Debord, Derrida und die rechte Postmoderne

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

Sind wir Rech­ten die schärfs­ten Kri­ti­ker der Post­mo­der­ne oder ihre recht­mä­ßi­gen Erben? Für die ers­te The­se spricht, daß der Rela­ti­vis­mus der Wer­te, der rea­li­täts­ver­nich­ten­de (De)Konstruktivismus und das aus­ge­ru­fe­ne Ende der »gro­ßen Erzäh­lun­gen« (Jean-Fran­çois Lyo­tard) der abend­län­di­schen Meta­phy­sik das glat­te Gegen­teil eines rech­ten Welt­ver­ständ­nis­ses sind. Doch just die­je­ni­gen, die die post­mo­der­ne Wahr­heits­ver­nich­tung am meis­ten kri­ti­sie­ren, näm­lich wir Rech­ten, pro­fi­tie­ren am meis­ten von ihr. Denn ohne die rie­si­ge skep­ti­sche Bre­sche, die uns die Post­mo­der­ne geschla­gen hat, wäre der Zwei­fel an der lin­ken Uto­pie, an der Wahr­heits­fä­hig­keit der Medi­en und am Uni­ver­sa­lis­mus der Men­schen­rech­te undenkbar.
Durch die im ver­gan­ge­nen Jahr erzeug­te lin­ke Dis­kus­si­on um das »post­fak­ti­sche Zeit­al­ter« anläß­lich des Phä­no­mens Trump, um »alter­na­ti­ve Fak­ten« und »fake news«, war eines zu bemer­ken: Plötz­lich war sie wie­der da, die Post­mo­der­ne der 80er und 90er Jah­re, plötz­lich war auch sie wie­der da, die Rela­ti­vis­mus­kri­tik im Namen der auf­ge­klär­ten Moder­ne. Im Mer­kur bemerk­te Dani­lo Scholz genervt, daß das Post­struk­tu­ra­lis­mus­bas­hing im Feuil­le­ton fröh­li­che Urständ feie­re: »Schon am 29. Sep­tem­ber (2016) hat­te Ass­heu­er die Quint­essenz des Post­struk­tu­ra­lis­mus in eine grif­fi­ge For­mel gepackt: Die Ver­tre­ter jener Denk­schu­le waren über­zeugt, das »Zeit­al­ter der Auf­klä­rung lie­ge im Ster­ben und ihre Idea­le (Ver­nunft, Demo­kra­tie, Fort­schritt) sei­en Schnee von gestern«.

Auf zeit.de erklär­te Felix Ste­phan am 10. Novem­ber »den Ein­zug Donald Trumps in das Wei­ße Haus« umge­hend zum »fina­len Tri­umph der Post­mo­der­ne über die Moder­ne«. Aus Marx, Psy­cho­ana­ly­se, Semio­tik und struk­tu­ra­lis­ti­scher Völ­ker­kun­de war im Frank­reich der 60er Jah­re eine theo­re­tisch explo­si­ve Mischung ent­stan­den: Kom­plett­kri­tik der abend­län­di­schen Meta­phy­sik als Gewaltanordnung.
Im Jah­re 1967 waren zwei fol­gen­rei­che lin­ke Theo­rie­bü­cher in Paris erschie­nen – Jac­ques Der­ri­das Gram­ma­to­lo­gie und Guy Debords Die Gesell­schaft des Spek­ta­kels. Der­ri­da wur­de 1983 ins Deut­sche über­setzt und erschien bei Suhr­kamp. Debords Schlüs­sel­text der Künst­ler­grup­pe der »Situa­tio­nis­ten« wur­de 1971 raub­über­setzt, 1978 auto­ri­sier­te er eine deut­sche Über­set­zung, die 1996 in der »Edi­ti­on Tiamat« als Buch erschien.
Debord zehrt von Adorno/Horkheimers Dia­lek­tik der Auf­klä­rung (1949). Der »Ver­blen­dungs­zu­sam­men­hang« der »Kul­tur­in­dus­trie« ist das Sze­na­rio, von dem er ausgeht.

Das »fal­sche Bewußt­sein« aus Georg Lukács’ Geschich­te und Klas­sen­be­wußt­sein (1923) hat die Gesell­schaft flä­chen­de­ckend befal­len. Debord denkt genau­so wie die Frank­fur­ter Schu­le den Mar­xis­mus wei­ter: über die kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se hin­aus in die Unent­rinn­bar­keit der Pro­duk­ti­on des all­um­fas­sen­den Scheins hin­ein. Das Spek­ta­kel stellt sich als eine »unge­heu­re, unbe­streit­ba­re und uner­reich­ba­re Posi­ti­vi­tät dar. Es sagt nichts mehr als:

›Was erscheint, das ist gut; und was gut ist, das erscheint.‹ Die durch das Spek­ta­kel prin­zi­pi­ell gefor­der­te Hal­tung ist die­se pas­si­ve Hin­nah­me, die es schon durch sei­ne Art, unwi­der­leg­bar zu erschei­nen, durch sein Mono­pol des Scheins, fak­tisch erwirkt hat.«
In Debords Spek­ta­kel­be­griff ist die marx­sche Ent­frem­dung mehr als die ent­frem­de­te Arbeit des Lohn­skla­ven, und auch mehr als das, was Marx als »Waren­fe­ti­schis­mus« beschrieb. Sie ist viel­mehr eine kom­plet­te Ersatz­rea­li­tät. Nicht bloß im Kino, in der Wer­bung und in der Pro­pa­gan­da gibt es »Spek­ta­kel«, son­dern schlecht­hin jeder Lebens­voll­zug ist geschluckt wor­den. Das »revo­lu­tio­nä­re Sub­jekt«, bis dahin immer noch der Pro­le­ta­ri­er, ist eben­falls ver­daut, weil der immer wei­ter kon­su­mie­ren muß und kon­su­mie­ren will. Auf ihn ist kein Ver­laß mehr, und der gut leni­nis­ti­sche Aus­weg, dann eben die (intel­lek­tu­el­len) Pro­le­ta­rier­füh­rer zu schu­len, ist eben­falls im ubi­qui­tä­ren »fal­schen Bewußt­sein« geendet.
Hier ist der Punkt erreicht, an dem Debords Text post­mo­dern wird. Die lin­ke Uto­pie der Revo­lu­ti­on mün­det in Ver­zweif­lung, in das Ende der fort­schrei­ten­den Geschich­te. Zag­haf­te Hoff­nun­gen auf »die Räte«, in denen »die spek­ta­ku­lä­re Ver­nei­nung des Lebens ihrer­seits ver­neint wird«, leuch­ten nur mehr schwach am Hori­zont, denn Debord schwant etwas: Wenn, dann hilft gegen die Krank­heit der Moder­ne nur noch Kunst, und zwar in der Form einer spe­zi­fisch post­mo­der­nen Ästhetik.

»Die Ent­wen­dung (détour­ne­ment) ist die flüs­si­ge Spra­che der Anti­ideo­lo­gie.« Der Künst­ler »ent­wen­det« (das fran­zö­si­sche Wort ent­hält auch Dre­hung, Wen­dung und Dieb­stahl) der Kul­tur nur noch »Frag­men­te«, selbst das klas­si­sche lite­ra­ri­sche Zitat ver­fällt dem Fre­vel, auto­ri­täts­gläu­big die moder­ne »Epo­che als glo­ba­len Bezugs­rah­men« zu bestätigen.
Guy Debords »Gesell­schaft des Spek­ta­kels« war der gro­ße theo­re­ti­sche Bezugs­text der »Situa­tio­nis­ti­schen Inter­na­tio­na­le«, der 1952 gegrün­de­ten lin­ken Künst­ler­grup­pe unter sei­ner Lei­tung. Auch der Künst­ler Asger Jorn, Guil­laume Faye und die Mit­glie­der der Münch­ner Gruppe
»SPUR« gehör­ten ihr an, Frank Böckel­mann gehör­te ihr an wie Rai­ner Kun­zel­mann, der wie­der­um spä­ter wegen »Natio­nal­si­tua­tio­nis­mus« aus­ge­schlos­sen wur­de. Tho­mas Wag­ner hat völ­lig zu Recht hier die ursprüng­li­chen Ver­flech­tun­gen der spä­te­ren Neu­en Rech­ten und der 68er- Bewe­gung ver­or­tet. Es ging um nichts ande­res als die Ein­sicht, daß der Kapi­ta­lis­mus ein Tota­li­ta­ris­mus gewor­den ist, und die von ihm erzeug­te Öffent­lich­keit nur zum Schein »Mei­nungs­frei­heit« garantiert.
Der Situa­tio­nist und Debord-Schü­ler Raoul Van­ei­gem beschrieb in sei­nem Hand­buch der Lebens­kunst für die jun­gen Gene­ra­tio­nen die Wider­wär­tig­keit der ver­fal­le­nen Gesell­schaft und die Anwen­dung der Debord­schen Theo­rie auf den All­tag. Die­ses expres­sio­nis­tisch-revo­lu­tio­nä­re Mani­fest (eben­falls 1967 erschie­nen) ist nur mehr auf anar­chis­ti­schen Inter­net­sei­ten ein­zu­se­hen. Van­ei­gem schreibt: »Es ist heu­te offensichtlich,

  • daß die Ent­wen­dung spon­tan über­all dort um sich greift, wo sich der Morast des Zer­falls aus­brei­tet. Die Epo­che kon­su­mier­ba­rer Wer­te ver­stärkt auf ein­zig­ar­ti­ge Wei­se die Mög­lich­keit, neue bedeu­tungs­vol­le Gesamt­hei­ten zu schaffen;
  •  daß der kul­tu­rel­le Bereich kein pri­vi­le­gier­ter Bereich mehr ist. Die Kunst der Ent­wen­dung erstreckt sich auf alle For­men der Ableh­nung, die das All­tags­le­ben bezeugt;
  • daß die Dik­ta­tur des Stück­werks die Ent­wen­dung zur ein­zi­gen Waf­fe im Dienst der Tota­li­tät macht. Die Ent­wen­dung ist die zusam­men­hän­gends­te, popu­lärs­te und am bes­ten der auf­stän­di­schen Pra­xis ange­paß­te revo­lu­tio­nä­re Ges­te. Durch eine Art natür­li­che, mit­rei­ßen­de Bewe­gung – die Lei­den­schaft des Spiels – führt sie zur extre­men Radikalisierung.«

Es war nichts ande­res als debord­sche »Ent­wen­dung«, wenn 1967 Ber­li­ner Stu­den­ten das Insti­tut für Ger­ma­nis­tik aus Pro­test gegen die Not­stands­ge­set­ze besetz­ten, Goe­the aus dem Biblio­theks­re­gal schmis­sen und an die Wand sprüh­ten: »Wo einst Goe­the stand, da liegt jetzt Rai­ner Kun­zel­mann!«. Es ist nur um einen Dreh in der »Entwendungs«spirale wei­ter, vier­zig Jah­re spä­ter einen bösen Gün­ter-Grass-Comic unter’s erlauch­te Publi­kum einer Grass-Lesung zu ver­tei­len, das sich affir­ma­tiv und kunst­sin­nig in die­sem Comic fest­liest und glaubt, der gehö­re zur Lesung, bis sich die Leu­te der »Kon­ser­va­tiv-sub­ver­si­ven Akti­on« um Götz Kubit­schek im Raum zu erken­nen geben.

Es ist »Ent­wen­dung«, die Wie­ner Sta­tue der Kai­se­rin Maria The­re­sia mit einer Bur­ka zu ver­hül­len oder in der Dresd­ner Fuß­gän­ger­zo­ne Plas­tik­scha­fe zu schäch­ten, wie die Iden­ti­tä­re Bewe­gung es vori­ges Jahr tat. Es ist »Ent­wen­dung«, einen Hash­tag #Okay­To­Be­White zu lan­cie­ren, um damit das lin­ke Gen­re des Soli­da­ri­täts­ou­tings zu kapern. Es kommt immer dar­auf an, die Dis­kurs­he­ge­mo­nie zu spren­gen. Das Wider­setz­li­che als sol­ches kennt nicht »kon­ser­va­tiv« und »pro­gres­siv«, nicht »links« und »rechts«. Wegen und aus­schließ­lich wegen die­ses ästhe­ti­schen Dralls der »revo­lu­tio­nä­ren Ges­te« konn­te Debord von Pari­ser kom­mu­nis­ti­schen Arbei­tern 1968 und von Neu­rech­ten vier­zig Jah­re spä­ter gele­sen und ergrif­fen werden.

Jac­ques Der­ri­das Gram­ma­to­lo­gie setzt an einer voll­kom­men ande­ren Stel­le an, zieht aber nicht min­der umfas­sen­de sys­tem­kri­ti­sche Schlüs­se. Eigent­lich geht er von einem lin­gu­is­ti­schen Pro­blem aus: Was ist die Bedeu­tung von Zei­chen? Zei­chen ver­wei­sen auf die Welt, hat die abend­län­di­sche Meta­phy­sik seit Pla­ton behaup­tet. Das ist ihr »Logo­zen­tris­mus«, ihre Ver­nunft-Wort­gläu­big­keit, der Urgrund der ratio­na­lis­ti­schen Meta­phy­sik, die sprach­ver­wen­den­de Sub­jek­te und abge­bil­de­te Welt unter­schei­det. Der­ri­da hält die­ses Denk­bild für ver­häng­nis­voll, denn auf die­se Wei­se ent­stand Gewalt.
Zei­chen sind Welt, nicht ihr Abbild, »end­lo­se Signi­fi­kan­ten­ket­ten«. Auf die­se Wei­se hat Spra­che, zumal wenn sie schrift­för­mig ver­faßt ist, ein Eigen­le­ben, eine Eigen­lo­gik, derer man als lesen­des und schrei­ben­des Sub­jekt nicht Herr wer­den kann. Tex­te kon­stru­ie­ren sich sel­ber, und – das ist Der­ri­das Punkt – »dekon­stru­ie­ren« sich auch sel­ber. Lite­ra­tur­theo­rie und Phi­lo­so­phie haben also die Auf­ga­be, das Zer­stö­rungs- und Selbst­zer­stö­rungs­po­ten­ti­al in Tex­ten aus­zu­gra­ben. In jedem Text steckt – hier ist Der­ri­da bei allen metho­di­schen Unter­schie­den nahe an Debord – sowohl Ver­wer­tungs­lo­gik als auch deren inhä­ren­te Selbstzerstörung.
»Dekon­struk­ti­on« als Metho­de will beob­ach­ten, wie meta­phy­sisch auf­ge­la­de­ne Tex­te sich selbst von innen her­aus zer­brö­seln. Was Der­ri­da indes nicht vor­aus­ge­se­hen hat, ist, daß nicht sei­ne Tex­te, son­dern sei­ne »Metho­de«, die Dekon­struk­ti­on, eben jenes destruk­ti­ve Ele­ment ent­hält. Es ent­fal­te­te sich im Moment der Rezep­ti­on in der phi­lo­so­phi­schen Gemein­de. Sie wur­de in die unbe­grenz­te Frei­heit der Belie­big­keit ent­las­sen. Es begann der »Tanz um das Gol­de­ne Kalb Signi­fi­kant« (Peter Slo­ter­di­jk), man ver­stieg sich zu der post­mo­der­nis­ti­schen Vor­stel­lung, es gäbe über­haupt kei­ne Bedeu­tung, kei­nen Sinn, kei­nen Autor, kei­ne Struk­tu­ren mehr, nur noch »Signi­fi­kan­ten­ket­ten«.

Das Ergeb­nis ist die der­zeit herr­schen­de Kul­tur­wis­sen­schaft, für die es nur noch dis­kur­si­ve Kon­struk­tio­nen und kei­ne Rea­li­tät mehr geben darf.
Der elfen­bei­ner­ne dekon­struk­ti­vis­ti­sche Furor hat, nach­dem er sich aus­ge­tobt hat in den 90ern – wol­len wir es noch ein­mal kurz dia­lek­tisch nen­nen? – meta­phy­si­sche Sub­stan­tia­lis­ten aus­ge­spuckt. Theo­re­ti­ker, die Meta­phy­sik­kri­tik und Kapi­ta­lis­mus­kri­tik gut fin­den, die durch die Dekon­struk­ti­on durch­ge­gan­gen sind, die sie anzu­wen­den und zu »ent­wen­den« gelernt haben, und die sehen: Es gibt etwas zu ver­lie­ren, und zwar etwas Substantielles.

Richard Mil­let ist so einer, mit allen Was­sern des fran­zö­si­schen Post­struk­tu­ra­lis­mus gewa­schen. Heu­te ist er als fran­zö­si­scher Schrift­stel­ler auf »ver­lo­re­nem Pos­ten«, wie er 2011 schreibt: »Die­ser Gesell­schaft zu scha­den, ist mitt­ler­wei­le mein ein­zi­ges Anlie­gen. Ihr mora­li­scher Ver­fall ist so weit fort­ge­schrit­ten, daß das His­to­ri­sche und Wirt­schaft­li­che zu den neu­en Gewän­dern des Dämo­nen gewor­den sind. Sie beruht auf der abs­trak­ten All­ge­mein­gül­tig­keit einer Lüge – näm­lich, daß der Mensch gut sei und voll­kom­men wer­den kön­ne, so man ihn nur von der Eth­nie, der Nati­on, dem Katho­li­zis­mus, der wei­ßen Ras­se, den euro­päi­schen Tra­di­tio­nen, dem Wes­ten sel­ber erlöst.« Nur in der lite­ra­ri­schen Spra­che, sei­nem Exil im fast aus­ge­tausch­ten Frank­reich, kön­ne er noch aufbegehren.

Oder mit Richard Ror­ty gesagt: »Weil sie die Aus­sicht auf eine Welt von ›letz­ten Men­schen‹ mit Abscheu erfüllt, betrach­ten Radi­ka­le die ›bür­ger­li­che Gesell­schaft‹ und die ›bür­ger­li­che Ideo­lo­gie‹ mit jenen Augen, mit denen Iro­ni­ker die Meta­phy­sik betrach­ten: Sie sehen sie als heim­tü­cki­sche Ver­su­chung, die zu über­win­den ist. So konn­te die Illu­si­on ent­ste­hen, die Kri­tik der Meta­phy­sik sei auch eine Kri­tik der bür­ger­li­chen Ideo­lo­gie – und umgekehrt.

Die Radi­ka­len wur­den durch die­se zufäl­li­ge Gleich­set­zung zur Annah­me ver­lei­tet, es gebe eine enge Ver­bin­dung zwi­schen iro­nis­ti­scher Theo­rie und radi­ka­ler Poli­tik«. (Richard Ror­ty: Haber­mas, Der­ri­da und die Auf­ga­ben der Philosophie)
Der­ri­da ist für Ror­ty ein »Iro­ni­ker«, genau wie Nietz­sche, Sart­re oder Fou­cault, deren Tex­te für das »Stre­ben nach sozia­ler Gerech­tig­keit« unnütz bis schäd­lich sei­en, wenn man glau­be, mit ihrer Hil­fe ethi­sche Pro­ble­me lösen zu kön­nen. Das Leben als Lite­ra­tur, die Welt als Text zu lesen, wie Der­ri­da es tut, die­ne der pri­va­ten Selbst­ver­voll­komm­nung, nicht hin­ge­gen der libe­ra­len Demokratisierung.

Der »Ver­zicht auf den eman­zi­pa­to­ri­schen Gehalt« (Jür­gen Haber­mas) in Der­ri­das Kri­tik der Moder­ne macht ihn für poli­tisch radi­ka­le Leser ver­füh­re­risch, wie Ror­ty (der sich selbst als »post­mo­der­nen bour­geoi­sen Libe­ra­len« sieht) moniert. Auch Debords Gesell­schaft des Spek­ta­kels man­gelt es an eman­zi­pa­to­ri­schem Gehalt, die ästhe­ti­schen Inter­ven­tio­nen durch seman­ti­sche »Ent­wen­dun­gen« sind genau das, was Ror­ty für eine fata­le Illu­si­on der Radi­ka­len hält: Kri­tik der Meta­phy­sik ist Kri­tik der kapi­ta­lis­ti­schen Ideo­lo­gie. Ist es für die Neue Rech­te noch sinn­voll, Debord und Der­ri­da zu rezi­pie­ren, und zwar in einem Sin­ne, der mehr ist als Ver­ständ­nis der Fein­dideo­lo­gie (z. B. kann man ohne Der­ri­da kaum Judith But­lers Theo­rie der hate speech verstehen)?
Ror­ty hält mit Haber­mas dar­an fest, daß das lin­ke Pro­jekt der »Lösung unse­rer öffent­li­chen Pro­ble­me« mit Der­ri­da ein Rie­sen­pro­blem hät­te, wenn er wirk­lich nach­wei­sen könn­te, »daß ›Spra­che‹ etwas ist, das aus eige­ner Kraft wirk­sam wer­den, außer Kon­trol­le gera­ten, sich in den Rücken fal­len, sich den Kopf abtren­nen kann usw.«. Die Sache mit dem »Nach­wei­sen« gehört zu Haber­mas’ eige­ner Illu­si­on, daß Phi­lo­so­phie nur Gel­tung bean­spru­chen darf, wenn sie inter­sub­jek­tiv kom­mu­ni­ka­bel ist. Doch mit Der­ri­das Gram­ma­to­lo­gie ist der unab­weis­ba­re (wenn eben auch nicht beweis­ba­re) Ver­dacht in der Welt, daß wir schein­bar »auto­no­men Indi­vi­du­en« bloß die Objek­te meta­phy­si­scher Spra­che sind, genau­so wie mit Debord der Ver­dacht in der Welt ist, daß wir bloß die gefan­ge­nen Objek­te des »Spek­ta­kels« sind.
Rech­te machen sich seit jeher wenig Illu­sio­nen über die Auto­no­mie des Men­schen. In der »durch das Spek­ta­kel prin­zi­pi­ell gefor­der­ten Hal­tung« der »pas­si­ven Hin­nah­me« ist die Lin­ke inzwi­schen sel­ber gelähmt. Also sind wir dran. Rech­te sehen heu­te – wie die Lin­ken 1967 – kei­nen Aus­weg als den, durch Ästhe­tik, durch Iro­nie »neue bedeu­tungs­vol­le Gesamt­hei­ten« aus den Trüm­mern der Kul­tur zu heben. Ror­ty war der Ansicht, ästhe­ti­sche und poli­ti­sche Phi­lo­so­phie gehör­ten getrennt, sonst dro­he Radi­ka­li­sie­rung. Und wenn schon, sie gehö­ren eng zusam­men! Das lehrt uns die con­di­ti­on post­mo­der­ne (Lyo­tard), deren Teil­ele­ment auch wir sind, die wir uns gewis­se Grund­fes­ten der Wirk­lich­keit (Ras­se, Volk, Geschich­te usw.) nicht aus­re­den lassen.

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

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