Nie zuvor waren so viele Menschen der sozialen Stigmatisierung und behördlichen Verfolgung unterworfen, die ehemals der winzigen Minderheit der politischen Extremisten vorbehalten waren; beispielhaft dafür steht das im Verlauf dieses Jahres völlig eskalierte staatliche Vorgehen gegen »Haßrede« im Internet. Diese regressive Kehre des (Links-)Liberalismus liegt offen zutage; und doch sieht der Großteil der dagegen aufstehenden Lager – Libertäre, »Patrioten«, die in Martin Sellners Buch Identitär! als Musterbeispiel für den Mauerfall rund um das »Lager der Realitätstoleranz« angeführten »Skeptiker« – statt der Diskussion neuer politischer Wege eine bloße Restauration des klassisch-liberalen Ideals als einzige Lösung an. Warum ist das so?
Das Hufeisenmodell suggeriert einen in seiner liberalen »Mitte« angelegten gesellschaftlichen Minimalkonsens, der nicht verhandelbar sei – in der Bundesrepublik manifestiert im Begriff der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung«. Um dieses säkulare Totem herum wird alle legitime (»verfassungskonforme«) Politik zur bloßen auf Kompromiß abzielenden Verhandlungssache. Dem gegenüber stehen extreme (»verfassungsfeindliche«) Positionen, womit in Grundfragen abweichenden Weltanschauungen das Recht auf ein Interesse am Machterwerb abgesprochen wird.
Die »Mitte« führt somit eine faktische Depolarisierung des politischen Spektrums herbei: Meinungsverschiedenheiten und Wettbewerb der Ideen sind lediglich in Detailfragen zulässig, während alles Radikale (im Wortsinne »an die Wurzeln Gehende«) marginalisiert werden kann und soll. Dem somit politisch heruntergekühlten, dafür mit um so umfangreicheren administrativen Aufgaben betrauten Staat fällt dadurch eine vorrangig verwaltende und pazifizierende Aufgabe zu, die in letzter Konsequenz zur Herausbildung eines »Regimes der Manager« führen muß, wie es der vom Trotzkisten zum Neokonservativen »gewendete« US-Philosoph James Burnham bereits 1941 in seinem gleichnamigen Buch (eng. Titel: The Managerial Revolution) heraufziehen sah.
Diese institutionelle Deformation schafft weniger einen Obrigkeits- als einen Therapiestaat, in dem die politische Abweichung vom liberalen Mittelweg wie psychologische Devianz »behandelt« wird, wofür Karl Popper den Begriff Social engineering prägte, oder durch gesellschaftlichen Aus- bzw. behördlichen Wegschluß des Delinquenten aus dem öffentlichen Raum herausgehalten wird.
Diese totalitäre Imago des Liberalismus ergibt sich aus seiner immanenten Selbstbeschleunigung, weshalb Verweise auf »früher« hinfällig sind. In seiner Blütezeit Mitte des 19. Jahrhunderts konnte sich der klassische Liberalismus für den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf das »Fremdkapital« der Religion und für die Loyalität der Bürger auf den Kristallisationspunkt des Nationalstaats stützen; beide Fundamente sind in der Zwischenzeit wo nicht ganz, so doch größtenteils zerbröckelt. Hinzu kommt die fortschreitende Zersetzung der Staatsvölker durch den Zustrom fremder Völker; wo die zivilgesellschaftlichen Glacéhandschuhe abgelegt werden, führt das Beharren auf Individualismus und herrschaftsfreiem Diskurs nicht zum Erhalt der Freiheit, sondern dazu, daß man sie an jedwede »illiberale« Gruppe auf Beutezug verliert. Das macht den zeitgenössischen Liberalismus zu einem humanistischen Immunschwächevirus, der die Selbstverteidigungskraft jeder infizierten Gesellschaft zerstört.
Diese Maschinerie der schleichenden »Vermittung« und Entpolitisierung wollen nun einzelne dissidente Zirkel nicht umstoßen, sondern lediglich »reparieren«. Da sie die Fundamentalopposition aufgrund der in der Natur des Hufeisenschemas angelegten Exklusionsmechanismen scheuen, bleibt ihr »Widerstand« jedoch unpolitisch und mithin bedeutungslos. Die Angehörigen der bereits erwähnten Sceptic community zelebrieren vor allem bei YouTube eine popkulturell-virtuelle Spielart des systematischen Hinterfragens als »offenkundig« geltender Tatsachen im philosophischen Skeptizismus.