Ausbruch aus dem offenen Ring

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

Nie zuvor waren so vie­le Men­schen der sozia­len Stig­ma­ti­sie­rung und behörd­li­chen Ver­fol­gung unter­wor­fen, die ehe­mals der win­zi­gen Min­der­heit der poli­ti­schen Extre­mis­ten vor­be­hal­ten waren; bei­spiel­haft dafür steht das im Ver­lauf die­ses Jah­res völ­lig eska­lier­te staat­li­che Vor­ge­hen gegen »Haß­re­de« im Inter­net. Die­se regres­si­ve Keh­re des (Links-)Liberalismus liegt offen zuta­ge; und doch sieht der Groß­teil der dage­gen auf­ste­hen­den Lager – Liber­tä­re, »Patrio­ten«, die in Mar­tin Sell­ners Buch Iden­ti­tär! als Mus­ter­bei­spiel für den Mau­er­fall rund um das »Lager der Rea­li­täts­to­le­ranz« ange­führ­ten »Skep­ti­ker« – statt der Dis­kus­si­on neu­er poli­ti­scher Wege eine blo­ße Restau­ra­ti­on des klas­sisch-libe­ra­len Ide­als als ein­zi­ge Lösung an. War­um ist das so?

Das Huf­ei­sen­mo­dell sug­ge­riert einen in sei­ner libe­ra­len »Mit­te« ange­leg­ten gesell­schaft­li­chen Mini­mal­kon­sens, der nicht ver­han­del­bar sei – in der Bun­des­re­pu­blik mani­fes­tiert im Begriff der »frei­heit­lich-demo­kra­ti­schen Grund­ord­nung«. Um die­ses säku­la­re Totem her­um wird alle legi­ti­me (»ver­fas­sungs­kon­for­me«) Poli­tik zur blo­ßen auf Kom­pro­miß abzie­len­den Ver­hand­lungs­sa­che. Dem gegen­über ste­hen extre­me (»ver­fas­sungs­feind­li­che«) Posi­tio­nen, womit in Grund­fra­gen abwei­chen­den Welt­an­schau­un­gen das Recht auf ein Inter­es­se am Macht­er­werb abge­spro­chen wird.

Die »Mit­te« führt somit eine fak­ti­sche Depo­la­ri­sie­rung des poli­ti­schen Spek­trums her­bei: Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten und Wett­be­werb der Ideen sind ledig­lich in Detail­fra­gen zuläs­sig, wäh­rend alles Radi­ka­le (im Wort­sin­ne »an die Wur­zeln Gehen­de«) mar­gi­na­li­siert wer­den kann und soll. Dem somit poli­tisch her­un­ter­ge­kühl­ten, dafür mit um so umfang­rei­che­ren admi­nis­tra­ti­ven Auf­ga­ben betrau­ten Staat fällt dadurch eine vor­ran­gig ver­wal­ten­de und pazi­fi­zie­ren­de Auf­ga­be zu, die in letz­ter Kon­se­quenz zur Her­aus­bil­dung eines »Regimes der Mana­ger« füh­ren muß, wie es der vom Trotz­kis­ten zum Neo­kon­ser­va­ti­ven »gewen­de­te« US-Phi­lo­soph James Burn­ham bereits 1941 in sei­nem gleich­na­mi­gen Buch (eng. Titel: The Mana­ge­ri­al Revo­lu­ti­on) her­auf­zie­hen sah.

Die­se insti­tu­tio­nel­le Defor­ma­ti­on schafft weni­ger einen Obrig­keits- als einen The­ra­pie­staat, in dem die poli­ti­sche Abwei­chung vom libe­ra­len Mit­tel­weg wie psy­cho­lo­gi­sche Devi­anz »behan­delt« wird, wofür Karl Pop­per den Begriff Social engi­nee­ring präg­te, oder durch gesell­schaft­li­chen Aus- bzw. behörd­li­chen Weg­schluß des Delin­quen­ten aus dem öffent­li­chen Raum her­aus­ge­hal­ten wird.

Die­se tota­li­tä­re Ima­go des Libe­ra­lis­mus ergibt sich aus sei­ner imma­nen­ten Selbst­be­schleu­ni­gung, wes­halb Ver­wei­se auf »frü­her« hin­fäl­lig sind. In sei­ner Blü­te­zeit Mit­te des 19. Jahr­hun­derts konn­te sich der klas­si­sche Libe­ra­lis­mus für den gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt auf das »Fremd­ka­pi­tal« der Reli­gi­on und für die Loya­li­tät der Bür­ger auf den Kris­tal­li­sa­ti­ons­punkt des Natio­nal­staats stüt­zen; bei­de Fun­da­men­te sind in der Zwi­schen­zeit wo nicht ganz, so doch größ­ten­teils zer­brö­ckelt. Hin­zu kommt die fort­schrei­ten­de Zer­set­zung der Staats­völ­ker durch den Zustrom frem­der Völ­ker; wo die zivil­ge­sell­schaft­li­chen Gla­cé­hand­schu­he abge­legt wer­den, führt das Behar­ren auf Indi­vi­dua­lis­mus und herr­schafts­frei­em Dis­kurs nicht zum Erhalt der Frei­heit, son­dern dazu, daß man sie an jed­we­de »illi­be­ra­le« Grup­pe auf Beu­te­zug ver­liert. Das macht den zeit­ge­nös­si­schen Libe­ra­lis­mus zu einem huma­nis­ti­schen Immun­schwä­che­vi­rus, der die Selbst­ver­tei­di­gungs­kraft jeder infi­zier­ten Gesell­schaft zerstört.

Die­se Maschi­ne­rie der schlei­chen­den »Ver­mit­tung« und Ent­po­li­ti­sie­rung wol­len nun ein­zel­ne dis­si­den­te Zir­kel nicht umsto­ßen, son­dern ledig­lich »repa­rie­ren«. Da sie die Fun­da­men­tal­op­po­si­ti­on auf­grund der in der Natur des Huf­ei­sen­sche­mas ange­leg­ten Exklu­si­ons­me­cha­nis­men scheu­en, bleibt ihr »Wider­stand« jedoch unpo­li­tisch und mit­hin bedeu­tungs­los. Die Ange­hö­ri­gen der bereits erwähn­ten Scep­tic com­mu­ni­ty zele­brie­ren vor allem bei You­Tube eine pop­kul­tu­rell-vir­tu­el­le Spiel­art des sys­te­ma­ti­schen Hin­ter­fra­gens als »offen­kun­dig« gel­ten­der Tat­sa­chen im phi­lo­so­phi­schen Skeptizismus.

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

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