Peter Sloterdijk: Neue Zeilen und Tage. Notizen 2011 – 2013

Peter Sloterdijk: Neue Zeilen und Tage. Notizen 2011 – 2013, Berlin: Suhrkamp 2018. 540 S., 28 €

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Jour­na­lis­ten lesen nicht, sie suchen Stel­len. In sei­nem Gesprächs­band Nie zwei­mal in den­sel­ben Fluß fin­det sich eine Äuße­rung Björn ¬Höckes, aus der sei­ne poli­ti­schen Geg­ner einen win­zi­gen Skan­dal kon­stru­ie­ren woll­ten. Es geht um die Fra­ge, ob ein Volk über­haupt in der Lage sei, »sich selbst aus dem Sumpf wie­der her­aus­zu­zie­hen«. Höcke ant­wor­tet: »Machia­vel­li bestritt das ja vehe­ment. Er ging von einem ›Uomo vir­tuo­so‹ aus, der nur als allei­ni­ger Inha­ber der Staats­macht ein zer­rüt­te­tes Gemein­we­sen wie­der in Ord­nung brin­gen könne.«

An ande­rer Stel­le liest sich das so: »Unse­re Situa­ti­on ähnelt jener Alt-Ägyp­tens in einem Inter­vall zwi­schen zwei Dynas­tien: Ein älte­res pha­rao­ni­sches Regime ist zer­fal­len, ein neu­es hat sich noch nicht eta­bliert, der Nil macht unter­des­sen, was er will (…) Der neue Pha­rao, der die Kunst besä­ße, Strö­me zu len­ken, muß erst gebo­ren wer­den.« Das stammt nicht von Höcke, son­dern von Peter Slo­ter­di­jk. Natür­lich, es ist eine Bin­sen­weis­heit, daß es nicht egal ist, wer etwas äußert. Aber daß man den his­to­ri­schen Ver­gleich des einen mit Füh­rerut­opien gleich­setzt und den des ande­ren als inter­es­san­ten und für die­sen Kopf typisch plas­tisch-expe­ri­men­tel­len Gedan­ke wahr­nimmt, sagt viel dar­über aus, wen man ver­ste­hen will und wen nicht.

Slo­ter­di­jk wird alle Ver­ste­hens­be­mü­hung zuteil, die er sich wün­schen kann. Ohne Zwei­fel ist er der prä­sen­tes­te deut­sche Den­ker der Gegen­wart, und sei­ne vor kur­zem unter dem Titel Neue Zei­len und Tage erschie­ne­nen Noti­zen aus den Jah­ren 2011 bis 2013 bestä­ti­gen die­sen Ruf. Sei­ne Auf­zeich­nun­gen umspan­nen die rechts­al­ter­na­ti­ven Tau­wet­ter-Jah­re nach Sar­ra­zin und vor Pegi­da, sie strei­fen die Grün­dung der Alter­na­ti­ve und enden knapp vor dem hys­te­ri­schen lin­ken Dis­kurs über die plötz­li­che Prä­ge­kraft von rechts. Das waren die letz­ten Jah­re einer poli­tisch blei­er­nen Zeit, und seit­her sind Höcke und vie­le ande­re zu Auf­bau- und Umset­zungs­sprin­tern gewor­den. Wir fra­gen uns manch­mal, ob wir etwas wit­ter­ten, und des­halb lesen wir Slo­ter­di­jk als einen jener zeit­po­li­ti­schen Seis­mo­gra­phen, von denen Ernst Jün­ger (sich selbst mei­nend) sag­te, man prüg­le nach dem Erd­be­ben auf sie ein.

Auf Slo­ter­di­jk wird nicht gera­de ein­ge­prü­gelt, aber einen Schub­ser und eine Zusam­men­rot­tung min­der bekann­ter Sekun­där­li­te­ra­ten muß er dann und wann ertra­gen: »Unab­hän­gig ist böse, und böse ist rechts. Ich bin unab­hän­gig, das gebe ich zu«, sagt Slo­ter­di­jk, und er mar­kiert damit den Anfang einer Asso­zia­ti­ons­ket­te, die immer dann zusam­men­ge­lö­tet wird, wenn eine Dis­kus­si­on nicht mehr geführt, eine Mei­nung nicht mehr gedul­det, eine Alter­na­ti­ve nicht mehr anstän­dig bekämpft wer­den soll. Dies ist immer dann der Fall, wenn mora­li­sche Kate­go­rien in Aus­ein­an­der­set­zun­gen getra­gen wer­den und der Geg­ner dadurch sei­ne Daseins­be­rech­ti­gung verliert.

Über Säu­be­rungs­ak­tio­nen mora­li­scher Instan­zen fin­det sich in Slo­ter­di­jks Noti­zen reich­lich Mate­ri­al – bei­spiels­wei­se dort, wo Slo­ter­di­jk auf die erfolg­rei­che und geziel­te Tötung Osa­ma bin Ladens durch eine US-ame­ri­ka­ni­sche Spe­zi­al­ein­heit blickt und über die Auf­la­dung die­ses Vor­gangs durch die Pro­pa­gan­da und die media­le Ver­brei­tung der Tötungs­fei­er­lich­kei­ten in den Stra­ßen ame­ri­ka­ni­scher Orte nach­denkt. »Dem Guten, das den Lauf der Geschich­te ändern möch­te, muß schlecht­hin alles erlaubt sein. Unver­zeih­li­ches kann ver­zeih­lich wer­den«, notiert er und meint damit das Töten jen­seits jeder Kriegs­er­klä­rung und die Rache als Staats­akt. Und wei­ter: »Wer ver­ste­hen möch­te, war­um im 20. Jahr­hun­dert der poli­ti­sche Mora­lis­mus mehr Opfer for­der­te als der poli­ti­sche Bio­lo­gis­mus, soll­te auf das gute Böse ach­ten, das sei­nen Agen­ten die Pflicht zur Aus­lö­schung des Fein­des einflüstert.«
Spä­tes­tens seit den Aus­füh­rung Alexis de Toc­que­vil­les über die Demo­kra­tie in Ame­ri­ka wis­sen wir, daß die Zivil­ge­sell­schaft für ihre Fein­de kei­ne Guil­lo­ti­ne mehr bereit­hält, son­dern jede denk­ba­re sub­ti­le und bra­chia­le Form der sozia­len Hinrichtung.

Die mora­lis­ti­schen Trei­ber sind dabei nicht nur Jäger, son­dern auch Getrie­be­ne. Das ist der ent­schei­den­de Per­spek­ti­ven­wech­sel, den Slo­ter­di­jk ins Spiel bringt und den die von ihnen Bedräng­ten, also wir (!) voll­zie­hen soll­ten: Die­se zivil­ge­sell­schaft­li­chen Jäger sind die eigent­lich Getrie­be­nen, weil ihnen stän­dig neue Fein­de erwach­sen, obwohl sie doch mora­lisch längst und tat­säch­lich auch bei­na­he schon ganz und gar gewon­nen haben. Das »Gute« muß jagen, muß aus­mer­zen, muß alle Neu­tra­len zur Posi­tio­nie­rung zwin­gen, muß hell­wach sein. Noch ein­mal Slo­ter­di­jk: »Der Vor­macht ist es nicht erlaubt, Pro­vo­ka­tio­nen von sei­ten schwä­che­rer Aggres­so­ren zu igno­rie­ren. Um der Behaup­tung ihres Ran­ges wil­len ist sie dazu ver­ur­teilt, ihre rück­schlag­be­rei­te Hal­tung in Per­ma­nenz zu demons­trie­ren. Für sie besteht eine stän­di­ge Pflicht zur Inter­ven­ti­on – anders aus­ge­drückt: Sie lebt unter dem kate­go­ri­schen Müdigkeitsverbot.«

Ist es erlaubt, Slo­ter­di­jk so zu lesen? Zuge­ge­ben: Die Noti­zen zur Ent­ste­hung ein­zel­ner Kapi­tel sei­nes Buches Die schreck­li­chen Kin­der der Neu­zeit, sei­ne Selbst­be­schrei­bun­gen als altern­der Mann, der Nach­voll­zug sei­nes Rei­se- und Vor­trags­all­tags sind wie Füll­ma­te­ri­al um die­je­ni­gen Stel­len und Denk­vor­la­gen her­um­ge­stopft, nach denen sucht, wer einem nim­mer­mü­den und viel­köp­fi­gen Geg­ner trot­zen muß. Ver­nut­zend, aus­schlach­tend zu lesen ist nicht schön, aber es ist bes­ser als ein »Her­um­hän­gen in der ent­leer­ten Zeit am Ende der Geschich­te« (Slo­ter­di­jk).

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Neue Zei­len und Tage von Peter Slo­ter­di­jk kann man hier bestel­len.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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