra­ti­schen Sys­tem macht Toc­que­ville im wei­te­ren auch im Hin­blick auf die Füh­rungs­aus­le­se aus (kom­pe­ten­te Füh­rungs­per­sön­lich­kei­ten ent­schie­den sich oft gegen eine poli­ti­sche Kar­rie­re, um in der Wirt­schaft zu reüs­sie­ren), in der »fie­ber­haf­ten Erre­gung«, die durch häu­fi­ge Wah­len ent­ste­he, in der Auf­blä­hung der öffent­li­chen Aus­ga­ben, um sich das Wohl­wol­len der Wäh­ler zu sichern, im Ver­fol­gen ego­is­ti­scher Zie­le durch klei­ne­re Par­tei­en, die die »Trans­mis­si­ons­rie­men des demo­kra­ti­schen Sys­tems für eige­ne Zwe­cke« (Oli­ver Hidal­go) nutz­ten und vor allem im Sin­ne von Kli­en­telin­ter­es­sen agier­ten, und schließ­lich im Kon­for­mi­täts­druck im Den­ken, der durch die »öffent­li­che Mei­nung« erzeugt werde.

Toc­que­vil­les Blick auf die Ver­ei­nig­ten Staa­ten war mit­be­stimmt von der Lage in Frank­reich, die seit 1789 zwi­schen Restau­ra­ti­on und Revo­lu­ti­on oszil­lier­te; nach dem gewalt­sam her­bei­ge­führ­ten Ende des abso­lu­tis­ti­schen Sys­tems konn­ten weder eine sta­bi­le Herr­schafts­ord­nung eta­bliert noch der Zen­tra­lis­mus ein­ge­dämmt oder demo­kra­ti­sche Rech­te ab- gesi­chert wer­den. Der fran­zö­si­sche Zen­tra­lis­mus, des­sen Kon­tu­ren er vor allem in sei­ner Arbeit Der alte Staat und die Revo­lu­ti­on nach­ge­zeich­net hat, führ­te dazu, daß der Bür­ger sich nicht mehr für das Schick­sal und die Inter­es­sen sei­ner Gemein­de inter­es­sier­te und ihm das poli­ti­sche Leben gleich­gül­tig wurde.

Im zwei­ten Buch unter­nimmt Toc­que­ville eine grund­sätz­li­che Unter­su­chung der Staats­form Demo­kra­tie und stellt sie in Bezie­hung zu den Sit­ten (Mœurs) der Men­schen, die für ihn ein zen­tra­ler Fak­tor im Hin­blick auf die Imple­men­tie­rung und Dau­er­haf­tig­keit einer Demo­kra­tie dar­stel­len. Ein Groß­teil des zwei­ten Bands kreist des­halb um die Bedeu­tung der bür­ger­li­chen Tugen­den, die im Deut­schen mit »Sit­ten« nur unzu­rei­chend wie­der­ge­ge­ben wer­den kön­nen. Der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Micha­el Her­eth defi­niert Mœurs als den »gesam­ten Kos­mos der Denk‑, Verhaltens‑, Debat­tier- und Inter­pre­ta­ti­ons­wei­sen«, die »kon­sti­tu­tiv für die Eigen­hei­ten einer jeden Gesell­schaft« sind. Sie sei­en ent­schei­dend für die Funk­ti­ons­fä­hig­keit und Sta­bi­li­tät der Demo­kra­tie in den USA.

Der christ­li­chen Reli­gi­on schreibt Toc­que­ville mit Blick auf die Mœurs eine star­ke Prä­ge­kraft zu, was, wie Her­eth her­aus­streicht, der Ver­brei­tungs­fä­hig­keit demo­kra­ti­scher Ord­nung Gren­zen setzt. Eine Ein­sicht, die wäh­rend so man­cher jün­ge­ren US-Prä­si­dent­schaft, in der das ame­ri­ka­ni­sche Demo­kra­tie­ver­ständ­nis als Art Mor­gen­ga­be für eine glo­ba­li­sier­te Welt betrach­tet wur­de, über­gan­gen wurde.

Toc­que­ville leis­te­te auch Pio­nier­ar­beit, indem er das Phä­no­men des Indi­vi­dua­lis­mus und der Bin­dungs­lo­sig­keit des Indi­vi­du­ums einer aus­führ­li­chen Betrach­tung unter­zog. Der Poli­to­lo­ge Oli­ver Hidal­go hat in die­sem Zusam­men­hang dar­auf hin­ge­wie­sen, daß Toc­que­ville die »zuneh­men­de Ato­mi­sie­rung der Bür­ger« und die »um sich grei­fen­de poli­ti­sche Apa­thie«, die er mit Blick auf die moder­ne Demo­kra­tie dia­gnos­ti­ziert, als »Indi­vi­dua­lis­mus« kenn­zeich­net, der den ein­zel­nen dazu brin­ge, das Gemein­we­sen sich selbst zu überlassen.

Ein Effekt die­ses Phä­no­mens besteht in der Über­tra­gung der Lösung poli­ti­scher und sozia­ler Pro­ble­me auf die Büro­kra­tie. Das wie­der­um führt zu einem eng­ma­schi­gen Netz aus Ver­wal­tungs­vor­schrif­ten, die letzt­lich jed­we­de sozia­le Tätig­keit erfaß­ten. Je unmün­di­ger aber das Indi­vi­du­um sei, des­to grö­ßer wer­de sei­ne Abhän­gig­keit von der staat­li­chen Zentralgewalt.

Bei der Erör­te­rung der Fra­ge, wel­cher Tugen­den es bedarf, damit der ein­zel­ne sei­ne ego­is­ti­sche Per­spek­ti­ve über­win­det, rekur­riert Toc­que­ville vor allem auf die Reli­gi­on, kon­kret auf den christ­li­chen Glau­ben, der einer der Fak­to­ren sei, um eine grö­ße­re Affi­ni­tät zum Gemein­we­sen her­zu­stel­len. Kein demo­kra­ti­sches Gemein­we­sen kön­ne auf die Reli­gi­on als sinn­stif­ten­de Quel­le der Moral ver­zich­ten. Wie Hidal­go her­aus­streicht, zei­ge Toc­que­ville hier nicht nur sei­ne Nähe zu kon­ser­va­ti­ven Köp­fen wie Edmund Bur­ke oder Joseph de Maist­re, son­dern argu­men­tie­re auch ana­log zum bekann­ten Dik­tum von Ernst-Wolf­gang Böcken­för­de, wonach der libe­ral­de­mo­kra­ti­sche Staat von Vor­aus­set­zun­gen lebe, die er selbst nicht garan­tie­ren könne.

Wel­chen Weg eine Demo­kra­tie letzt­lich nimmt, ob in Rich­tung Frei­heit oder Des­po­tis­mus, hängt nach Toc­que­ville also auch von der Fra­ge ab, ob es ihr gelingt, den Indi­vi­dua­lis­mus ein­zu­däm­men oder nicht. Die­se Alter­na­ti­ve führt zu der zen­tra­len Ein­sicht, daß der­je­ni­ge, der »nicht gläu­big« sei, »hörig« wer­de, und der­je­ni­ge, der »frei« sei, »gläu­big sein muß«. Ohne Reli­gi­on mag sich, so resü­miert Oli­ver Hidal­go, weder eine Ver­mitt­lung zwi­schen pri­va­ten und poli­ti­schen Inter­es­sen noch ein Zusam­men­ge­hö­rig­keits­ge­fühl einstellen.

Als »vor­po­li­ti­scher Glau­be« (Hidal­go), der auf die Sit­ten und das Ver­hal­ten der Bür­ger ein­wir­ke, kön­ne die Reli­gi­on – Toc­que­ville läßt hier im übri­gen eine ein­deu­ti­ge Prä­fe­renz für  den hier­ar­chisch gepräg­ten Katho­li­zis­mus gegen­über dem eher indi­vi­dua­lis­tisch aus­ge­rich­te­ten Pro­tes­tan­tis­mus erken­nen – auch auf das Agie­ren der poli­ti­schen Prot­ago­nis­ten ein­wir­ken. Ohne das Kor­rek­tiv der Reli­gi­on besteht die Gefahr, daß die Ent­wick­lung immer wei­ter in Rich­tung »des­po­ti­scher« Ver­wal­tung vor­an­schrei­tet, die im Zusam­men­spiel mit der »öffent­li­chen Mei­nung« mehr und mehr letz­te Auto­ri­tät beansprucht.

Der Leser mag an die­ser Stel­le ent­schei­den, wie er die­sen Befund aus­füllt. Anschau­ungs­ma­te­ri­al lie­fert zum Bei­spiel die Regu­lie­rungs­wut der EU-Büro­kra­tie bis hin zur berühm­ten Krüm­mung der Gur­ke, aber auch die Rund­um­be­treu­ungs­ma­schi­ne, die sich deut­scher Staat nennt, der dem Bür­ger sogar vor­schreibt, wie er »rich­tig«(= poli­tisch kor­rekt) zu den­ken, schrei­ben und wäh­len hat.

Michael Wiesberg

Michael Wiesberg ist Lektor und freier Publizist.

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