Revolutionäre Realpolitik von rechts?

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Alle poli­ti­schen Bewe­gun­gen, die auf wirk­li­che und nach­hal­ti­ge Ver­än­de­rung gesell­schaft­li­cher Ver­hält­nis­se abzie­len, sehen sich mit dem Span­nungs­ver­hält­nis von Nah- und Fern­ziel kon­fron­tiert. Die radi­ka­le Lin­ke arbei­tet sich an die­ser Dia­lek­tik spä­tes­tens seit Rosa Luxem­burgs viel­dis­ku­tier­tem Grund­la­gen­ar­ti­kel über Karl Marx (erschie­nen im März 1903) ab und zwar tra­di­tio­nell so, daß es zu Frik­tio­nen und Abspal­tun­gen kommt.

Den­noch hat sie einer­seits einen Wis­sens­vor­sprung, inso­fern sie auf einen Fun­dus ent­spre­chen­der Refle­xio­nen bau­en kann. Ande­rer­seits hat ihr welt­an­schau­li­cher Anti­po­de, die poli­ti­sche Rech­te, wie so oft in die­sen Tagen, einen nicht zu unter­schät­zen­den Vor­teil: Sie kann auch in die­sem so ele­men­ta­ren Kon­text von vorn begin­nen, ohne über Jahr­zehn­te ver­här­te­te Front­li­ni­en, dok­tri­nä­re »Wahr­hei­ten« und ideo­lo­gi­sche Rei­be­rei­en mit sich tra­gen zu müs­sen, die auf der Lin­ken Legi­on sind und das Beschrei­ten oder auch nur blo­ße Erwä­gen neu­er Wege natur­ge­mäß erschweren.

Bei den Rech­ten, im Bereich des kon­ser­va­ti­ven Lagers im spe­zi­el­len, domi­nier­te lan­ge ein tra­di­tio­nel­ler Stand­punkt, der, grosso modo und in ver­schie­de­nen Abstu­fun­gen auf­tre­tend, von reak­ti­ven Zügen gekenn­zeich­net war und im gro­ßen und gan­zen vor­sah, daß man exis­tie­ren­de Din­ge bewah­ren müs­se, Ent­wick­lun­gen, die man nicht stop­pen kön­ne, zumin­dest ver­zö­gern soll­te, daß man fer­ner danach streb­te, grund­sätz­li­che gesell­schaft­li­che Pro­zes­se zu ver­lang­sa­men oder zu kor­ri­gie­ren, aber sie nicht fun­da­men­tal in Fra­ge zu stel­len, weil man sich sonst – je nach Inten­si­tät der all­fäl­li­gen Kri­tik – dem Ver­dacht des uto­pi­schen Den­kens, des Radi­ka­lis­mus, der schar­fen »Links«- oder aber »Rechts­ab­wei­chung« aus­ge­setzt hätte.
Die­ser reak­tiv-kon­ser­va­ti­ve Grund­im­puls ist statt­haft und nach­voll­zieh­bar in »nor­ma­len« Zei­ten. Indes, in sol­chen leben wir nicht. Mit Ver­lang­sa­mung und Behut­sam­keit, Sach­lich­keit und nüch­ter­ner Beob­ach­tung bei mode­ra­ten Kor­rek­tur­vor­schlä­gen wur­de noch kei­ne ein­schnei­den­de und mul­ti­ple Kri­sen­si­tua­ti­on (und in einer sol­chen leben wir, allen Beschwich­ti­gun­gen der poli­ti­schen Klas­se zum Trotz, seit Jah­ren) ana­ly­siert, geschwei­ge denn ansatz­wei­se gelöst.
Nötig ist nun, so die The­se, die »Dia­lek­tik von Nah- und Fern­ziel« (Frig­ga Haug) von rechts ins Visier zu neh­men, um schritt­wei­se das Grund­ge­rüst einer welt­an­schau­li­chen Posi­tio­nie­rung zu erar­bei­ten, das die ver­meint­lich und tat­säch­lich wider­strei­ten­den Ele­men­te aus Meta- und Real­po­li­tik, Revo­lu­ti­on und Reform, Fun­da­men­tal­op­po­si­ti­on und Regie­rungs­al­ter­na­ti­ve (etc. pp.) nicht einem Ent­we­der-Oder aus­setzt, son­dern in einen grö­ße­ren Zusam­men­hang stellt, der dann als Aus­gangs­ba­sis für anzu­stre­ben­de wirk­mäch­ti­ge Ver­än­de­run­gen in Gesell­schaft, Wirt­schaft und Poli­tik die­nen kann. Dabei bie­tet es sich an, zunächst zu den Ursprün­gen der Dis­kus­si­on zu bli­cken. Rosa Luxem­burg griff Anfang des 20. Jahr­hun­derts die For­mel der »Revo­lu­tio­nä­ren Real­po­li­tik« auf.

Die damals bereits voll­zo­ge­ne Spal­tung der Arbei­ter­be­we­gung in ein refor­mis­tisch-par­la­men­ta­ri­sches Lager auf der einen und in ein revo­lu­tio­nä­res Spek­trum auf der ande­ren Sei­te woll­te sie mit dem nur schein­ba­ren Para­do­xon der revo­lu­tio­när-real­po­li­ti­schen Syn­the­se auf­he­ben. Real­po­li­tik bei Luxem­burg meint »bür­ger­li­che« Poli­tik, die das Mach­ba­re in den Fokus stellt, also sich in der Wahl der Mit­tel und der Zie­le für defen­si­ve und »rea­lis­ti­sche« Ansät­ze entscheidet.

Dem­ge­gen­über pla­ziert sie revo­lu­tio­nä­re Poli­tik im Sin­ne Mar­xens als »sozia­lis­ti­sche Poli­tik«, die ein- schnei­den­de Ver­än­de­run­gen her­bei­füh­ren will, um am Ende der Bemü­hun­gen die gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se grund­le­gend neu zu gestal­ten. Luxem­burg stellt sich gegen Auf­fas­sun­gen der refor­mis­ti­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie (um Kaut­sky, Bern­stein etc.), qua Wah­len die gerech­te Gesell­schaft jen­seits des Kapi­ta­lis­mus zu errei­chen, posi­tio­niert sich aber zu- gleich gegen rei­ne, gewis­ser­ma­ßen machia­vel­lis­ti­sche Revo­lu­ti­ons­apos­tel. (Es ist dies, neben­bei, Ansatz für eine Kon­flikt­li­nie, die Luxem­burg eini­ge Jah­re spä­ter in Wider­spruch zu Lenins Bol­sche­wi­ki brin­gen wird.)
Mit ent­schei­dend für Luxem­burgs wesent­li­ches Ver­ständ­nis not­wen­di­ger revo­lu­tio­nä­rer Real­po­li­tik ist ihre von Marx über­nom­me­ne Auf­fas­sung, daß das Neue im Alten ent­stün­de, daß also die anzu­stre­ben­de sozia­lis­ti­sche Per­spek­ti­ve in nuce bereits im Kapi­ta­lis­mus ange­legt sei.

Die ein­zel­nen Schrit­te (real­po­li­ti­scher Natur) sind auf der Ebe­ne der bestehen­den Ver­hält­nis­se mög­lich, doch die Per­spek­ti­ve, das Fern­ziel also, gilt einem neu­en, einem revo­lu­tio­nä­ren Zustand, der dann die bis­he­ri­gen Ver­hält­nis­se über­wun­den haben wird. Die revo­lu­tio­nä­re Real­po­li­tik à la Lu- xem­burg will also zunächst zei­gen, daß die Zustän­de ver­än­der­bar sind. Danach kann die­se Wider­le­gung der Alter­na­tiv­lo­sig­keit im Klei­nen auf das Gro­ße (das Fern­ziel) über­tra­gen werden.
Luxem­burg wand­te sich an ihr Lager, woll­te aber Ver­än­de­run­gen für das gesam­te Volk. Zwei Auf­ga­ben wies sie dabei den Volks­ver­tre­tern in Form sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Par­la­men­ta­ri­er zu: Ers­tens soll­ten die Man­dats­trä­ger die bür­ger­li­che Ver­fas­sung als Errun­gen­schaft vor deren Geg­nern schüt­zen, etwa im Bereich von Frei­hei­ten und Garan­tien für den Einzelnen.

Zwei­tens soll­ten die Abge­ord­ne­ten par­la­men­ta­ri­sche Arbeit leis­ten und für spür­ba­re Ver­bes­se­run­gen im All­tag der Men­schen strei­ten, ohne dabei aber zu ver­ges­sen, daß die letzt­lich aus­schlag­ge­ben­den und rich­tungs­wei­sen­den Per­spek­ti­ven woan­ders durch­ge­setzt wer­den. Luxem­burg sieht das Par­la­ment eher als Wer­be­platt­form für eige­ne Ideen und Ent­wür­fe: Man hat ein Podi­um, um dem Volk zu zei­gen, wel­che alter­na­ti­ven Vor­stel­lun­gen man formuliert.

Hier sei es erfor­der­lich, von all­zu gro­ßen Ver­spre­chun­gen ans Wahl­volk Abstand zu neh­men; die offen­kun­di­ge Nicht­er­reich­bar­keit even­tu­el­ler Ver­spre­chun­gen wür­de die Men­schen resi­gnie­ren las­sen, was einer Abwen­dung von Poli­tik gleich­kä­me. Das Span­nungs­ver­hält­nis besteht hier­bei gera­de dar­in, daß man gleich­zei­tig sehr wohl dem Volk ver­an­schau­li­chen und bele­gen muß, daß sei­ne Pro­ble­me und Erwar­tun­gen bei einem selbst rich­tig auf­ge­ho­ben sind.
Rosa Luxem­burg skiz­ziert zudem nichts ande­res als die ers­te Vor­stu­fe der spä­te­ren Vor­stel­lung einer viel­fäl­ti­gen »Mosaik«-Linken (oder
‑Rech­ten, vgl. Sezes­si­on 77). Denn ihr Ver­weis auf die Man­nig­fal­tig­keit gesell­schaft­li­cher Kämp­fe ist die Beto­nung des­sen, daß das Par­la­men­ta­ri­sche für eine auf Ver­än­de­rung drän­gen­de Bewe­gung nur ein Bestand­teil der poli­ti­schen Arbeit sein kann. Ein wei­te­rer ist das media­le Rin­gen, wie­der­um ein ande­rer das immense außer­par­la­men­ta­ri­sche Feld – ins­be­son­de­re auf der Straße.

So spe­zi­fisch Luxem­burg argu­men­tier­te, und so sehr sie auch das Sozia­lis­ti­sche ihrer Zeit im Blick hat­te, ist – nicht zuletzt im Hin­blick auf die Not­wen­dig­keit plu­ra­ler Kämp­fe – zu kon­sta­tie­ren, daß rele­van­te Aspek­te ihrer revo­lu­tio­när-real­po­li­ti­schen Über­le­gun­gen für die poli­ti­sche Rech­te der Gegen­wart höchst bedeut­sam sind. Erst recht, seit­dem mit der AfD eine Par­tei in den Bun­des­tag ein­zog, die mehr als nur das Poten­ti­al dazu hat, die zen­tra­le Wahl­for­ma­ti­on der Mosa­ik- Rech­ten in Deutsch­land abzugeben.
In bezug auf Luxem­burgs Skiz­ze »Revo­lu­tio­nä­rer Real­po­li­tik« und der Nutz­bar­ma­chung eben­je­ner Kon­zep­ti­on durch die poli­ti­sche Rech­te gilt es nun, meh­re­re unter­schied­li­che Aspek­te zu betrach­ten, in einen Zusam­men­hang zu stel­len und mög­li­che nahe­lie­gen­de Schluß­fol­ge­run­gen zu ziehen.

1.) Die Luxem­burg­sche Dia­lek­tik aus Nah- und Fern­ziel besteht auch für die hete­ro­ge­ne Rech­te unserer 

Das Nah­ziel ist strö­mungs­über­grei­fend: das Ende der Mer­kel-Poli­tik, die belang­los anders wäre, wäre es eine Schäuble‑, Schulz- oder gar Lind­ner- Poli­tik; das Ende des füh­ren­den links­li­be­ra­len Blocks in Medi­en und Gesell­schaft und das Rück­füh­ren die­ser – gemes­sen am Gesamt­volk – ideo­lo­gi­schen Split­ter­grup­pe auf ein gesun­des Maß; das Ende einer Poli­tik, die weder sozi­al noch gerecht, weder frei­heit­lich noch nach­hal­tig, weder gut für Deutsch­land noch für Euro­pa ist.

Das Fern­ziel, und dar­über lie­ße sich (in Zukunft) frei­lich noch treff­lich strei­ten, ist, im bes­ten Fal­le strö­mungs­über­grei­fend, eine Gesell­schafts­ord­nung, in der sozia­le Gerech­tig­keit und Staats­be­wußt­sein, Recht und Gesetz, Ver­ant­wort­lich­keit und Soli­da­ri­tät (wie­der) her­ge­stellt sind und die poli­ti­sche Kas­te, die seit Jahr­zehn­ten mise­ra­ble Ergeb­nis­se pro­du­ziert, aus ihrer Pflicht gegen­über Staat und Nati­on, der sie von links bis bür­ger­lich rechts nicht gerecht wer­den kann, ent­las­sen wird.

2.) Die Luxem­burg­sche Auf­ga­ben­dopp­lung für Man­dats­trä­ger – Schutz der ver­fas­sungs­ge­mä­ßen Rech­te für das Volk einer­seits, rea­lis­ti­sche Ana­ly­se der Lage­ver­hält­nis­se im Par­la­ment bezüg­lich des­sen Gren­zen und Mög­lich­kei­ten ande­rer­seits – ist nach wie vor gültig.

Der Aspekt der Ver­fas­sung ist (fast) selbst­er­klä­rend. Aus­ge­rech­net AfD und meta­po­li­ti­sche Rech­te, denen bestän­dig und meist ohne tief­schür­fen­de Argu­men­ta­ti­on vor­ge­wor­fen wird, »ver­fas­sungs­feind­lich« zu agie­ren, sind, welt­an­schau­lich betrach­tet und kon­kret in bezug auf die bun­des­deut­sche Lage gedacht, die poten­ti­ell bes­ten Ver­fas­sungs­schüt­zer. Es ist eine müh­sa­me und bis­wei­len ärger­li­che, doch zwin­gend not­wen­di­ge Sisy­phus­ar­beit, mit Fak­ten zu unter­mau­ern, daß Recht und Gesetz, zumal Grund­ge­setz, nicht durch die poli­ti­sche Rech­te, son­dern durch ihre Gegen­spie­ler in Regie­rung, Medi­en und »Zivil­ge­sell­schaft« miß­ach­tet wer­den. Die­se Arbeit gilt es wei­ter zu führen.

Heik­ler ist der zwei­te Aspekt der Luxem­burg­schen Auf­ga­ben­skiz­ze, der sich zudem wei­ter aus­dif­fe­ren­zie­ren läßt. Zunächst ist es, und das sagt sich leich­ter als getan, emi­nent wich­tig, daß die gewähl­ten und mit- hin eupho­ri­schen Man­dats­trä­ger der AfD in bezug auf die Wirk­macht des Par­la­ments rea­lis­tisch blei­ben. Sou­ve­rän im Zeit­al­ter des Neo­li­be­ra­lis­mus ist, wer über Geld und Netz­wer­ke ver­fügt. Das Par­la­ment ist durch öko­no­mi­sche Ver­hält­nis­se und die Omni­po­tenz des finan­zia­li­sier­ten Kapi­ta­lis­mus der Gegen­wart in sei­ner Wirk­mäch­tig­keit ein­ge­schränkt. Das gilt es zu ana­ly­sie­ren und, mehr noch, als Grund­re­gel zu verinnerlichen.

3.) Die Man­nig­fal­tig­keit gesell­schaft­li­cher Kämp­fe, die von Luxem­burg (und spä­ter ins­be­son­de­re von Gramsci) ange­schnit­ten wur­de, betrifft die Rech­te, inso­fern sie gesell­schaft­lich (noch) mar­gi­na­li­siert ist, heu­te mehr als ande­re poli­ti­sche Lager.

Bedeut­sam für die AfD-Par­la­men­ta­ri­er ist, sich des­sen bewußt zu wer­den (oder zu blei­ben), daß eine Bun­des­tags­frak­ti­on und, frü­her oder spä­ter, 16 Land­tags­frak­tio­nen allei­ne kein Land erneu­ern kön­nen. Die­ser Gestal­tungs­an­spruch kann nur for­mu­liert und beher­zigt wer­den, wenn die Mosa­ik-Struk­tur des kämp­fe­risch-kon­ser­va­ti­ven Lagers gewahrt und wei­ter­ent­wi­ckelt wird, wenn man an ver­schie­de­nen Stel­len für grund­le­gen­de Ver­än­de­run­gen streitet.

Meta- und Par­tei­po­li­tik, Publi­zis­tik und Par­la­men­ta­ris­mus, Demons­tra­tio­nen und Par­tei­ver­samm­lun­gen sind kei­ne dicho­to­mi­schen Gegen­sät­ze, son­dern unter­schied­li­che Gestal­tungs­räu­me oppo­si­tio­nel­ler Kärr­ner­ar­beit mit dafür unter­schied­lich not­wen­di­gen Cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten, Stär­ken, Lei­den­schaf­ten, Inter­es­sen etc. Not- wen­dig ist in jedem Fal­le über­wie­gen­de inhalt­li­che Kon­gru­enz bei Nah- und Fernzielen.

4.) Rosa Luxem­burg war bei allem Refle­xi­ons­ver­mö­gen und intel­lek­tu­el­ler Neu­gier­de stets unver­söhn­lich mit den herr­schen­den Ver­hält­nis­sen, die sie dazu brach­ten, ihr Leben in den Dienst einer ihnen ent­ge­gen­ge­setz­ten Sache zu stellen.

Auch für die AfD und ihr Umfeld ist das Prin­zip der Unver­söhn­lich­keit mit jenen Akteu­ren, die für den Ist-Zustand Deutsch­lands – öko­no­misch, poli­tisch, geis­tig – wesent­lich Ver­ant­wor­tung tra­gen, von anspor­nen­der Bedeu­tung. Sie müs­sen sich ändern und ihren Kurs voll­stän­dig neu aus- rich­ten – nicht die poli­ti­schen Her­aus­for­de­rer von rechts. Ange­sichts der exis­ten­ti­el­len Kri­se, in der sich Deutsch­land und Euro­pa auf­grund der Miß­wirt­schaft des poli­ti­schen, gesell­schaft­li­chen und media­len Estab­lish­ments befin­det, muß sich hier­bei bei eben­die­sem für nichts ent­schul­digt werden.

Wenn eine Kraft der Oppo­si­ti­on sich anschmiegt und ihre For­de­run­gen abschwächt, ern­tet sie kei­nen Dank des Par­tei­en­kar­tells. Stets droht eine fort­wäh­ren­de und sich selbst aus­ta­rie­ren­de »Hege­mo­nie durch Neu­tra­li­sie­rung«. Anto­nio Gramsci beschrieb mit ihr eine Situa­ti­on, in der sich der Main­stream oppo­si­tio­nel­le For­de­run­gen ein­ver­leibt, um sub­ver­si­ves Poten­ti­al zu neu­tra­li­sie­ren. Genau das droht, wenn die CSU ankün­digt, die rech­te Flan­ke zu schlie­ßen und ers­te AfD-Abge­ord­ne­te vor­ei­lig von Wunsch­ko­ali­tio­nen mit einer Uni­on-minus-Mer­kel träu­men. Hier ist welt­an­schau­li­che Wach­sam­keit gefragt.

5. Luxem­burg hat, wie jeder Kopf der (radi­ka­len) Lin­ken, die eige­ne Welt­an­schau­ung ins­be­son­de­re publi­zis­tisch in der Aus­ein­an­der­set­zung mit ideo­lo­gi­schen Kon­kur­ren­ten des eige­nen Lagers  Das läßt sich auch rechts nicht vermeiden.

Wich­tig ist in die­sem Kon­text: Eine Absa­ge an jour­na­lis­ti­sche Souf­fleu­re, die immer wie­der an ihrem – ledig­lich bürgerlich-»realpolitisch« umman­tel­ten – Ver­such schei­tern, aus der AfD eine CDU/CSU der 1980er Jah­re zu machen, und doch beleh­rungs­re­sis­tent immer wie­der aufs Neue begin­nen, ihre Spiel­chen zu spie­len, die die Exis­tenz der AfD sowie, auf­grund deren quan­ti­ta­tiv wie qua­li­ta­tiv stei­gen­der Optio­nen auch jen­seits der Par­la­men­te, des gesam­ten wahr­haft oppo­si­tio­nel­len Lagers gefährden.

Wich­tig ist wei­ter­hin, den Angriff auf Cha­rak­te­re wie Petry und Pret­zell samt (nun von ihnen abge­wen­de­ten oder noch oppor­tu­nis­tisch war­ten­den) Ein­flüs­te­rern nicht mit einem Angriff auf den »gemä­ßig­ten« Flü­gel miß­zu­ver­ste­hen. Die AfD muß ver­schie­de­ne Lager ver­ei­nen, deren welt­an­schau­li­che Posi­tio­nie­run­gen mit­un­ter stark von­ein­an­der abwei­chen kön­nen. Hal­tung und Anstand gegen­über der eige­nen Par­tei und den eige­nen Sym­pa­thi­san­ten und Wäh­lern sind – mehr noch als welt­an­schau­li­che Dif­fe­ren­zen – zunächst das Ent­schei­den­de, nicht die mit­un­ter von außen geschür­te oder in ihrer Bedeu­tung über­zeich­ne­te Tren­nung   in Real­po­li­ti­ker ver­sus Fundamentaloppositionelle.

Eine Tren­nung, die im Kon­text der zu erar­bei­ten­den »Revo­lu­tio­nä­ren Real­po­li­tik« ohne­hin – im Sin­ne der suk­zes­si­ven, rea­lis­ti­schen Ver­än­de­rung der Ver­hält­nis­se mit Blick auf die lang­fris­ti­ge gro­ße Ver­än­de­rung des Bestehen­den – auf­ge­ho­ben wer­den soll.

6.) Den Anspruch, als Fern­ziel ein »ande­res Deutsch­land« zu bau­en, soll­te man nicht auf­grund von Rück­sicht aufs groß­bür­ger­li­che Zen­trum preis­ge­ben, das nicht sel­ten eine »extre­me Mit­te« des Neo­li­be­ra­lis­mus abbil­det und ohne­hin seit Dez­en­ni­en völ­lig fak­ten­re­sis­tent Sozi­al- und Christ­de­mo­kra­ten ihr Trei­ben ermöglicht.

Das Stre­ben nach einem ande­ren Deutsch­land trifft den Nerv all der Unzu­frie­de­nen und »Pre­kä­ren«, die das Rück­grat des AfD-Erfolgs stel­len. Denn die AfD ist eine Par­tei, die neben den bereits Über­zeug­ten Mil­lio­nen Nicht­wäh­ler und ent­täusch­te Anhän­ger ande­rer Par­tei­en für sich mobi­li­sie­ren kann.

Nach Daten von Infra­test Dimap und der For­schungs­grup­pe Wah­len im Nach­gang zur Bun­des­tags­wahl 2017 sind 80 Pro­zent der AfD-Wäh­ler mit der Funk­ti­ons­wei­se der Demo­kra­tie in unse­ren Tagen unzu­frie­den, 68 Pro­zent emp­fin­den die herr­schen­den Ver­hält­nis­se  als unge­recht (Wäh­ler ande­rer Par­tei­en: 39), und 39 Pro­zent emp­fin­den Nach­tei­le durch Flücht­lin­ge. Das zeigt unter ande­rem: Die Kri­se, wie sie durch AfD-Sym­pa­thi­san­ten inter­pre­tiert wird, ist kei­ne aus­schließ­li­che Zuwan­de­rungs­kri­se, son­dern eine grund­sätz­li­che Kri­se des Main­streams und der von ihm nur unzu­rei­chend ver­wal­te­ten Zustände.

Beson­ders von die­sen betrof­fen sind die »popu­lä­ren Klas­sen«. Genau dies waren nun  die stärks­ten Milieus für die AfD. Jeweils 21 Pro­zent der Arbei­ter und Arbeits­su­chen­den stimm­ten für die Alter­na­ti­ve, was zwei Ber­tels­mann- Autoren fest­stel­len ließ, daß die Links­par­tei »den Kampf um ihr frü­he­res Kern­mi­lieu der Pre­kä­ren bereits weit­ge­hend ver­lo­ren hat« – ein Milieu, das grö­ßer ist als nur Arbeiter/Arbeitslose und auch die abstiegs­be­droh­te Mit­tel­schicht umfaßt.

In die­sem Gesamt­la­ger erziel­te die AfD 28 Pro­zent. Die soge­nann­te Bür­ger­li­che Mit­te (nicht: Ober­schicht), ein wei­te­res Milieu nach der Sinus-Ein­stu­fung, die Ber­tels­mann-Autoren ver­wen­den, wähl­te zu 20 Pro­zent AfD. Dar­aus folgt: Pre­kä­re und Bür­ger der (unte­ren) Mit­tel­schich­ten sind das dop­pel­te Stand­bein der AfD. Das bedeu­tet auch: Die Sehn­sucht eini­ger weni­ger AfD-Neo­li­be­ra­ler, die nur Ein­zel­aspek­te ver­än­dern wol­len, ohne eine lang­fris­tig »revo­lu­tio­nä­re«, d. h. wahr­haft umge­stal­ten­de Kon­zep­ti­on zu ver­fol­gen, nach der Akzep­tanz und Zunei­gung durch die mate­ri­el­le Ober­schicht ist als Traum­ge­bil­de von der Wirk­lich­keit negiert worden.

7.) Ange­sichts die­ser Rela­tio­nen wird deut­lich, daß die AfD zunächst eine Par­tei des Pro­tests ist, die Unzu­frie­de­ne und von den Ver­hält­nis­sen nach­hal­tig Irri­tier­te bis Abge­sto­ße­ne anzusprechen 

Die­se Grup­pen bestehen ins­be­son­de­re aus Arbei­tern, Ange­stell­ten und Klein­un­ter­neh­mern sowie Selb­stän­di­gen unter­schied­lichs­ter Rich­tung,  die nicht zuletzt auf­grund fal­scher  Umver­tei­lungs­an­sät­ze  und  feh­len- der Steu­er­ge­rech­tig­keit regel­recht aus­ge­preßt wer­den. Daß das nicht gut­ge­hen kann, liegt auch dar­an, daß die­se Grup­pen das tra­gen­de Gerüst Deutsch­lands bedeu­ten. Es ist jene Bevöl­ke­rungs­zu­sam­men­stel­lung, die am meis­ten unter den Kri­sen der Wirt­schaft, des Staa­tes, der Über­frem­dung und des Sozia­len lei­den muß und zugleich die bes­ten AfD-Wer­te produziert.

Für sie gilt es vor allem, real­po­li­tisch tätig zu sein, um mit­tel- und lang­fris­tig revo­lu­tio­nä­re Ergeb­nis­se erzie­len zu kön­nen. Die AfD als Demo­kra­tie­mo­tor kann dann unter Umstän­den noch mehr Nicht­wäh­ler, die, wie Stu­di­en zei­gen, im Regel­fall eben den popu­lä­ren Klas­sen und nicht den mate­ri­el­len Ober­schich­ten ent­stam­men, mobilisieren.

8.) Die wich­tigs­te Leh­re, die es abschlie­ßend zu zie­hen gilt, ist die, daß die immer wie­der geschür­te Kon­flikt­li­nie zwi­schen »Rea­los« und »Fun­dis« eine bedroh­li­che Ablen­kung von wich­ti­ge­ren Din­gen bedeutet.

Denn die Grä­ben zwi­schen »Real­po­li­ti­kern« und »Fun­da­men­tal­op­po­si­tio­nel­len« wer­den fak­tisch immer wie­der von Freund und Feind dra­ma­ti­siert. Die Losung der revo­lu­tio­nä­ren Real­po­li­tik über­win­det die­se fal­sche Ent­we­der-Oder-Simu­la­ti­on und zeigt auf, daß real­po­li­tisch-refor­mis­ti­sche Schrit­te unver­zicht­bar sind, um lang­fris­ti­ge Stra­te­gien der Trans­for­ma­ti­on ent­wi­ckeln zu kön­nen. Es gilt, wie Mario Cand­ei­as for­mu­lier­te, »in Kennt­nis der gesell­schaft­li­chen Kräf­te­ver­hält­nis­se [zu] agie­ren, aber in der Per­spek­ti­ve ihrer Ver­schie­bung«, wäh­rend man kon­stant an den rea­len Bedin­gun­gen und Wider­sprü­chen anknüpft.

Es muß also »die Mög­lich­keit geben, im Hier und Jetzt so zu han­deln, daß sich die Wahr­schein­lich­keit einer zukünf­ti­gen Umset­zung der Alter­na­ti­ve erhöht«, wie der Sozio­lo­ge Erik Olin Wright ein­for­der­te. Revo­lu­tio­nä­re Real­po­li­tik ist in die­sem Sin­ne kein Oxy­mo­ron, son­dern das Gebot der Stunde.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)